Einer der letzten Antiquare

In den vergangenen fünfundzwanzig Jahren haben elf Antiquariate in Linz zugesperrt. Peter Steinberg ist einer der letzten, der seinen Beruf mit Leidenschaft und mittlerweile ohne finanzielle Abhängigkeit ausübt. Silvana Steinbacher hat das Antiquariat Steinberg in Urfahr besucht und fragt nach den Perspektiven dieses Berufs, falls es sie denn noch gibt.

Komm doch ins Antiquariat in der Peuerbachstraße 9 in Urfahr. Foto Christian Steinbacher

„Der Raum hatte sieben Wände, aber nur vier davon enthielten Öffnungen, breite Durchgänge zwischen schlanken, halb in die Mauer eingelassenen Säulen, überwölbt von Rundbögen. Vor den Wänden erhoben sich mächtige Bücherschränke voller säuberlich aufgereihter Bände.“

Die Ordnung in Umberto Ecos Bestseller Der Name der Rose täuscht, doch das stört mich nicht, denn schon befinde ich mich gedanklich in diesen Räumen mit – so stelle ich es mir weiter vor – knarrenden, alten Holzböden.
Und damit zur Realität: Die Städte wechseln, die Atmosphäre aber bleibt die gleiche. Ob in Köln, Lyon oder Venedig, es sind nicht nur die touristischen Highlights und die berühmten Kirchen, die ich sofort besuche. Mich zieht es immer auch zu den Antiquariaten. Hier kann ich stöbern, womöglich sogar über Bücherberge steigen und meine literarischen Fundstücke erwerben. Verändert hat sich aber die Dauer meiner Suche, denn noch vor einigen Jahren bin ich bei den Städteerkundungen zwangsläufig auf ein Antiquariat gestoßen, jetzt muss ich mich davor erst informieren, um nicht unnötig Zeit zu verlieren. Wo auch immer ich bin, die Antiquariate verschwinden mehr und mehr.
Fest steht: Mit alten Büchern lässt sich immer schwerer ein Geschäft machen, und dafür sind diverse Gründe verantwortlich. Die meisten Antiquariate bleiben angesichts der düsteren finanziellen Perspektiven ohne Nachfolge, passionierte Bibliophile sind, warum auch immer, rar geworden, billige Nachdrucke nehmen überhand und zudem werden die Mieten vor allem in der Innenstadt zu teuer.
Linz ist da keine Ausnahme. In den vergangenen fünfundzwanzig Jahren haben elf Antiquariate zugesperrt, Neugebauer am Taubenmarkt erst Anfang 2018, die dazugehörige Buchhandlung blieb erhalten. Als die letzten beiden Dinosaurier haben nun die Alt-Buch-Zentrale Linz und das Antiquariat Steinberg, beide in Linz/ Urfahr überlebt.
Bereits bei einem Blick durch die großen Rundfenster des Ladens von Peter Steinberg bekomme ich einen Eindruck der thematischen Vielfalt seines elftausend Exem­plare umfassenden Bestands, rund siebentausend sind im Internet aufgelistet. Und dabei sind wir in unserem Gespräch bereits bei jenem Stichwort angelangt, das für die Arbeit und das Überleben des Antiquars unvermeidlich wurde. Es zählt jedoch noch immer nicht zu seiner Leidenschaft.
Als Antiquar hingegen arbeitet der über siebzigjährige Peter Steinberg seit beinah fünfundzwanzig Jahren leidenschaftlich gerne und manchmal sogar sechzig Stunden wöchentlich. Sein Verdienst stehe in keinem Verhältnis zu seinem Aufwand, doch er sei seit seiner Pensionierung unabhängig, erzählt er mir, während wir an einem kleinen Tisch mit Blick auf die Friedenskirche sitzen. Die Leidenschaft, um diesen Begriff noch einmal zu bemühen, stand auch am Beginn seiner Berufszäsur vom Einkaufsleiter eines Elektrogroßhandels zum Antiquar. Zunächst unschlüssig, ob er eine Kunstgalerie oder ein Antiquariat eröffnen sollte, versuchte er anfangs beides zu verknüpfen. So zeigte er in seinen Räumen, damals noch in Harbach, auch Ausstellungen, diese Kombination ließ sich allerdings in der Praxis nicht nach seinen Vorstellungen realisieren.
In diesem Vierteljahrhundert seines Lebens als Antiquar hat er das Auf und Ab und besonders das Ab seines Gewerbes miterlebt. Steinberg erzählt mir von dem „riesigen Wandel“, der innerhalb seiner Branche stattgefunden habe. Zwei Jahre nach der Gründung seines Antiquariats im Jahr 1996 ist er mit zweitausend Büchern online eingestiegen und konnte bereits am ersten Tag zweiundsiebzig Bestellungen registrieren. Die anfängliche Blüte des Verkaufs durch das Netz ist allerdings längst einem Existenzkampf gewichen. Im Internet knallen sich die Anbieterinnen und Anbieter quasi die Bücher um die Ohren, denn dort verkauft nur jener, der die günstigste Ware präsentiert. Durch diese Entwicklung stürzen die Preise ab. Der virtuelle Marktplatz für überwiegend deutschsprachige Bücher ist das sogenannte Zentrale Verzeichnis Antiquarischer Bücher, kurz ZVAB, bei dem nur professionelle Antiquariate anbieten dürfen. 1996 von drei Studenten gegründet, wurde es mittlerweile von Amazon geschluckt. Rückschlüsse aus dieser enthusiastischen Geschichte des ZVAB sind herzlich willkommen. Rund 350 Antiquarinnen und Antiquare gründeten aber als mittlerweile recht gut funktionierenden Versuch einen Gegenpol zu diesem Giganten. So entstand vor fünfzehn Jahren die Genossenschaft der Internet-Antiquare e. G., GIAQ, auf der sie unter antiquariat.de ihre Bücher anbieten. Als eine Intention der GIAQ stand ursprünglich auch der Wunsch eine Vertriebsmöglichkeit zu schaffen, in der das Wissen der Antiquare einfließen kann. Gegründet wurde das Portal als Genossenschaft, kann also nur dann übernommen werden, wenn alle Mitglieder zustimmen.
Womit könnte ein Antiquariat von heute noch verdienen, frage ich Peter Steinberg. Mit Heinz Prüllers Buch Grand Prix Story aus dem Jahr 1971 in tadellosem Zustand ließen sich beispielsweise sicher noch bis zu eintausend Euro erzielen (Anm.: Grand Prix Story ist der Titel von Prüllers seit 1971 geschriebenen Jahrbuchreihe über die jeweilige Formel-1-Saison). Sammelnde suchen oft lange, um die Bände einer Reihe zu vervollständigen und sind dafür auch bereit tief in die Tasche zu greifen. Für manche Erstausgaben eines Grillparzer-Werkes hingegen könne man nur noch wenige Euro lukrieren.
Ich erlebte an einem Freitagnachmittag bei Peter Steinberg auch die Besucher, in diesem Fall waren es nur Männer, die teils interessierte Anfragen zu Spezialgebieten stellten, sehr skurrile Wünsche äußerten, beinah freundschaftlich auf ein Glas Wein vorbeischauten oder dem Antiquar einfach die Geschichte ihrer fünfzigjährigen Ehe im Schnelldurchgang erzählten. Normalerweise aber kommen wenige Besucherinnen und Besucher in sein Antiquariat und die interessanten Begegnungen face to face haben sich so natürlich deutlich reduziert.
Für mich stellt sich in unserem Gespräch angesichts des Aussterbens vieler Antiquariate auch die Frage: Was wird vom Buch mit Qualität einst erhalten bleiben? Der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges stellte bereits vor beinah achtzig Jahren eine poetische Prophezeiung an: „Ich vermute, dass die Gattung Mensch im Aussterben begriffen ist und dass die Bibliothek fortdauern wird: erleuchtet, einsam, unendlich, vollkommen unbeweglich, gewappnet mit kostbaren Bänden, überflüssig, unverweslich, geheim.“
Kehren wir in unsere effiziente und unzureichende Realität zurück. Für die nächsten Generationen geht wohl vieles verloren, ist Peter Steinberg überzeugt, vor allem die Überprüfung der Fakten wird schwierig. Der vielzitierte Fake und Mutmaßungen entwickeln sich damit wohl zu sogenannten Tatsachen. Werden für die Generationen nach uns noch die Korrespondenzen von Kunstschaffenden, Forschenden, Politikerinnen und Politikern erhalten bleiben und sie somit an einem Teil des Denkens und Fühlens bestimmter Personen teilhaben können? Wohl kaum anzunehmen, dass E-Mails, SMS oder Social-Media-Timelines überdauern.
Peter Steinberg glaubt zwar an den Bestand des Buchs, doch nicht an den Bestand der Vielfalt, die wir heute noch vorfinden. Und bereits jetzt lässt sich das Buch doch beinah als Anarchist gegenüber den digitalen Medien bezeichnen. Die traditionell Lesenden, die wir alle seit Jahrzehnten kennen, beobachte ich im Alltag immer weniger. Hautnah erlebe ich es, wenn ich etwa reichlich „antiquiert“ mit dem Buch in der Hand im Zug sitze.
Kehren wir nach diesem kleinen Gedankenausflug wieder ganz zu den Antiquariaten zurück. Einige von Steinbergs Kolleginnen und Kollegen, und das sei auch nicht verschwiegen, blicken optimistischer in die Zukunft als er. „Das Antiquariatssterben gibt es nicht“, meint etwa die Frankfurter Vorsitzende des Verbands Deutscher Antiquare Sibylle Wieduwilt, „die Antiquariate sind nur umgezogen: ins Internet.“ Ihr Credo: Keine Massenware. Nach diesem Motto arbeitet auch das Antiquariat Hennwack in Berlin. Auf einer Fläche von über 1300 Quadratmetern finden die potentielle Käuferin und der potentielle Käufer rund 400.000 Bücher, zum größten Teil aus Spezialgebieten. Möglicherweise, und das bestätigt auch Peter Steinberg, kann diese Methode das Überleben einiger Antiquariate hinauszögern, denn Liebhaberinnen und Liebhaber eines bestimmten Buches stöberten auch gerne vor Ort. Sie schätzten die spezielle Atmosphäre in einem Antiquariat, den kompetenten Rat und die überbordenden Holzregale.

 

Antiquariat Steinberg
Peuerbachstraße 9, 4040 Linz
Tel.: 0732/750877
www.antiquariat-steinberg.at

Horrordates

Dating im digitalen Zeitalter: Sarah Held hat die Online-Plattform „Horrordatestorys“ besucht und schreibt über Geschichten aus dem Patriarchat 2.0

Screenshot eines Story-Highlights auf „Horrordatestorys“. Foto Horrordatestorys, Screenshot vom 16. Nov. 2019

Dating im Digitalzeitalter wird von verschiedenen Faktoren beeinflusst – keine Sor­ge, das wird kein Artikel mit moralisierendem Beigeschmack, der sich zum Themenfeld „Dating-Apps bzw. Online-Dating tragen zu zwischenmenschlicher Entfremdung bei und lassen Menschen zu Konsum­gü­tern werden“ äußert. Diesen Acker haben andere Leute schon gut bearbeitet und es gibt genügend Beiträge im soziologischen und kulturellen Diskurs. Es geht auch gar nicht primär um Tinder & Co, sondern um „Horrordatestorys“ (für alle Grammatik-Nerds: schreibt man im Deutschen auch im Plural mit Y). Dabei handelt es sich um einen metakontex­tuel­len Account auf Instagram, wo Geschichten von ge­scheiterten Dates aus dem deutschsprachigen Raum gesammelt werden. Im Rahmen dieses Artikels sollen ein paar persönliche Beobachtungen geteilt werden, die mit einer Prise feministischem Framing daher­kommen.

Für alle, die mit dem Inhalt von „Horrordatestorys“ nicht vertraut sind, führe ich ein paar prägnante Beispiele bzw. folgen­de inhaltliche Zusammenfassungen auf: Neben unzähligen Postings, die von vor­zeitiger Ejakulation erzählen, themati­sie­ren viele Einträge den Ekel vor Körper­flüs­sigkeiten. Oder viele der Beiträge re­präsentieren ein patriarchales Denken in Form von „Slut Shaming“, wie beispiels­weise: „Tinder. Er meint, er sucht keine Beziehung, eher was Lockeres. Ich sage, ich auch, will einfach bisschen rumdaten. Er: ‚Sorry aber das klingt nach Flitt­chen’“. Viele der Geschichten reichen von banal bis witzig-skurril. In der Kürze, die in diesem Text möglich ist, verweise ich aber mit zwei Fallbeispielen auf soziokulturelle Richtungen, dir mir als Followerin besonders negativ aufgefallen sind: einerseits vermeintliche deviante Abweichungen von sexuellen Standardvorstellungen und andererseits tatsächlich deviantes Verhalten im sozialen Miteinander von Cis-Männern.

Pseudo „Patrick Bateman“
Eingehend auf Letzteres möchte ich ein Fallbeispiel vom 19. 09. 19 aufzeigen (Rechtschreibung wie im Originaltext): „Ich habe einen psychpath gedated. tinder, bar, ab zu ihm – er war sehr charismatisch und sah gut aus. Als wir uns auf der couch näherten holte er plötzlich sein Handy raus und ging auf horrordatestorys ich dachte mir nichts dabei bis er anfing diverse posts vorzulesen in denen er selbst involviert gewesen wäre. Amüsiert las er mit leuchtenden augen die widerwärtigsten schoten vor. Als ich ihn fragte ob er noch ganz dicht sei, nannte er mich eine ahnungslose h*re und fing an zu erklären. Für ihn wären horrordates eine kunstform in der er sich selbst verwirklichen könnte. […] seine eigene story im netz zu lesen würde in der szene sowas wie den ritterschlag bedeuten“ (gekürzte Fassung, die eingeladene Person hat die Wohnung verlassen).
Dieser kurze Erlebnisbericht weist auf abartiges Sozialverhalten und Männerbünde hin, es erinnert stark an die selbst ernannten Pick-Up-Artists, die bis vor einigen Jahren im feministischen Diskurs­universum ziemlich verbreitet waren. Dabei handelt es sich um heterosexuelle Cis-Männer, die sich im Internet zusammenschließen, Challenges ausmachen, um Frauen „aufzureißen“ oder sich mit weir­dem Verhalten, für die beteiligten Frauen meist herabwürdigend, im Nachhinein online brüsten. Sie sind allerdings immer noch da, nur scheinbar ruhig ist es geworden um diese fragwürdige Gruppe der Cis-Männer. Der Diskurs hat sei­nen Fokus aktuell in eine noch dunklere Ecke verlagert, wo sich Incels (Involuntary Celibate), also männliche Jungfrauen bzw. unfreiwillig zölibatär lebende Männer, zusammenrotten. Eines ist beiden Aus­prägungen männlicher Hybris und Dominanzverhalten gemeinsam: Es sind zutiefst misogyne Männer mit archaischen Besitzansprüchen und hegemonialen Denk­strukturen, in deren Mindset sich die toxische Verbindung von Rassismus, Sexismus, Homophobie und Antisemitismus spiegelt. Es geht im genannten Beispiel demnach nicht nur um das Erobern von Frauen und deren Verfüh­rung, sondern um deren gezielte Demütigung. Diese Gruppe heterosexueller Männer handelt nach „Ritualen der Macht“, die, gemäß Klaus Theweleits „Männerphantasien“, Folgen der männlichen So­zialisation sind. Das Performen von heteronormativer Männlichkeit benötigt in dieser toxischen Manifestation, wie das Beispiel oben illustriert, die Abwertung an­derer Geschlech­ter. Diese Abwertungs­strategie ist essenziell für die Herstellung der eigenen (vermeintlichen) Überlegenheit. Souveränität wird durch stereotype Hypermaskulinität inszeniert.

Standard ja, kink nein
Neben ausgeprägter Misogynie, die das angeführte Fallbeispiel traurigerweise darstellt, ist mir aufgefallen, dass generell Abweichungen von dem, was als Vorstellung eines sexuellen Standards verstanden wird, häufig als Kategorie Horror beim Date erzählt wird. Auffällig ist, dass im Gros der Posts Heteronormativität (Heterosexualität als dominante Gesellschaftsnorm) und sogenannter Blümchensex (Cis-Hetero-Missionarsstellung etc.) omnipräsent sind. Gerade wenn es um Kinksex (z. B. Fetisch, BDSM) oder andere trans­­gressive Sexualitätsausprägungen geht, wer­den diese von der Normgesellschaft als deviant oder pervers gelabelten Handlungen im Account ebenso durch Irritation oder Ablehnung inszeniert. Das lässt sich aus folgendem Fallbeispiel ableiten (Schreibungen wie im Originaltext): „Ich W19 er M24, es unser 5 date. Waren bei ihm und haben gekocht. Als es dann zu GV kam war alles gut, auf einmal holte er einen 1 Meter Dildo raus. Er wollte das ich ihn von hinten nehmen mit dem Rosa Monstrum. Als ich verneinte, hat er sich das Ding selbst reingesteckt und total abgegangen. Danach nie wieder gesehen“.
Die geschilderten Situation impliziert eine Konsensabfrage. Dieses Beispiel habe ich ausgewählt, weil es klar eine diskursiv zementierte Grenze von heterosexueller Männlichkeit durch die Begierde nach analer Befriedigung überschritten zeigt und somit als Irritation dargestellt wird. Das ist aus mehreren Perspektiven interessant, denn der heterosexuelle Cis-Mann wird selten Bottom (passiv Analsex empfangend) inszeniert. Inner­halb der heterosexuellen Matrix und ge­mäß dem wirkmächtigen Heteromainstream-Pornodiktum wird dieser Männ­lich­keitsentwurf im Kontext von Anal­ver­kehr als stählerner Top (aktiver Part beim Analsex) inszeniert. Die Person, die im Bei­spiel M24 genannt wird, äußert ihrem Gegenüber nicht nur das Verlangen nach analer Befriedigung, sondern performt diese Lust dann im Alleingang. Das Aus­sprechen solcher Kinks ist für viele Menschen mit Angst vor Beschämung verbunden. Was die knappe Erzählung nicht detailliert beschreibt ist, in welcher Weise Konsens und Sexpraktik besprochen wurden. Neben diesem prägnanten Fallbei­spiel ist mir beim Stöbern auf „Horrordatestorys“ aufgefallen, dass im Storytel­ling vieler Posts keine andere Flüssigkeit als Sperma zulässig ist. Alle anderen Formen von Körperflüssigkeiten werden dämonisiert, tabuisiert und stigmatisiert. Der Account bildet aber nicht nur das Standardbegehren der Dominanzkultur ab, son­dern auch die Abweichung von der körperlich-funktionierenden Norm zeigt sich mit sozialer Grausamkeit: Ein Rollstuhl­fahrer wird, gemäß seinem Beitrag, beim Zusammentreffen nach seinem Grindr-Date heftig beleidigt. Das Date äußert, den Rollstuhl als Fetisch verstanden zu haben und geht wieder, weil er keinen Sex mit einer körperlich beeinträchtigen Person haben möchte. Den genauen Wortlaut möchte ich hier nicht reproduzieren.
„Horrordatestorys“ bietet neben der skiz­zierten Kritik auch durchaus Unterhal­tungs­­potential. Das ist ein bisschen wie RTL2 oder ATV schauen, das wirkt zwar immer etwas verstörend und geht auch nur in der richtigen Stimmung – und in kleinen Portionen. Zum Abschluss möch­te ich aber noch einen besonders unangenehmen Aspekt erwähnen. Neben dem stark verbreiteten Hetero-Sexismus, dem Ableismus (Beschämen von nicht normativen Körpern) oder dem Kinkshame (Be­schämen von als pervers/deviant verstan­denen Sexpraktiken) finden sich auch ei­nige Fälle, die sich offenbar an der Grenze oder über der Grenze zur sexualisierten Ge­walt befinden, denn die Account-Betrei­ben­den geben in einem sogenannten Story-Highlight auf die Frage, was die „kras­sesten Geschichte“ gewesen wären, an, dass sie diese aufgrund ihres straf­recht­lichen Inhalts gar nicht veröffentlichen.

Abschließend möchte ich anmerken, dass mir ebenfalls eine Beeinflussung durch die­se Dating-Apps auf das Dating-Verhalten aufgefallen ist. Bei meinen Beobachtungen zum Account war mir ein nicht so neuer Gedanke häufig präsent: Das Fehlen von sozialen Verbindlichkeiten und die scheinbare Anonymität befördern unsoziale Verhaltensweisen, die durch Online-Dating vermutlich perpetuiert werden. Ohne soziokulturelle Nähe und Über­schnei­dun­gen in den Peergroups schei­nen manche Menschen dazu zu ten­dieren sich unso­zi­a­ler zu verhalten.

Buchtipp

Marlen Haushofer
Der gute Bruder Ulrich. Märchen-Trilogie
Limbus Verlag, 2020

Das Professionelle Publikum

Welche Veranstaltungstipps Veronika Barnaš, Walter G., Gernot Kremser, Andreas Kurz, Lisa Neuhuber, Rainer Noebauer-Kammerer, Monika Pichler und S. Abena Twumasi für Sie parat haben, lesen Sie auf den folgenden Seiten! Die Redaktion bedankt sich für die Auswahl und wünscht einen abwechslungsreichen Frühling!

Veronika Barnaš
arbeitet als Künstlerin und Kuratorin in Wien und Linz in unterschiedlichen Medien und genreübergreifend (Film, Bildende Kunst, Theater). Lektorin an der Kunstuniversität Linz.

„Budenzauber“
Ausstellungseröffnung: GRAFFITI & BANANAS – Die Kunst der Straße

Foto (Ausschnitt): Wolfgang Pauly

Walter G.
ist DJ in dieser Stadt (manchmal auch drüber hinaus). Musik ist nicht sein Beruf, doch seine Berufung und begleitet ihn in allen Lebenslagen. Er betrachtet sie hauptsächlich und passioniert aus dem Kontext der speziellen MODernistischen Sixties Subkultur und verblüfft sein Publikum mit Telefon und höchster Tanzbarkeit des Dargebotenen.

O Wow! Tanzabend mit dem Soul Lobster DJ Team
Jools Holland with special guest KT Tunstall

Foto: Posthof

Gernot Kremser
leitet die Sparte Musik im Posthof Linz.

Konzert: Joan As Police Woman Trio – Cover Two Tour 2020
Ausstellung: Approximation by Bilderbuch

 

 

Andreas Kurz
arbeitet an der Schnittstelle von Bildender Kunst und Musik an der Konzeption und Umsetzung von Ausstellungen, Installationen und Soundperformances.

Ausstellungseröffung: PÖCHHACKER/NOWAK/KURZ
Eröffung BERND OPPL Crossing Europe 2020, LENTOS Featured

Lisa Neuhuber
lebt im Salzkammergut und ist unter anderem Kultur- und Sozialanthropologin, Kulturarbeiterin im Kulturverein Kino Ebensee und seit Projektbeginn Teil des Kernteams der Kulturhauptstadt Bad Ischl-SKGT 2024.

Neu-Eröffnung Kunstforum Salzkammergut + Galerie Tacheles
Attwenger

© Rainer Noebauer-K.

Rainer Noebauer-Kammerer
ist Künstler und Initiator verschiedener Projekte und Ausstellungen, u. a. der Projektreihe „Experimentierfeld“ und des „Skulpturenpark Westautobahn“. Wiederkehrendes Thema sind ortspezifische Arbeiten und der öffentliche Raum. www.rainer.noebauer.info

Ausstellungseröffnung „Augen­schein des Rechtswesens“
Ausstellungseröffnung im EFES 42

Monika Pichler
ist Künstlerin und lebt und arbeitet in Linz und Wien. Sie absolvierte von 1984–1992 die Hochschule für künstlerische und industrielle Gestaltung (Fritz Riedl, Marga Persson) in Linz. Seit 2000 ist sie Ao. Universitätsprofessorin. Seit 2009 Leitung der Siebdruckwerkstatt am Institut für Bildende Kunst und Kulturwissenschaften, Abteilung Malerei und Grafik.

Monika Pichler Vernissage: „Au Temps Qui Passe – die Zeit vergeht“
Ausstellungseröffnung: „I haven’t been to Paris in 1952“ Martin Bischof, Julia Gut­weniger, Sabine Jelinek, Monika Pichler

Foto © Mehdi

S. Abena Twumasi
ist Obfrau des Vereins „JAAPO – für Partizipation von Women of Color“.

THE SOUND OF IDENTITIES – Von Traditionen und Werten der Leitkultur
10. Freiwilligenmesse FEST.ENGAGIERT

 

 

Tipp von Die Referentin

 


Ulrichsberger Kaleidophon 2020

Editorial

Good Old Kulturentwicklungsplan der Stadt Linz – alias KEP neu. Dem im Herbst 2012 veröffentlichten KEP neu ist es unter anderem zu verdanken, dass es „Die Referentin“ gibt, bzw dass dieses unabhängige und aus dem freien Kunst- und Kulturschaffen kommende Medium seit 2015 seitens der Stadt Linz finanziert wird. Trotz Rückenwind durch den großangelegten KEP-Prozess war es zwar trotzdem ein gutes und langwieriges Stück Arbeit, bis die Referentin was geworden ist – aber ja, es ist was geworden. Auch, weil sich die engagierteren Menschen in Stadtverwaltung und Stadtpolitik auf den KEP neu berufen konnten, im dem das Fehlen eines derartigen Mediums verankert war. Was wiederum auf das Vorläuferprojekt der „Referentin“ und wiederum auf eigene Arbeit zurückgeht – denn das Projekt hat über mehrere Jahre ohnehin schon bewiesen, dass es geht, nur unter finanziell hochprekären Bedingungen. Aber what shalls und völlig ironiefrei: Good old KEP neu – vor allem in Tagen wie diesen.

In Tagen wie diesen – man glaubt es ja noch kaum – wurde seitens der Stadt Linz tatsächlich das Kulturbudget erhöht. Dass der finanzielle Spielraum für die so genannte freie Szene um 13 % auf mehr als zwei Millionen Euro erhöht wurde, wird 2020 konkret eine Kulturbudget-Steigerung von 250.000 Euro im Vergleich zum Vorjahr bedeuten. Und in der Begründung für die Aufstockung wurden mehrere Passagen aus dem KEP neu zitiert. Es wurde in diesem Zusammenhang natürlich auch auf die Strahlkraft der Unesco-City-of-eh-schon-wissen verwiesen, aber eben vor allem auf die Potentiale, die in den freien Szenen vorhanden sind – und die gefördert werden müssen. Und das ist gut. Und: Wir fügen hinzu, dass hier, in diesen freien Szenen, die tatsächlichen, langfristigen und nachhaltigen Veränderungen passieren, von denen auf den diversen Wunschhorizonten die Rede ist. Hier, in den weniger institutionalisierten Kulturfeldern passieren reale Entwicklungen, hier werden wichtige Korrektive gebildet, hier wird unabdingbare Kritik formuliert, hier wird die immer wieder zitierte „Innovation“ gemacht, auch wenn das in dieser Begrifflichkeit kaum mehr wer hören kann, wegen zu viel heißer oder auch nur lauwarmer Luft rundum. Puh, ja, von zu viel Fön kriegt man Kopfweh.

13 % Aufstockung seitens der Stadt Linz – ja, das ist gut. Anzumerken sei aber, dass zahlreiche Kulturinitiativen oder auch die Kupf als oberösterreichischer Kultur-Dachverband bereits seit Jahren darauf aufmerksam machen, dass es schon seit den 90er-Jahren bei den Förderungen keine Inflationsanpassung gegeben habe, was für Initiativen aus dem freien Kunst- und Kulturbetrieb ohnehin bis dato einen realen Wertverlust von – weit über – die 13 % bedeutet hat. Insofern war es sogar höchste Zeit, das Budget in diesem Bereich zu erhöhen, schlichtweg um einen sinkenden Realwert endlich abzufangen. Was wiederum die Frage aufwirft: Ist diese Erhöhung insofern nicht einmal der Rede wert? Tja. Ist sie schon. Denn in den Jahren zuvor hat das in der Stadt Linz niemand zusammengebracht. Und das Land Oberösterreich – … Dort wurde, wie man weiß, in den letzten Jahren trotz brummender Wirtschaft und aktuell neu gebildeter Budgetreserven drastisch gekürzt, eine Motohall gefördert und neuerdings ein Zweijahreskulturbudget vorgestellt, das – laut Kupf – für die Freien eine Verringerung der Mittel bedeutet, während es im Gegenzug die eigenen Häuser stärkt. Beim Land laboriert man außerdem an einem Kulturleitbild herum, dessen partizipative Elemente ein Witz sind. Kleiner Tipp deshalb ans Land: Bezüglich des so genannten Kulturleitbildes einmal in der Linzer Kulturverwaltung nachfragen! Oder ein Tipp an den Landeshauptmann: Bezüglich Erhöhung der Kultur-Fördermittel sich auch mal bei Parteikollegin Doris Lang-Mayrhofer erkundigen! Sie war hier in der Stadt nicht nur federführend beteiligt, sondern war bei ihrem Amtsantritt schließlich auch höchstselbst bei den freien Initiativen, um sich selbst ein Bild zu machen, während beim Land OÖ nach den diversen Amtsantritten sogar bereits ausgemachte Termine ersatzlos gestrichen wurden. Und noch eine Beobachtung, von einer der vergangenen Schäxpir-Eröffnungen: Während die Kulturstadträtin Doris Lang-Mayrhofer als junge, engagierte Frau sehr glaubhaft die sinnlose Trennung von Stadt und Land hinsichtlich des kulturellen Wirkens in ihrer Eröffnungsrede mitschwingen hat lassen, hat der oberste Kulturverwalter des Landes in bester breitbeiniger Mann-Macht-Manier nur das Land und die „eigene“ Herrlichkeit verkündet. Aber um aufs Geld zurückzukommen, Botschaft ans Land OÖ, ganz einfach: Es wäre mehr als angebracht, wenn das Land Oberösterreich bei der „Erhöhung der Mittel“ für die Freien mitziehen würde – die real eigentlich nur eine INFLATIONSANPASSUNG bedeuten. Ein solches Wording müsste doch sogar für die wirtschaftsgesteuerte ÖVP verständlich sein. Aber sie geben nichts. Zumindest geben sie nicht mehr. Im Namen des Teile, des Herrsche und der Portokassenbeträge.

Über die Inhalte dieser Ausgabe 18 möge sich die LeserInnenschaft selbst orientieren. Es zahlt sich aus, wie die RechnerInnen unter uns sagen.

Die Referentinnen, Tanja Brandmayr und Olivia Schütz

Von Lady Bitch Ray zu »Bitchsm«

Fiftitu, die Vernetzungsstelle für Frauen in Kunst und Kultur, hat Anfang Dezember Reyhan Şahin aka Dr. Bitch Ray zur Buchpräsentation eingeladen. Als Frau im wissenschaftlichen Unialltag, als türkisch-muslimische Alevitin und als Rapperin weiß Reyhan Şahin, wie alltäglich Sexismus, Diskriminierung und Rassismus sind. Ihr Buch »Yalla, Feminismus!« ist eine Streitschrift und ein Manifest der weiblichen Selbstermächtigung. Der Referentin hat Reyhan Şahin erfreulicherweise einen Textauszug aus Kapitel 1 zur Verfügung gestellt.

Reyhan Şahin aka Dr. Bitch Ray Foto Carlos Fernandez Laser, Hamburg

Mit zwölf habe ich begonnen, Musik zu hören. Mein älterer Bruder war Graffitisprayer, ein sogenannter Writer, der immer Kassetten und später CDs mit nach Hause brachte – von Ice-T, Public Enemy oder Eazy-E. Die hörte ich eifrig mit, schließlich schliefen wir zu dritt in einem Kinderzimmer und keiner konnte dem Ghettoblaster entkommen. Mir gefiel der aggressive gespittete Rap, mit dem ich meine Wut ausdrücken konnte, denn ich hatte eine Wut in mir, die ich damals noch nicht steuern konnte. Ich fing an, diesen Sound zu lieben. Deshalb nannten wir unseren Hamster nach dem Rapper Ice-T. Cora E. war damals die einzige sichtbare Frau im Deutschrap. Mich faszinierte als Kind, wie eine Frau ins Mic spittete. Das wollte ich auch! Nie hatte ich eine Faszination für Boygroups entwickelt, die fand ich schon immer uncool. New Kids On The Block, Backstreet Boys, Take That, sie begleiteten mich zwar durch meine Jugend, aber während sie heute wegen ihres Kultstatus gefeiert werden, waren es damals einfach nur langweilige, weißgespülte, fucking Boygroups, die die coolen Street Kids nicht hörten. Sie füllten die Seiten der Bravo oder damaligen Popcorn und wurden von fast allen jungen Mädchen unterwürfig angeschwärmt. Ich fand das schlimm. Ich wusste schon sehr früh, dass ich nicht wegen eines Mannes und seines Aussehens kreischend in Ohnmacht fallen würde, dass es viel wichtiger ist, als Frau selbst etwas zu schaffen und darauf stolz zu sein. Mein Vater hat immer gesagt, dass ich als Frau mindestens das Doppelte leisten muss wie Männer und dass Bildung sehr wichtig für Frauen ist, damit sie unabhängig werden. Heutzutage bin ich froh, dass ich so war! Woher ich in diesem Alter meine kluge Einsicht hatte, weiß ich nicht. Sicherlich nicht aus Magazinen oder aus dem Fernsehen.

Die Schwarzen US-amerikanischen Rapperinnen waren es, die mein Interesse für Emanzipation in meinen jungen Jahren weckten. MC Lyte, Lil’ Kim, Foxy Brown, Missy Elliott oder Lauryn Hill – sie empowerten mich, das Mic in die Hand zu nehmen und die Missstände der türkischen, muslimisch sozialisierten Frau kundzutun. Erst während meiner Promotionsphase entdeckte ich die Schriften von islamischen beziehungsweise muslimischen Feminist*innen. Mit ihnen fühlte ich mich neben dem US-amerikanischen Black Female Rap im feministischen Sinne zuhause. Denn diese muslimischen Feminist*innen sprechen genau die unterschiedlichen Patriarchate, Sexismen und Rassismen an, von denen ich und andere muslimisch sozialisierte Frauen und LGBTQI*s betroffen sind.

2006 wurde ich mit meiner Musik über Nacht berühmt. Über das soziale Netzwerk Myspace, das es damals gab, eine Internetplattform für Musiker*innen. Rap gemacht habe ich aber schon länger, seit 1994. Damals hörten fast nur »Kanaken«, also die Kinder von Arbeitsmigrant*innen, Hip-Hop und R & B. Weiße Deutsche hörten eher weiße Musik, Boybands, Grunge, Heavy Metal oder Rock. Guns N’ Roses zum Beispiel, das war whity-Rock pur. Schwarzen Rap oder Soul, den wir hörten, haben sie eher belächelt, aber keiner traute sich etwas zu sagen, weil’s sonst Ärger von uns gab. US-amerikanischer Rap wurde von der Mehrheit der Weißdeutschen viel später gehört, eher seit den Hits von Snoop Dogg und Dr. Dre. In meiner Schulklasse fingen weißdeutsche Jungs erst mit der Musik des afrodeutschen Rappers Nana an, Rap zu hören. Aber Nana war tatsächlich eher Euro-dance-Popmusik und kein echter Rap. Auch dafür lachte ich viele dieser Jungs aus.

Als ich mit dem Rappen begann, nannte ich mich »Lady Ray«. »Ray« ist seit meiner Schulzeit mein Spitzname, abgeleitet und verkürzt von meinem Vornamen »Reyhan«. Und »Lady« davor wegen folgender Vorgeschichte: 1995 nahm ich mit einem französischsprachigen Rap, den ich zuvor mithilfe des Französisch-Schulwörterbuchs geschrieben hatte, bei einer sogenannten Hip-Hop-Jam teil. Ich liebte damals französischsprachigen Rap von MC Solaar, Ménélik und Soon E MC. Meine französischen Schulwörterbuch-Sex-Rapsongs hat zwar niemand verstanden, aber alle fanden ihren Klang »so wunderbar«. Einmal war ich auf einem Black-Music-Konzert. Der Moderator, der die Acts ankündigte, war schon angetrunken, weshalb er mich wiederholt nach meinem Künstlernamen fragte. »Wie heißt du?«, sagte er und hielt das Mikro weg, damit nicht alle die Frage mitbekamen. »Mademoiselle Ray!«, sagte ich in sein Ohr. »What?!«, schrie er, »Mademoiselle Ray«, »Say it again, say it again …«. Er versuchte, das »Mademoiselle« halb-lallend zusammenzubrechen. Ich merkte, dass er’s nicht packen würde. Ich musste schnell etwas Leichteres sagen, da der Auftrittsmoment nahte. »Lady Ray!«, rief ich ihm unter Druck zu und er kündigte mich an. So war der Name Lady Ray geboren – für ein paar Jahre zumindest.

Zwei Jahre später hatte ich einen Auftritt in einem Freizeitheim in Bremen-Tenever, dort, wo Ferris MC geboren ist. Männliche Jugendliche tummelten sich vor der Bühne. Es hatte sich schon herumgesprochen, dass ich Türkin bin und unanständige Raptexte über Sex schrieb. Die Blicke der Jugendlichen durchbohrten mich, als ich zum Hintereingang der Bühne lief, ich fühlte mich, als wäre ich ein nackter Alien. Breite Klamotten, Baggyjeans, bauchfreies Top und dicke Goldklunker, meine Vorbilder waren T-Boz von TLC und MC Lyte – sowas gab’s damals sonst nur in den Rap-Videos auf MTV. Und eben bei mir, Lady Ray. Als ich auf die Bühne ging, hörte ich schon einige Flüstern: »Bitch«, »Schlampe«, »voll die Nutte«, schallte es leise aus verschiedenen Richtungen. Ich atmete tief ein und legte los. Der erste Song bouncte und die Herren wippten mit starrenden Blicken zu meinem Beat. Als ich losrappte, merkte ich, dass es ihnen gefiel. Nach drei Songs, als die Stimmung im positiven Sinne angeheizt war, stellte ich mich ganz vorne an den Rand der Bühne und kniete mich hin. Ich konnte manchen der Typen direkt in die teilweise ängstlichen Augen sehen. Ich sagte: »Ihr nennt mich also ›Schlampe‹? ›Hure‹, ›Bitch‹?« Ich machte eine Pause und ging auf der Bühne wütend auf und ab. Das Publikum wich sichtbar einen Meter nach hinten. – »Jaaa, das stimmt. Ich bin eine Bitch! Bitch Lady Ray, Lady mo-ther-fu-cking Bitch Ray!« Die drei Wörter dröhnten melodisch auf den Beat. Die Augen wurden noch größer. »Habt ihr mich verstanden?!«, fragte ich. Einige Köpfe nickten zustimmend, als hätte ihnen ihre Mutter gerade gesagt, dass sie heute auf keinen Fall zu spät nach Hause kommen dürfen, weil es sonst kein Abendessen gibt. Seit dem Tag nenne ich mich Lady Bitch Ray. Mir war damals nicht bewusst, dass die US-amerikanische Rapperin Roxanne Shanté den »Bitch«-Begriff zehn Jahre zuvor als Selbstbezeichnung auf einer Bühne in Philadelphia bereits für sich genutzt hat, doch dazu später mehr.

Mit meinen Songs »HengztArztOrgie« und »Ich hasse dich!« wurde ich berühmt. Dass das, womit ich seitdem in den sozialen Netzwerken stündlich überhäuft werde, ein Shitstorm war, eingebettet in übelsten Hatespeech, lernte ich erst zehn Jahre später. 2007 diskutierte ich bei Menschen bei Maischberger über Pornorap, 2008 schenkte ich Oliver Pocher bei der Sendung Schmidt & Pocher ein Döschen echtes Votzensekret von mir, 2011 diskutierte ich mit Alice Schwarzer über ihre einseitige Sicht auf das Kopftuch (auch wenn ich mich von ihr nicht verstanden gefühlt habe). Ich erinnere mich noch sehr gut an den Moment im Juni 2009, als ich vor dem Psychiater in der Klinik stand, in die ich wegen akuter Depression und Angst-Panik-Attacken, die mich im August 2008 überfielen, gegangen war. Er sagte zu mir: »Sie müssen sich das gut überlegen, Frau Şahin: entweder Sie entscheiden sich für Ihre Gesundheit – dann müssen Sie hier genau einen Cut machen und an Ihrer Heilung arbeiten, denn mittelschwere Depressionen sind kein Kinderspiel! Oder Sie machen weiter und fallen irgendwann tot um, weil Sie sich nicht um sich selbst gekümmert haben, Sie haben die Wahl.« Ich kümmerte mich von da an um mich und machte einen Break mit allem anderen. Da meine Musik vom Mainstream überwiegend fehlinterpretiert wurde, fühlte ich mich gezwungen, 2012 das Werk Bitchsm zu veröffentlichen. In diesem Buch erkläre ich, wie die Kunstform von Lady Bitch Ray als sexpositiver Weiblichkeitsentwurf verstanden werden kann, gehe auf die Emanzipation der muslimischen Frau ein, gebe Sextipps und empowere Frauen, trans-, intersexuelle und queere Menschen für eine selbstbestimmtere Sexualität. Da Bitchsm Jahre vor der weltweiten #MeToo-Bewegung erschien, wurde es von deutschen Medien weitgehend ignoriert. Also begann ich, meine Gedanken zum Feminismus in Form von Vorträgen zu verbreiten. Und widmete mich der Wissenschaft.

[…]

Feministische Intersektionalität. In den letzten zehn Jahren fiel das Wort Intersektionalität ziemlich häufig im feministischen Diskurs. Als gängigste Erklärung dafür taucht Mehrfachdiskriminierung auf, welche der Überschneidung von Schnittstellen entspricht, durch die Menschen in mehrfacher Hinsicht diskriminiert sein können, zum Beispiel als Schwarze Frau gleichzeitig von Rassismus und Sexismus betroffen zu sein. Fangen wir aber mal vorne an, denn das Thema der Intersektionalität ist alles andere als eindimensional. Intersektionalität gewinnt dann an Bedeutung, wenn nicht nur das Geschlecht einer Person beim Thema Unterdrückung und  /oder Geschlechterungleichheit eine Rolle spielt, sondern auch race. Oder zusätzlich noch die klassenspezifische Zugehörigkeit, was Triple-Oppression oder Dreifachunterdrückung genannt wird. Außerdem können weitere Faktoren wie etwa Körper, Alter, Gesundheit, Kultur, sozialer Status oder Religion bei der Mehrfachdiskriminierung eine Rolle spielen. Die Frage, ob eher race oder Geschlecht Unterdrückung ausmachen, gehört zu den zentralen und entscheidenden Themen, die bisher die Befreiungskämpfe bezüglich Geschlechterungleichheit mitbestimmt haben. Der Einbezug mehrfach marginalisierter Frauen und LGBTQI*s und insbesondere ihre Erfahrungen, so etwa innerhalb der Schwarzen Frauenbewegung, der lateinamerikanischen, muslimischen oder kurdischen Frauenbewegungen sind beim Thema Intersektionalität unabdingbar.

[…]

Textauszug (Kapitel 1) aus:
Reyhan Şahin aka Dr. Bitch Ray Yalla, Feminismus!
Klett-Cotta, 1. Aufl. 2019, 316 Seiten,
Klappenbroschur
ISBN: 978-3-608-50427-9

Fr 06. 12. 2019
Lesung Reyhan Şahin aka Dr. Bitch Ray: YALLA FEMINISMUS!
Gespräch mit der Autorin und Marie Luise Lehner
Musik von Bad&Boujee
Kunstuniversität Linz 
Hauptplatz 6 – Glashörsaal C, 5. Stock
Einlass: 20.00 Uhr, Beginn 20.30 Uhr
Eintritt frei! Um Anmeldung unter office@fiftitu.at wird gebeten
Supported by Frauenbüro Stadt Linz, Linz Kultur, Land OÖ, Bundeskanzleramt Eine Veranstaltung von FIFTITU% und dem Arbeitskreis für Gleichbehandlungsfragen, Kunstuniversität Linz.

www.lady-bitch-ray.com

Lokale Lokale

Meine Freundin. Sie ist jetzt auf ausgedehnten Reisen. Im Totenreich. Gerade kommt sie zurück. Wegen einer kleinen Angelegenheit, wie sie sagt. Es sei aber nicht notwendig, darüber im Detail zu sprechen. Das sagt sie noch im Stehen. Dann setzt sie sich nieder. Es geht nur mal kurz ums Leben außerhalb des Totenbetts, sagt sie, und: schlimme Zeiten, Anachronismen überall, ein Übergangsopportunismus, wohin man schaut. Die Totengräber haben sich überall an die Oberfläche gegraben, sagt sie. Sie meint diejenigen, die sich – in einem letzten pathologischen Aufbäumen – die Welt nach den Regeln des Alten neu herrichten wollen. Sie meint die Herrichter, die Einpeitscher aller Art. Oder auch die, die sich einfach gerne anpassen. Sie meint die, die sich billige Vorteile verschaffen und große Systeme daraus bilden. Und die, die sich gegenseitig Schlimmes antun. Sie meint das, was sich hinter der Fassade und unter der Oberfläche tut. Sie meint die Psychos und die Zombies. Sie spricht davon, dass sich das Totalitäre auf allen Ebenen ausgebreitet hat, und in jede zwischenmenschliche Beziehung eingesickert ist. „Eh schon wissen“, sagt sie. Und singt eine Melodie an, mit einem selbstkreierten, jedenfalls anzitierten Text, nämlich „T-t-t-t-talking bout my A-lie-nation“. Was das wieder soll. Und überhaupt. Aber egal. Jedenfalls meine Freundin, von wegen „Eh schon wissen“, ist dann doch wieder ganz das Gegenteil: Sie will es dann nämlich doch immer wieder wissen. Und will die Zonen oder Ereignisse finden, die frei sind von sowas. Das ist sie. Aus dieser Mischung besteht sie. So treibt sie sich grade in der Nacht herum. Weil sie es wissen will. Zieht durchs Nachtleben der Innenstadt, noch lieber durch die Spelunken der Vorstadt, fällt in Beisln an Schnellstraßen. Am Wochenende in der Früh sucht sie Großraumdiscos, Systemgastrostätten oder andere Eventkonzentrationen auf. Dann wieder zurück in die Stadt. Schaut herum. Hat Verschiedenes erlebt. Am Tag schläft sie, dämmert dahin oder denkt im abgedunkelten Raum nach. Nur halblebendig im Bett. Das ist ihr kleines Totenreich-Spielchen, ihr kleines Unzeit-, Lebens- und Zwischenreich-Experiment der Stunde. Für dieses Mal hat sie sich eine besonders abgefuckte Arbeitshypothese mitgenommen, sagt sie. Sowas in der Art macht sie immer. Sie habe mal im Flieger nach Athen neben einem sehr liebeswürdigen Herrn gesessen und sich mit ihm unterhalten, über Freundschaften, sagt sie weiter. Und sie glaube sich zu erinnern, dass dieser Herr seinen Landsmann Aristoteles zitiert habe, der gemeint habe, dass: „ein Freund einen warnt bzw. auf die Folgen des eigenen Handelns aufmerksam mache, selbst wenn diese Folgen erst in 300 Jahren zu tragen kommen“. Das habe ihr imponiert. Auch wenn sie jetzt, Jahre später, nicht mehr wisse, ob der Name des Philosophen hier stimme oder das Zitat nur irgendwie korrekt ist. Oder sie das überhaupt nur geträumt habe. Jedenfalls sei ihr dieser Satz und diese Begebenheit wieder eingefallen. Und jedenfalls habe sie diesen Satz in der Nacht jetzt auf ihren Streifzügen dabei. Sie „überprüfe die Realität“, die sie sehe, in dem sie „diesen Satz gegen die Realität stelle“. Was das genau bedeute, wisse sie noch nicht ganz, das harre noch dem ungewissen Ausgang des Experiments. Aber ganz sicher habe ihr der Satz in einer Sache selbst schon sehr geholfen. Indem sie sich selbst in dieser Weise beraten habe, sozusagen als Freundin ihrer selbst: Sie habe ihr Handeln in dieser bestimmten Angelegenheit, über die sie aber nicht konkret sprechen wolle, auf eine Auswirkung von, sagen wir, diesen dreihundert Jahren hin überprüft. Sie sagt, das sei wichtig gewesen. „Ja gut“, sage ich kurz angebunden, „das passt eh, aber hör bald wieder auf mit dieser Herumtreiberei in der Nacht, das schadet dir jetzt schon“.

Dann lachen wir los, weil meine Freundin weiß, dass das kein Ratschlag war, sondern die pure Anerkennung – für sie und ihre Geschichtenherumtreiberei. Und natürlich wissen wir, dass wenig, wirklich wenig momentan in dieser Welt noch auf 300 Jahre angelegt ist.

It is (a) happening: Migration im Museum

Genealogie einer Selbsthistorisierung: Elena Messner gibt einen Überblick über Ausstellungen im Migrationskontext und beschreibt die Hintergründe einer Ideenwerkstatt, die aktuell an einem Konzept für ein Museum für Migration arbeitet – und an der sie beteiligt ist. Die Wanderausstellung „MUSMIG“ startet im Februar in Wien und könnte im kommenden Jahr auch in Linz zu sehen sein.

Globalisierung, Arbeitsmigration, Flucht, Vertreibung oder Mobilität zählen zu den dominierenden Phänomenen des 20. und 21. Jahrhunderts. Sie werden aber in staatlich finanzierten National- oder Stadtmuseen kaum dargestellt. Als eine lose Gruppe von Migrationsforscher_innen, Aktivist_innen und Theoretiker_innen arbeiten wir darum an der Vorbereitung des Projekts „MUSMIG“, einer Ideenwerkstatt für ein Museum der Migration. Dieses wird im Dezember 2019 in Wien gestartet und endet mit einer Ausstellung im Februar 2020, die als Wanderausstellung konzipiert ist.

Die bisherigen Versuche, Migration zu archivieren und in musealen Kontexten auszustellen sind in Österreich v.a. im Rahmen von Initiativen zur verstärkten Sichtbarmachung von Gastarbeit zu verorten. Das ist kein Zufall: kaum eine Form von Migration war für das Land seit den 1960ern so prägend, wie die Arbeitsmigration aus Jugoslawien bzw. seinen Nachfolgestaaten und der Türkei. Gegenwärtig ist ein verstärktes Interesse an dieser Thematik zu vermerken. Das Stadtarchiv Salzburg1, das Stadtmuseum St. Pölten2, das Vorarlberg Museum in Bregenz, das Stadtmuseum in Graz3, das Stadtmuseum Ferdinandeum und das Volkskundemuseum in Innsbruck, das Volkskundemuseum in Wien4 sowie das Wien Museum haben im den letzten Jahren Ausstellungsprojekte, und zwar zumeist im Kontext der Jubiläen der sog. „Gastarbeiterabkommen“ organisiert.

Die Impulse diesbzgl. kamen zumeist nicht aus den Museen oder der Politik, sondern wurden von Aktivist_innen oder Wissenschaftler_innen an die Institution herangetragen. Fakt bleibt, dass nur Selbstarchivierung und Selbsthistorisierung der Subjekte der Migration die Basis dafür boten, Migration in musealen Kontexten sichtbarer zu machen. Denn, wie Arif Akkiliç, Vida Bakondy, Ljubomir Bratić und Regina Wonisch es formulieren, „die Historisierung, Archivierung und Musealisierung der Migration wären ohne die Repräsentationskämpfe ihrer Subjekte und die Initiativen zur Selbstdokumentation nicht denkbar“. Das ist ein Statement, das als Ausgangsthese einen fixen Platz in unserer Werkstatt hat. Es ist unmöglich, alle bisherigen Projekte und Initiativen an dieser Stelle zu diskutieren, einen guten Überblick darüber kann man sich aber im Buch „Schere Topf Papier. Objekte zur Migrationsgeschichte“ (Mandelbaum, 2016) verschaffen, dem oben zitiertes Statement entstammt.
Für unser Vorhaben sind jene Initiativen relevant, die als Markierungen im Diskurs rund um das Thema Migration und Museum herangezogen werden können. Dazu zählt die Sonderausstellung „Gastarbajteri: 40 Jahre Arbeitsmigration“, die 2004 im Wien Museum von einem Rechercheteam5 in Kooperation mit der Initiative Minderheiten organisiert wurde (die Idee dafür lieferte Cemaletin Efe), oder auch das Nachfolgeprojekt „Viel Glück! Migration heute. Wien, Belgrad, Zagreb, Istanbul“.6
Andererseits sind für uns Kampagnen relevant, die den Diskurs um ein Museum der Migration vorangetrieben haben, wie das künstlerisch konzipierte Projekt „Verborgene Geschicht(en)/Remapping Mo­zart“7, ein von Ljubomir Bratić, Araba Evelyn Johnston-Arthur, Lisl Ponger, Nora Sternfeld und Luisa Ziaja kuratiertes Projekt im Rahmen des Mozartjahres 2006.8 Vier Konfigurationen, d. h. Ausstellungen, Vorträge, Kunst in Schaufenstern, Bustouren, Podiumsdiskussionen, wurden von je zwei Kurator_innen gestaltet. „Remapping Mozart“ war auch aufgrund der programmatischen Mehrsprachigkeit (Bos­nisch/Kroatisch/Serbisch, Türkisch, Deutsch und Englisch) exemplarisch.
Ein Höhepunkt der Debatte war die Kampagne „50 Jahre Arbeitsmigration – Archiv jetzt!“, die von Akkılıç und Bratić koordiniert wurde und den Migrations-Diskurs noch tiefer in Politik und in Museen trug. In Folge davon kam es zur Gründung des „Arbeitskreises Archiv der Migration“, welchem neben Bratić und Akkılıç noch Vida Bakondy, Wladimir Fischer, Li Gerhalter, Belinda Kazeem und Dirk Rupnow angehörten. Als eine Aktion der Kampagne wurde vor dem Wien Museum ein Plakat aufgestellt, auf dem die Forderung nach einem Migrationsarchiv ausformuliert war. Insbesonders auf Grund dieser Aktion wurde das Wien Museum von der Wiener Abteilung für Integration und Diversität beauftragt, ein Sammelprojekt zu organisieren. So kam es dazu, dass 2015 eine bis dahin in Österreich einzigartige Initiative unter dem Titel „Migration sammeln“ gestartet wurde. Das Projektteam Akkılıç, Bratić, Bakondy und Wonisch, wissenschaftlich von D. Rupnow beraten, sammelte für das Wien Museum Migrationsobjekte, und arbeitete dafür intensiv mit Vereinen, Akti­vist_innen, NGOs und Privatpersonen zusammen. Im Jahr 2017 konnten 770 Objekte ans Museum übergeben werden. Das Projekt mündete in einer leider nur eintägigen Ausstellung in fünf Vitrinen, die genauso wie die entstandene Sammlung, online dokumentiert ist.9 Als Nachfolgeprojekt wurde die Ausstellung „Geteilte Geschichte“ 2017–2018 von Vida Bakondy und Gerhard Milchram kuratiert.
Die vorangegangene aufwendige Recherchearbeit fand in dem eingangs zitierten Buch Niederschlag. Im Vorwort schreibt Museumsdirektor Matti Bunzl, die Initiative „Migration sammeln“ sei „durchaus programmatisch gemeint.“ Er spricht sich gegen die Idee von Migrationsmuseen aus, die er zwar als „potente Korrektive“ in „hegemonischen Narrativen“ sieht, aber auch als Fortführung der Trennung in normale und migrantische Geschichte. Mit dieser Positionierung geht sein Versprechen einher, die neu gesammelten „Kernstücke“ würden in der Dauerausstellung ihren fixen Platz bekommen – da er die Geschichte Wiens als eine migrantische sehe. So begrüßenswert solche Vor-Worte sind, so irritierend ist die behauptete Selbstverständlichkeit angesichts der Tatsache, dass erst die von Aktivist_innen initiierten Kampagnen dazu geführt haben, dass eine angeblich selbstverständliche Sammelpraxis im Museum implementiert wurde. Das Wien Museum wird derzeit renoviert und vergrößert. Nach der Sanierung wird, so darf man hoffen, genügend Platz und Gelegenheit vorhanden sein, um sich, wie Bunzl als Schlusssatz seines Vorwortes formulierte, weiter „an die Arbeit“ zu machen. Spannend bleibt, ob die Zusammenarbeit mit Aktivist_innen und Migrant_innen beibehalten wird, bzw. auch, ob auf der Personalebene nachhaltige Fortschritte zu erwarten sind. Denn trotz gelegentlicher Besetzungen von Migrant_innen oder deren Einsatz bei Projekten gilt nach wie vor, dass diese – freilich nicht nur im Wien Museum, sondern in den meisten kulturellen Institutionen – seltener als Kurator_innen oder Wissenschaftler_innen arbeiten.
Die Tatsache, dass in letzter Zeit Stadtmuseen verstärkt (lokale) migrantische Perspektiven in ihre Ausstellungen implementieren, sollte allerdings nicht als Argument dagegen benutzt werden, Migration zusätzlich in einer eigens dafür vorgesehenen staatlichen Institution zu archivieren und zu musealisieren. Migration beschränkt sich nicht auf Stadtgeschichte, sie betrifft nicht bloß Stadtmuseen, sondern sie umfasst nationale, transnationale und globale Geschichte und Kultur. Den archivierenden Blick auf Migration, und damit auf Rassismus und Kolonialismus zu lenken, ist als Aufgabe aktivistischer Initiativen längst nicht obsolet geworden. Angesichts punktueller Alibi-Aktionen von Museen und folgenloser Diversitäts-Slogans kultureller Institutionen ist sie wichtiger denn je. Zum Glück waren und sind Migrant_innen erfolgreich in der Selbst-Historisierung, auch außerhalb etablierter Institutionen.
Etwa Slobodan Jovanović, der zur ersten Generation der Gastarbeiter_innen gehört, die nach Wien gekommen waren. Er war aus privatem Interesse Sammler und Archivar. Vor rund zehn Jahren organisierte er eine Ausstellung, die heute noch im Sitzungsraum des Serbischen Dachverbandes in Wien hängt, ein prototypisches Beispiel der Selbstdokumentation von Migrierten. Diese Ausstellung wurde 2016-2017 zur Gänze im Belgrader Museum Jugoslawiens gezeigt, für welches Bratić gemeinsam mit Aleksandra Momčilović und Tatomir Toroman die Ausstellung „Jugo, moja Jugo“ organisierte. In Rahmen dieser Ausstellung in Belgrad wurde auch eine andere Ausstellung über aus Jugoslawien nach Deutschland migrierte Frauen integriert, die Bosiljka Schedlich 1987 in Berlin gemacht hatte. Diese wurde als Gesamte dem Museum in Belgrad geschenkt und noch mehrmals gezeigt. Der spannende Perspektivenwechsel (Zielland – Herkunftsland) wirft vor allem die Frage auf: an wen richtet sich eigentlich ein Museum der Migration, und wie kann eine transnationale Ausrichtung gewährleistet werden – außer durch (radikal) migrierende Ausstellungen selbst.
Eines der aktuellsten Projekte, das für Österreich zukünftig eine Markierung darstellen dürfte, ist das 2017 am Volkskundemuseum von den Kuratoren Alexander Martos und Niko Wahl geleitete Projekt „Museum auf der Flucht“, mit dem „das Volkskundemuseum Wien die Grundlage für eine intensive Auseinandersetzung mit den Themen Flucht, Migration und Ankommen in seinen Forschungs-, Sammlungs-, Ausstellungs- und Vermittlungs­tätigkeiten10 schuf“. Im Rahmen dieses Pilotprojektes kam es auch zu einer Stellenausschreibung, die sich durch gezielte Rekrutierung von Kurator_innen mit Asylhintergrund aktiv gegen automatische Ausschlüsse richtet. Das Projekt legt sich diskursiv mit dem Modell von Nationalmuseen an, es fragt neben einer Museologie des 21. Jahrhunderts auch nach einer Ethnologie des 21. Jahrhunderts, verbunden mit der Forderung eines noch zu erarbeiteten Konzepts für ein „Museums der Weltlosen“ bzw. eines „Hauses der Kulturen der Weltlosigkeit“. Im Rahmen der Wiener Festwochen wurde 2017 hierfür die „Akademie des Verlernens“ veranstaltet, und dieser künstlerische Rahmen verdeutlicht einmal mehr, dass die Debatten rund um Migrationsmuseen im 21. Jahrhundert die Grenzen von Performance, Kunst, politischer Diskussion, Wissenschaft und Straßen-Aktivismus mit großer Selbstverständlichkeit überschreiten.
Auch die Absicht hinter unserem Projekt ist mehr als Wissensvermittlung. Unsere Auseinandersetzung reagiert auf drängende gesellschaftliche Fragen, sie soll Plattform sein für theoretische Debatten, für Kunst- und Wissenschaftsaktivismus. Darum stellen wir auf methodischer Ebene die Frage danach, wie Ansätze aus der Migrationsforschung, der Geschichtswissenschaft und -pädagogik mit einer reflektierend-partizipativen Demokratiepraxis zusammen gedacht werden können. Auf der Ebene der künstlerischen Gestaltung fragen wir, wie das ästhetische Feld der Bewegung und des Transitären dargestellt werden kann. Auf der inhaltlichen Ebene fragen wir, ob es gelingen kann, das Museum der Migration selbst als Objekt auszustellen, nicht nur im Sinne der historischen Aufarbeitung der Debatten, die sich mit entsprechenden Konzepten beschäftigten, sondern als Sammlung realer und fiktiv-utopischer Museumsobjekte, die zusammengenommen als das – selbst ausgestellte – Museum fungieren könnten. Auf museumspolitischer Ebene beschäftigt uns die wiederkehrende Frage: Kann man beweglichen Migrationsaktivismus mit der konservativen Darstellungsform der statischen Ausstellung zusammenbringen?
Relevante Bezugspunkte für unser Projekt „MUSMIG“ sind daher Ausstellungen, die die Geschichte antirassistischer Praktiken dokumentieren. Etwa jene, die die Plattform no-racism.net im September 2019 anlässlich ihres 20jährigen Bestehens – und ihres Endes – organisierte. Was Objekte eines Migrationsmuseums sein können, und welche Ziele das Ausstellen solcher Objekte verfolgt, zeigt das Beispiel eines Flugblatts, auf dem ein Wanderdenkmal gefordert wird. Die auf dem Flugblatt propagierte Aktion, unter großer Beteiligung der schwarzen Community in Wien, war einer der Mitgründe dafür, dass Ulrike Truger den Gedenkstein für den bei einer Abschiebung getöteten Marcus Omofuma gestaltete. Die Ausstellung des Flugblattes dokumentiert somit einen gelungenen Akt aktivistischer (Selbst-)Historisierung.
Am Ende dieser kurzen Darstellung der schöpferischen Energie von Selbstorganisation soll die Geschichte eines Objekts stehen: Das Transparent „Wir würden wählen, wenn ihr nicht rassistisch wärt“ wurde von Vlatka Frketić, Andreas Görg und Ljubomir Bratić im Rahmen des Projekts „BUM – Büro für ungewöhnliche Maßnahmen“ gestaltet. Nachdem es bei mehreren Demonstrationen eingesetzt worden war, kam es im Jahr 2006 als Teil des Projektes „Remapping Mozart“ zweifach zur Anwendung, einmal in einer unangemeldeten kurzen Aktion vor dem Parlament, bei der es darum ging, das Thema Wahlrecht für Migrant_innen zu markieren, sowie in der Ausstellung „Es ist kein Traum!“. Im Jahr 2016 wurde es im Rahmen des Projektes „Migration sammeln“ dem Wien Museum geschenkt.
Wir schlussfolgern: Wie dieses Transparent so sollten auch das Museum der Migration und seine Objekte radikal grenz­offen sein, nicht nur hinsichtlich territorialer und nationaler Fragen, sondern auch hinsichtlich ihres Wirkungszusammenhangs. Und als ebenso grenzoffen verstehen wir unsere Ideenwerkstatt.

1 Das Archiv initiierte eine Ausstellung unter dem Titel „KOMMEN/GEHEN/BLEIBEN – 50 Jahre Anwerbeabkommen Österreich-Jugoslawien 1966–2016“.
2 Dort wurde 2014 unter dem Titel „Angeworben! Hiergeblieben! 50 Jahre Gastarbeit in der Region St. Pölten“ eine mehrmonatige Ausstellung organisiert.
3 Verena Lorber organisierte dort 2015-2016 eine Ausstellung zu slowenischen Gastarbeiterinnen, www.grazmuseum.at/ausstellung/lebenswege.
4 Der Verein JUKUS organisierte 2014 dort eine Ausstellung zu türkischer und 2016 zu jugoslawischer Gastarbeit.
5 gastarbajteri.at/im/107455867486.html
6 initiative.minderheiten.at/wordpress/wp-content/uploads/2019/05/03_Ausstellung-Viel_Glück.pdf
7 trafo-k.at/remapping-mozart/htm/main/konfigs/index.htm
8 trafo-k.at/remapping-mozart/htm/konfig2/rundgang/sub01.htm
9 Siehe: migrationsammeln.info
10 www.volkskundemuseum.at/museum_auf_der_flucht

MUSMIG. Ideenwerkstatt für ein Museum der Migration
14. 12. 2019: „Inventur“. Öffentlicher Workshop und Arbeitsgruppentreffen
21. 02. 2020: „MUSMIG. Museum der Migration“. Ausstellung in der Galerie „Die Schöne“ (Wien)
Teilnehmende: Fatih Özcelik, Petja Dimitrova, Sónia Melo, Arif und Evrim Akkiliç, Alice Fehrer, Georg Kö, Elena Messner, Natalie Bayer (angefr.), Goran Novaković, Alexander Matos, Petra Sturm, Handen und Ali Özbas, Ljubomir Bratić, Simon Inou, Sandra Chaterjee, Brigita Malenica, Gizem Gerdan, Regina Wonisch.
Detail- und Programminfos: www.textfeldsuedost.com/musmig-museum-der-migration

Die Wanderausstellung „MUSMIG“ startet im Februar in Wien, und könnte im kommenden Jahr auch in Linz zu sehen sein. Watch out.

Die kleine Referentin

Die Verortung von Erinnerung(en) im Raum

Das afo architekturforum oberösterreich fragt in der aktuellen Ausstellung zum Thema „Kontaminierte Orte“ danach, wie sich Gewalt und Kriminalität in Orte einschreiben oder wie die Rezeption solcher Orte aussieht – und ist gleichzeitig eine Geschichte darüber, jene zu erreichen, die sensibel genug sind, damit in „ange­messener Weise“ umzugehen. Bettina Landl hat die Ausstellung besucht.

Also es war immer dieses Lächeln, da hat man gewusst: Jetzt, o Gott, jetzt passiert irgendetwas Furchtbares.“, zitiert der Bildtext zu Stift Kremsmünster einen Konviktsschüler, der deutlich macht, dass es nicht ganz einfach ist, sich den dramatischen Ereignissen zu widmen, von denen diese Ausstellung auch erzählt.

Wer agiert wie mit dem Ort und dem Geschehen?
Die Ausstellung geht von Martin Pollacks wichtigem Essay „Kontaminierte Landschaften“ (2014) sowie von der anhaltenden Diskussion um Hitlers Geburtshaus in Braunau am Inn aus, spannt einen weiten historischen und geografischen Bogen und setzt sich mit 14 exemplarischen Orten in Oberösterreich auseinander. Von Architekturhistoriker und Kurator Georg Wilbertz wird der Blick auf jene Orte gerichtet, an denen Gewalt, Kriminalität, soziale oder ökonomische Verwerfung stattfanden, um sie vor dem Vergessen zu bewahren und die Kluft zwischen offizieller Geschichtsschreibung und kollektiver Erinnerung zu überbrücken. Aus einer unzähligen Fülle von Möglichkeiten wurden Orte ausgewählt, in verschiedene Kategorien der Gewalt und des Leidens eingeteilt und der Versuch unternommen, diese Methode epochenübergreifend anzuwenden.
Eingebettet ist das Thema in den umfang­reichen Diskurs zur Ortstheorie, wobei die Aspekte und Fragestellungen, die unmittelbar mit dem Thema der Gedenk- und Erinnerungskultur zusammenhängen, im Vordergrund stehen.
Individuelle Erinnerungen sind es, die unser Leben und unsere Persönlichkeit prägen. Das gilt auch für „Kollektivindividuen“, wie z. B. die Bewohner*innen einer Stadt bzw. einer Region oder auch für ganze Nationen. Insbesondere die verschiedenen Deutungen und Aneignungen der Orte im Laufe der Zeit, die Herausarbeitung ihrer Instrumentalisierung durch politische Gruppierungen sollen für die Manipulierbarkeit des kollektiven Gedächtnisses sensibilisieren.

Wie sieht die Rezeption von Ort und Geschehen aus?
Die Diskussion um Hitlers Geburtshaus dient der Ausstellung lediglich als Einstieg in die Thematik, die das oft beschworene Idyll Oberösterreichs durchbricht und den widersprüchlichen Umgang mit solchen Orten aufzeigt. Anhand der Einführung, einer Überblickskarte, einer künstlerischen Intervention und 14 exemplarischen Orten, die durch Gewalt, Leid oder kriminelle Handlungen geprägt waren und sind, wird das komplexe Thema vorgestellt. So ist beispielsweise das Kriegsgefangenenlager Marchtrenk, das von 1914 bis 1918 in Betrieb war und 1915 eine Höchstbelegung mit 35.000 Gefangenen verzeichnete und das aus einer umfangreichen Infrastruktur mit Verwaltungstrakten, Lagerspital, Quarantänelager, Schlachthof, Klärschlammverbrennung, Werk- und Arbeitsstätten sowie einem Lagerfriedhof bestand, Forschungsgegenstand und Teil der Ausstellung. Ebenso Teil der Ausstellung ist auch das Bettler-Haftlager in Schlögen, das von Sommer 1935 bis zum „Anschluss“ 1938 nach landesweiten Bettlerrazzien in Oberösterreich mit bis zu 739 Männern belegt war. Lager dien(t)en der Aussonderung, der Repression, der „Erziehung“. Sie ermöglich(t)en Gesellschaften und politischen Systemen, diejenigen sozial zu isolieren, die man als schädlich oder gefährdend identifiziert, und an dafür vorgesehenen Orten zu konzentrieren. Das 20. Jahrhundert wird immer wieder als „Jahrhundert der Lager“ bezeichnet. Verfolgt man aktuelle Debatten und Diskurse in rechtskonservativen Kreisen, scheint das „Lager“ als probates Mittel der Problemlösung eine bedenkliche „Renaissance“ zu erleben.

Erinnerungsorte
Zu den Orten, die mit dem Enthusiasmus der Reform, des Heilens und der philanthropischen Sorge um den Menschen verbunden sind, gehören etwa psychiatrische Einrichtungen (früher als Tollhäuser, Irrenanstalten etc. bezeichnet). Dass jedoch die wohlmeinenden Intentionen oft in ihr krasses Gegenteil verkehrt wurden, zeigen v. a. die psychiatrischen Einrichtungen des 18. und 19. Jahrhunderts. Diese sind häufig gekennzeichnet durch Verwahrlosung und Verrohung. Man sonderte die vermeintlich nicht integrierbaren Mitglieder einer Gesellschaft ab. So wurde beispielsweise das Prunerstift in Linz 1734–39 zuerst als Anstalt für Waisenkinder und Bedürftige erbaut, 1786 durch Joseph II. aufgelöst, dann bis 1833 zu einem Findelhaus und einer Gebäranstalt umfunktioniert, bis es von 1833 bis 1867 eine Irrenanstalt war (seit 1979 die Musikschule der Stadt Linz).

Weiters ermöglicht die Ausstellung eine Auseinandersetzung mit Orten wie dem Kriegsgefangenenlager in Mauthausen, der Psychiatrischen Klinik Niedernhart, dem Sozialpädagogischen Jugendwohnheim Wegscheid, dem Intertrading-Gebäude und dem Landesgericht in Linz, dem Benediktinerstift in Kremsmünster, der Jahnturnhalle in Ried im Innkreis, dem „Dichterstein“ in Offenhausen, der Siedlung Ennsleite in Steyr, dem Richtstättenweg in Lochen sowie dem Frankenburger Würfelspiel in Frankenburg.
All diese Beispiele machen deutlich, dass sich kollektive Erinnerungen immer in irgendetwas manifestieren, sei es in einem Ort, einer Persönlichkeit, einer mythischen Gestalt, einem Ritual, einem Brauch oder einem Symbol, also eine Gestalt annehmen bzw. einen begrifflichen Topos (wörtlich: einen Ort) bilden, in dem gemeinsame Assoziationen kondensieren. Erinnerungsorte sind identitätsstiftend. Dabei haben verschiedene gesellschaftliche Gruppen durchaus unterschiedliche Erinnerungsorte.

Ausstellen gegen das Ausschweigen und Verdrängen
In der Ausstellung werden Fälle seit der frühen Neuzeit exemplarisch beleuchtet, es wird das jeweilige Geschehen beschrieben und die Frage gestellt, wem Erinnerung nützt, wer sie verdrängt, wer sie steuert oder gar von ihr profitiert. Gleich ob Taten Einzelner oder jene staatlicher bzw. öffentlicher Institutionen eingeschrieben sind, beeinflusst die Kontamination von Orten unsere Rezeption der Geschichte. Manche Grausamkeit wandelte sich mit zeitlichem Abstand zu Folklore oder zum touristischen Event.
Falsch verstandene Erinnerung, das Exponieren als „faszinierender“ Ort des Gruselns oder der voyeuristischen Neugierde sind Indizien dafür, dass sich mit zeitlichem Abstand die Erinnerung und die Rezeption der Taten wandeln. Es gibt nicht DIE Erinnerung, nicht DIE Erzählung, die mit einem kontaminierten Ort verbunden sind.

Die Ausstellung zeigt, dass um Erinnerung, ihre Orte und die Interpretation historischer Ereignisse gesellschaftliche Auseinandersetzungen geführt werden. Es geht um Deutungsfragen, die konstituierender Teil unseres kollektiven Bewusstseins sind.
Der Verzicht auf kontaminierte Orte im Österreich der Nazizeit in der Ausstellung stellt eine bewusste Entscheidung dar. Sie ist begründet in der Dimension der Verbrechen von 1938 bis 1945 und der Tatsache, dass diese durch berufenere Institutionen, Gedenkstätten und Forschungseinrichtungen bereits sehr weit aufgearbeitet und dokumentiert sind.

Zur Aktualität von Geschichte(n)
Die Ausstellung hat eine eigene innere Ordnung, die sich aus Bezügen entwickelt hat und ist nicht, wie man annehmen würde, chronologisch aufgebaut. Vom Dokument bis zum Buch und Interviews mit Zeitzeugen wird der Zugang zum Thema bzw. zu den Themen auf vielfältige Weise ermöglicht.
Wenn gleichzeitig auf politische Inanspruchnahme oder den politischen Missbrauch bestimmter Begriffe und Phänomene hingewiesen wird, macht die Ausstellung anschaulich, dass einzelne Fragestellungen höchst aktuell sind.
Neben der Fülle der Aspekte und Fragen, die mit den konkret ausgewählten Orten und Bauten verbunden sind, geht es u.a. darum, möglichst viele Fragestellungen und Phänomene anhand der Einzelbeispiele exemplarisch zu erfassen und darzustellen. Ziel ist nicht nur die Darstellung eines möglichst breiten Spektrums, sondern die Erstellung eines „Katalogs“ der mit problematischen Orten verbundenen Aspekte und Herausforderungen.

„Kontaminierte Orte“ bietet bzw. bieten vielfältige Möglichkeiten der Rezeption. Die Spanne kann von der politisch-gesellschaftlichen Instrumentalisierung über Legitimations- und Identifikationsstrategien bis hin zur ökonomischen Nutzung reichen. Dem gegenüber stehen Interessen und Strategien des Vergessens, der Tilgung oder der Verdrängung. Beide Richtungen können je nach historisch-politischer Situation in ein dynamisches Wechselverhältnis treten. Ein spezifischer Aspekt ist die touristisch-ökonomische Nutzung derart problematischer Orte. Der in den letzten Jahren verstärkt geführte Diskurs zum Stichwort „Dark Tourism“ stellt bezüglich der Theoriebildung und theoretischen Aufarbeitung derartiger Orte einen wichtigen Beitrag dar. Damit wird in und mit der Ausstellung ein sensibler Umgang eingefordert und eingeübt und das notwendige Gespräch über diese Themen (weiter-)geführt.

 

Anmerkung Redaktion: Hinsichtlich Nazizeit und der Dimension der Verbrechen von 1938 bis 1945 findet sich in der aktuellen Versorgerin #124 ein Text über doch immer noch nicht so recht aufgearbeitete und dokumentierte Orte der Nazi-Verbrechen in Oberösterreich.

Kontaminierte Orte
Ausstellung bis 31. Jänner 2020
Mi–Sa 14.00–17.00 Uhr, Fr 14.00–20.00 Uhr
afo architekturforum oberösterreich
Herbert-Bayer-Platz 1, 4020 Linz
Kurator: Georg Wilbertz
Gestaltung: Leonie Reese
Produktion: afo