Ende Gelände

Christel Kiesel hat mit der Masterarbeit Ende Gelände dieses Jahr ihr Studium der Plastischen Konzeption abgeschlossen. Die Arbeit war danach mehrfach in Linz zu sehen und wurde bereits mit zwei Preisen bedacht. Tanja Brandmayr hat sich die Arbeit angesehen und mit der Künstlerin gesprochen.

Zuerst die kurze, aber doch beachtliche Ausstellungsgeschichte der Arbeit und die Info für alle, die beim Thema Preise hellhörig werden: Ende Gelände war heuer im März als Masterarbeit in der Kunstuniversität ausgestellt, danach im Sommer in der Galerie Maerz, und im Oktober wieder in der Kunstuni bei Best Off. Dazwischen hat Christel Kiesel mit Ende Gelände den AK-Kunstpreis zuerkannt bekommen sowie den Preis des Diözesankunstvereins. Weiter geht es in puncto Präsentationen im Dezember mit einer Ausstellung bei EFES42, einem Verein für Skulptur in der Linzer Schubertstraße. Voraussichtlich im kommenden April wird Kiesel in der Arbeiterkammer zu sehen sein, im Mai in der Diözese.

Damit zum Werdegang von Christel Kiesel: Die Plastische Konzeptionistin bzw. die Bildhauerin und bildende Künstlerin wächst im ehemaligen Osten Deutschlands in einem Betrieb in Südbrandenburg auf, einer Töpferei, die es seit 1837 gibt. Später studiert sie Industriedesign in Halle an der Saale (2009–2014), danach Plastische Konzeption in Linz (2015–2019). Die Arbeit Ende Gelände markiert 2019 den Schlusspunkt und die Masterarbeit dieses Studiums. Was sich im beruflichen Werdegang schon längere Zeit abzuzeichnen scheint: Das Faible für Gegensätzlichkeiten, einerseits zwischen Keramik und Industriedesign (Kiesel: „auch zwei sehr entgegengesetzte Bereiche – mich interessiert das“), andererseits später – und immer noch – zwischen Industriedesign und Kunst. Obwohl sie schon während ihres Designstudiums immer wieder die Rückmeldung erhalten habe, dass sie „eigentlich in die Kunst gehört“, bezeichnet Christel Kiesel ihren industriedesignerischen Zugang als prägend, um Kunst zu machen. Dabei sind für Kiesel „sowohl Kunst als auch Design Methoden, um Objekte wahrzunehmen und zu lesen“. Schlussendlich hinterfrage sie Objekte oder auch Alltagsgegenstände etwa immer noch auf eine Funktionalität und verschiedene Zwecke, wobei sie diese Selbstverständlichkeit des funktionalen Nutzens als „eine Art Poesie“ bezeichnet. Und ihre Herangehensweise folgendermaßen: „Generell geschieht viel mit Plan, der allerdings spontan wieder verlassen wird“. Kiesels Arbeitsprozess findet jedenfalls hauptsächlich zwischen Schreibtisch und Werkstatt statt, weniger im Atelier, und ist sehr materialbezogen. Seit sie in Linz ist, arbeitet sie etwa auch vermehrt mit dem Material Stahl.

Ende Gelände umfasst nun im Wesentlichen drei Komponenten mit jeweils eigener Betitelung – namentlich I Follow, Stiebsdorf Blau und Konglomerat L. Diese drei Komponenten stellen eigene Themenkreise dar und lassen sich jeweils als größere Abstraktionen von Raum und Landschaft fassen. Sie stellen sich in unterschiedlicher Form und Materialität zueinander und thematisieren – gemeinsam und für sich – grundlegende bildhauerische Fragestellungen. I Follow etwa besteht aus filigranen, schwefelgelb lackierten Stahlobjekten, die formal zuerst als Geländer im Raum angelegt sind, zusätzlich aber bei der Form von Schranken, Leitern und Hochsitzen Anleihen nehmen. Das gelbe Gestänge verhandelt dabei bildhauerische Grundfragen von Fragilität, Stabilität, Raumausdehnung und Raumbezug, zitiert aber auch, durchaus auf entfremdete Weise, eben Objektfragen von Nutzung und Design. Die nächste Komponente, Stiebsdorf Blau, hängt als leicht schwebende Stoffbahn im Raum, mit einem vertikalen Farbverlauf von blau nach weiß, was Wahrnehmungen von Wasser, Luft, Sinnlichkeit, Durchlässigkeit und Sättigung eröffnet – und möglicherweise eines Übergangs per se. Dazu weiter unten. Und, last but not least, verlegt Konglomerat L mehrteilige Bodenplatten – und damit etwas sehr Basales, Bodennahes und Schweres. In ihrer offensichtlich organischen Zusammensetzung von Ton bis Kiefernnadeln stellen diese Platten Fragen nach lebendigem und totem Material, bestehen aus Bodenschichten und Erosion, und sind in ihrer Hergestelltheit selbst vergänglich. Dazu Christel Kiesel: „Das sind temporäre Manifestationen, sie würdigen die Präsenz des Materials, wie in einem Moment des Ein- und Ausatmens“. Was wohl auch symbolhaft für eine geologische Zeitdimension stehen soll, die auch dementsprechend angearbeitet wurde. Denn die von Kiesel für diese Bodenplatten in der brandenburgischen Landschaft vorgefundenen Materialien von verschiedenen „Sanden, Tönen und Erden“, teilweise mit Schwefelgeruch und eben mit diversen Beimengungen, wurden im quasi-archäologischen beziehungsweise analytischen Arbeitsprozess von der Künstlerin zuerst voneinander separiert, um danach wieder als Arbeitsmaterial zusammengefügt zu werden. Schlussendlich soll dieses temporär dem Boden entnommene Material der Landschaft zurückgegeben werden.

Insgesamt und zusammen befragen die oben vorgestellten Objekte eine ganz grundlegende Materialität und Präsenz. Sie präsentieren sich als eine Art gemeinsames, aber sehr gegensätzliches Ameublement der bildhauerischen Abstraktion. Christel Kiesel zieht nämlich durchaus zarte kunst- und kulturgeschichtliche Bande zu Raum- und Formfragen an sich. So sind etwa die Form- und Arbeitsvorgaben für das schwebende Tuch oder die Bodenplatten die des Vorhanges oder des Teppichs. Oder sie entfaltet innerhalb des Systems Kunst für ihren fröhlichgelben Geländer-Slapstick entsprechend ihrem vorangegangenen Industriedesign-Studium eine spielerische „Stilsicherheit des Designs“, die sie jedoch andersrum in den Raum umleitet und in formale Thematiken einfügt. Während die Arbeit also sozusagen einerseits ein „Ameublement“ aus Kunstreferenzen und ästhetisch geöffneten Formen- und Materialsprachen darstellt, verweist Ende Gelände im größeren inhaltlichen Zusammenhang einer geographisch-territorialen Aufladung aber kräftig nach außen – nämlich auf Christel Kiesels Heimat, das Gebiet von Brandenburg, der Lausitz und damit ins Braunkohlerevier. Im Zentrum steht damit eine real devastierte Landschaft des Braunkohletagebaus und das insgesamt komplexe Thema des Niedergangs und des Verschwindens von Landschaften und Menschen sowie die ökonomischen, sozialen, ökologischen Folgewirkungen in diesem „Energieland“. Titel wie das oben genannte Stiebsdorf Blau beziehen sich genau auf dieses Gebiet. Und auf einer weiteren, theoretisch aufgearbeiteten Ebene, die Christel Kiesel als schriftliche theoretische Arbeit recht umfassend angelegt hat, werden hinsichtlich der weitreichenden Bezüge dieser Landschaft und ihrer Bewohner und Bewohnerinnen „alle diese Fässer aufgemacht“, sagt sie – von der glazialen Erdgeschichte bis zur heutigen Bergbaufolgelandschaft, vom Tagebau, den riesigen Ma­schinen, die selbst Landschaften gleichen, bis hin zur Zerstörung dieser Landschaft, von der Arbeit oder der sorbischen Identität ihrer Familie – bis hin zum Verschwinden und zum nunmehrigen Übergang in eine Sukzessionslandschaft. Einen wesentlichen Teil dieser theoretischen Arbeit bilden die Fotos, die Kiesel vor Ort in Brandenburg aufgenommen hat.

„Für jeden See, sprich für jedes geflutete Tagebaurestloch heute, stehen mehrere verschwundene Dörfer“ – so ein sinngemäßes Zitat aus Christel Kiesels Masterarbeit. Und Stiebsdorf Blau, also die leicht in der Raumluft wehende Stoffbahn mit ihrem Farbverlauf von Wasserblau ins Weiß, ist – in aller irritierenden Leichtigkeit und im mehrfachen Bezug – als Referenz auf ein solches, verschwundenes Dorf, auf eine verschwundene Landschaft und einen nunmehrigen See zu lesen. So verschwanden wegen des Braunkohleabbaus in ihrem Herkunftsland Südbrandenburg seit über 100 Jahren um die 140 Dörfer – mit der meist üblichen Vorgangsweise: Sprengung des Kirchturms, Verlegung des Friedhofes, Umsiedlung der Menschen – dann folgte der Braunkohleabbau im leergeräumten Gebiet. Auf die Industrie beziehen sich übrigens auch die schwefelgelb lackierten Stahlgeländer der künstlerischen Arbeit. Die realen Geländer organisieren im Gelände des Braunkohleabbaus die Raumwege, sie führen, halten auf, sind wie territoriale Bestandteile, die anleiten („I Follow“) – allerdings natürlich weniger diffizil und eigensinnig als in Kiesels Interpretation, denn Form und Material wird im Gebiet dann doch ganz klar dem gemeinsamen industriellen Zweck untergeordnet. In der Riesenanlage wälzen jedenfalls gigantische Bagger wie megalomanische Insektenmaschinen Tag für Tag die Landschaft um. Noch vier davon sind im Braunkohlerevier in Betrieb, trotz bereits mehrfach geplantem Braunkohleausstieg. Die Industrie hinterlässt hier immer noch – bis zum derzeit geplanten Braunkohleausstieg 2038 – in einem großangelegten, anmaßenden Experiment eine aufgerissene, dekonstruierte Landschaft sowie riesige, tiefe Löcher im Boden, die nach dem Abbau „geflutet werden, um sie zu sichern“. In der derzeitigen Bergbaufolgelandschaft bedeutet das dann zum Beispiel, dass diese gefluteten Löcher, alias Seen, dann mitunter giftig sind. Kein Insekt lebt dort. Denn je nach den geologischen Bestandteilen der seit Jahrtausenden gebildeten und nunmehrig in kürzester Zeit aufgerissenen Erdschichten mischen sich durch die Flutung verschiedene Bodenbestandteile und verschiedene chemische Prozesse setzen ein. Ganz generell gibt es in dieser Bergbaufolgelandschaft ganz verschiedene Prozesse – man weiß schlichtweg oft nicht, was passiert. Und so existieren diese Landschaften mitunter auch als Totalreservate oder andere Sukzessionsgebiete, jedenfalls aber Langzeitexperimente mit ungewissem Ausgang, immer mal anders. Christel Kiesel dazu: „Es gibt dabei kein Ziel: Die Sukzession beschreibt den Prozess, wie die Natur sich dieses Gebiet zurückholt. Es verändert sich jeden Tag. Man kann zuschauen. Es ist extrem. Da ist dann über Nacht eine neue Landzunge und plötzlich Lebensraum für 6.000 Kraniche, 20.000 Gänse. Oder der Wolf kommt zurück.“

Alles in allem habe die Arbeit an Ende Gelände ihren eigenen Bezug zum Herkunftsdorf verändert, sagt Kiesel, es geht etwa um ein Gefühl von Heimat und von Verlust. Das Gefühl von früher, dass man immer wegwollte, löst heute ein Gefühl von Erkenntnis ab, nämlich darüber, dass man jetzt versteht, was los ist – „und etwa vor dem See steht und dem See verzeiht“, so Kiesel. Interessant sind jedenfalls die vielen Ebenen dieser Arbeit – wie viele es tatsächlich sind, darüber gibt die schriftliche Arbeit Auskunft. Beziehungsweise: Dass im künstlerischen Teil von Ende Gelände diese realen Tatsachen nicht nur codiert wurden, sondern das Material mit Kontextualität und Eigenschaften aufgeladen wurde, lässt die Raumsituation quasi außersprachlich werden – was natürlich nochmals andere Wirkungen entfaltet. Eine ganz wesentliche Eigenschaft von Kunst. Und eine Arbeit ganz oben.

 

Christel Kiesel wird im Dezember bei EFES42, ein Verein für Skulptur in der Schubertstr. 42, ausstellen und dort die „Linzer Position“ repräsentieren.
www.efes42.at

Und der Rest ist für Sie
EFES42
Eröffnung Mi, 18. Dez, 19.00 Uhr
Öffnungszeiten: Do, 19. Dez., 18.00–20.00 Uhr und per tel. Anmeldung +43(0)650 73 88 464

Sttr – Muto – Wime

Verwirrt? Der Dude löst auf! Wenn in Oberösterreich eine Unternehmung MUTO heißt, liegt der Verdacht nahe, die Besitzerin/der Besitzer habe die ersten beiden Buchstaben des Vor- und Nachnamens hergenommen und das Ergebnis als Firmenwortlaut auf Werbeschilder und Visitkarten drucken lassen. Bei MUTO wären hier Muriel Tomandl oder Mustafa Tok zu vermuten. Die Lateiner jedoch schlagen die vom kleinen Stowasser gestählten Arme über dem Kopf zusammen und rufen „Lingua latina est“ – und so ist es auch. Muto bedeutet „verwandeln“ und ist auch gleich der philosophische Unterbau der experimentellen Küche von Michael Steininger und Werner Traxler. Um die Onomatologie hier abzuschliessen, müsste nach der oberösterreichischen Methodik und unter Rücksichtnahme zweier Gründer das Lokal STTR oder MIWE heissen. MUTO passt besser.

Der Slowdude hat ausführlich testgegessen und berichtet gerne über diesen – er nimmt sein Urteil gleich vorweg – wahren Schatz in der Linzer Gastronomieödnis. Wer hungrig ins MUTO geht, wird sicher satt und zufrieden sein. Aber das Mindset sollte ein anderes sein. Vielmehr sollte man explorativ gelaunt und zugleich richtig horny sein. Quasi ready for Foodporn. Lust auf Neues und Zeit für ein wahrhaftes Eintauchen in die phantastischen Geschmacksebenen der beiden klassen MUTOianer müssen die Gäste unbedingt mitbringen. Das Karussell an ungewohnten Texturen, sensorischen Verbindungen und mannigfaltigen Aggregatszuständen dreht sich schnell und ohne Kompromisse. Und da braucht der geneigte Gast zuweilen auch ein wenig Ruhephasen und Relaxation, die sich aber bestens mit formidablen Getränken und informativen Gesprächen füllen lassen.

Begonnen hat die kulinarische Reise des Slowdude ins MUTO-Land mit zwei Grüßen aus der Küche. Zum einen wurde ein selbstgemachter Frischkäse mit Kresse und Baguette gereicht. Zusätzlich gab es eine kleine Darreichung vom Fisch mit weißer Wasabi-Schokolade und Ingwer.

Der Frischkäse bleibt der einzige Kritikpunkt im gesamten Setting – da zwar in Konsistenz und Temperatur wunderbar – der Geschmack fiel aber etwas fahl aus. Bei der Kombination aus Wasabi, weißer Schokolade und Fisch nahm allerdings das Karussell richtig Fahrt auf. Und so ersann der Dude seine eigene Muto-Regel: Alles zusammen. Nicht wie bei Muttern fein essen, kauen und nicht schmatzen, sondern alles rein in die Backen und kräftig kauen. So entsteht erst die richtige Verbindung und man versteht den Koch plötzlich besser – und möchte sein bester Freund bzw. Freundin sein. Weiter ging es für den Dude mit einer Gartentomate, die derart liebevoll, aber mit Frankenstein-Skills, ihrer eigentlichen Konsistenz beraubt wurde, dass die Verwunderung groß und der Genuss noch größer war. Flankiert wurde die herrliche Zombietomate von jungem Knoblauch in zwei Zuständen und eine geräucherten Vinaigrette, die auch keine Wünsche offen ließ. Der Hauptakt wurde vom Wasserbüffel, der Melanzani, der Paprika und den Pilzen bestritten. Der perfekt zubereitete und angerichtete Wasserbüffel mutierte aber zu Beilage, da die Melanzai-Paprika-Pilz-Phalanx gnadenlos die Geschmackshoheit übernahm. Der „Strauch der Lände“ bildete den gelungenen Abschluss und rundete die vorigen Gänge raffiniert ab. Das mit japanischer Zierquitte und Zitronengeranie angerichtete Joghurt war noch der letzte Paukenschlag der MUTO-Symphonie. Das war aber keine Überraschung. Der Dude ist ein alter Kenner der Zitronengeranie und besonders der japanische Zierquitte. Und der sympathische Umstand, dass die Zutaten von der Linzer Donaulände kommen, machte das Desert noch spannender.

Bemerkt hat der Dude auch den Soundtrack in der MUTO-Stube. Anfangs etwas gewöhnungsbedürftig säuseln Leonard Cohen und Bob Dylan dahin und man fragt sich, ob die jungen Betreiber nicht generationsadäquates Material haben. Wenn die alten Herrn aber auch noch mit bekannten Nummern aus „Lock Stock and Two Smoking Barrels“ und „Pulp Fiction“ flankiert werden, kapiert man es: Die Musik hat man am Teller. Rhythmisiert und komponiert – mal laut mal leise, mal schnell, mal langsam, mal intensiv, mal leicht. So erklärt sich auch zum Schluss noch der Frischkäse. Genial!

Der Dude vermutet, dass die LeserInnen seine Begeisterung gespürt haben und verpflichtet diese zu einem baldigen Besuch. Das kann und darf man sich nicht entgehen lassen – der MUTO-Tempel ist ein echter Lichtblick in der kulinarisch sonst so gebeutelten Linzer Stadt. Der Dude ist ein MUTO-Fanboy.

 

Muto Altstadt 7 4020 Linz
restaurant@mutolinz.at
www.mutolinz.at
Reservierungen unter 0699/11089063

Time-Ache

Teresa Cos at bb15: Im November war die Künstlerin Teresa Cos im Rahmen des Artist-in-Residence-Programms im bb15 zu Gast und präsentierte ihr neues Projekt Tunnel Boring Machine. Beatrice Forchini schreibt über Teresa Cos und eine Arbeit, die sich zwischen Zeit und Zug bewegt.

Teresa Cos erforscht im Rahmen ihrer künstlerischen Praxis die Möglichkeiten, mit zeitbasierten Medien lineare Zeitabläufe zu stören und die von ihr untersuchten architektonischen, infrastrukturellen und sozialen Räume schichtweise zu lesen. In ihrer Arbeit werden intime Dimensionen und globale Phänomene, öffentliche Reden und innere Stimmen sowie persönliche Erinnerungen und transhistorische Reflexionen in Verbindung gebracht. Durch die Verwendung von Wiederholungen, Loops, Registern, Archiven, Diagrammen und Karten – als semi-analytische wie poetische Werkzeuge – verkörpert sich in ihrer Praxis eine Dynamik, in der Erschöpfung und Auflösung auf paradoxe Weise produktive Kräfte entfalten. Die Auflösung von Sound in einem sich wiederholenden Loop; die Erschöpfung in all den möglichen Wegen, die an ein Ende führen; das erratische Kartieren von physischen und mentalen Geographien – Prozesse wie diese eröffnen neue narrative Herangehensweisen im Werk von Teresa Cos.

Der Kritiker, Autor und Kulturtheoretiker Jan Verwoert reflektiert über Erschöpfung als Resultat des permanenten Drucks, performen zu müssen und betont im Hinblick darauf die Bedeutung des Latenten – die schlummernden, nicht zum Ausdruck gebrachten Möglichkeiten, die in Werken angelegt sind. Daran anknüpfend denkt er über unterschiedliche Wege nach, dieses latente Potenzial zu aktivieren und neue zeitliche Dimensionen in künstlerischen Arbeiten zu eröffnen.1 Als widerständiges Moment zu den Beschränkungen der ge­genwärtigen neoliberalen „Zeit ist Geld“-Wirtschaft sieht er „Arbeit, die in dieser Weise die Erinnerung an ihren eigenen Prozess einbezieht und so ihre eigenen temporalen Parameter konstituiert, sowohl innerhalb als auch außerhalb ihrer selbst.“ Und weiter: „Durch ihre immanente Zeitlichkeit steht diese Arbeit in einem strukturellen Konflikt jedweder reglementierten Vorstellung von Zeit. Sie stört die homogene Schrittgeschwindigkeit der High-Performance-Kultur durch ihren immanenten Rhythmus gedehnter, geraffter, verzögerter oder beschleunigter Zeit der Erinnerung, die im Prozess der Entstehung am Werk ist.“2

Die künstlerische Praxis von Teresa Cos verhandelt die temporalen Bedingungen der Kontexte, in die sie durch Umordnung, gegensätzliche Wirkungen und Problematisierung zu intervenieren versucht. Im bb15 in Linz präsentiert sie die Multi-Channel-Videoinstallation Tunnel Boring Machine (2019). Die Arbeit basiert auf einer ephemeren Videoperformance-Intervention, die sich zwischen Improvisation und loser Choreographie bewegt. Tunnel Boring Machine spielt in zwei Zügen und zeigt eine repetitive Handlung, die ein integraler Bestandteil der Reise der Künstlerin von Brüssel nach London am Wochenende der letzten Europawahlen wird. Das Stück entspringt den persönlichen Erfahrungen von Teresa Cos, die in den zwei Städten lebt und zwischen ihnen pendelt. Sowohl während der Hin- als auch der Rückfahrt geht sie die gesamte Länge des Zugs ab, während dieser den Eurotunnel passiert.

Mit einer an der Brust fixierten Action-Cam werden Single-Shots in beide Richtungen aufgenommen. Ihr Weg führt sie durch kühl beleuchtete Waggons, die Türen und den funktionalen Raum des Speisewagens, die Erste- und Zweite-Klasse-Abteile; währenddessen registriert sie die Gesichter von mitreisenden Personen, deren Gesten, die Screens ihrer Smartphones und Laptops sowie ein Register an banalen Aktivitäten, die sich durch Langeweile oder Zufall ergeben. Die anderen Personen im Zug werden zu unbewussten ZuschauerInnen und TeilnehmerInnen einer unangekündigten Performance. Während der Intervention wird jede Mikro-Szene, die sich während des Durchgangs entfaltet, doppelt mit einem Delay aufgenommen, das der Dauer entspricht, die man brauchen würde, um denselben Ort im Zug aus entgegengesetzter Richtung zu erreichen. Der Sound wurde mit einem Kontaktmikrofon von einem Zugfenster abgenommen und entsprechend dem geologischen Querschnitt samt den höchsten und tiefsten Punkten des Tunnels moduliert. Umliegende Smartphones verursachen die Störgeräusche auf der Aufnahme und signalisieren einen Overload an Kommunikation und Interaktion.

Tunnel Boring Machine dreht sich um die minutiöse Berechnung der verschiedenen Zeitebenen, die in den verschiedenen Situationen im Spiel sind und aus denen sich die beinahe unmerkliche Partitur der Arbeit ergibt: die „Tunnel-Zeit“ oder „Un­ter­wasser-Zeit“; das Schritttempo der Künstlerin; die Zeit, die sich in den Gesten der mitreisenden Personen materialisiert; die Lücke zwischen dem ersten und dem zweiten Durchgang der Kamera von derselben Stelle aus; die verringerte Geschwindigkeit des Videos; die Rückwärtsbewegung, die verschiedenen Zeitzonen, die der Zug überquert. Durch die scheinbar lineare und nackte visuelle Sprache verdichtet Tunnel Boring Machine die befremdliche, beinahe starre Atmosphäre in der die mitreisenden Personen versunken sind und macht sie für die BetrachterInnen spürbar. Der Zug als Nicht-Ort, als Raum der Anonymität und Monotonie, erscheint durchdrungen von diffusen Gefühlen der Erschöpfung, Passivität oder Langeweile; wirkt wie ein Register an Symptomen des weitverbreiteten time-ache3 (dt. „Zeit-Schmerz“).

Die bildliche Umkehrung der Gefühle von Erschöpfung und Starre ist in der Arbeit Eight Chapters in Four Movements (2015) realisiert, eine zeitbasierte Video-Performance, in der die Zuseher*innen mit dem Strom der Menschenmasse konfrontiert sind, die während der morgendlichen Rush­hour die London Bridge überquert. Hier wird Cos zu einem disruptiven Element in der Menschenmasse, indem sie in deren eingespielte Routine und apathische Gleichförmigkeit eingreift. Die Handlung beginnt zunächst mit der mimetischen Immersion der Künstlerin in die Menschenmasse und steigert sich, indem ihr Gang durch die Menge immer mehr zum Störelement wird; ein Körper wird, der den regulären Fluss der Masse verhindert. Das Gefühl der Erschöpfung tritt dabei in den unzähligen Gesten und Eigenarten einer alltäglichen Szene zutage, die Teresa Cos mit Lefebvres Text Rhythmanalysis erforscht. Der in ein Register an Schlüsselbegriffen fragmentierte und zergliederte Text wird für eine Spoken-Word-Performance verwendet, die synchron mit den bewegten Bildern sowie im Einklang mit den Schritten der gehenden Masse rezitiert wird.
Die individuellen Erschöpfungssymptome dieser Ökonomie der Zeit werden vis-à-vis zu den Anzeichen eines allgemeinen Zu­sammenbruchs in größerem Ausmaß gestellt, Anzeichen, welche durch die verschiedenen Schauplätze, Kanäle, Zwi­schen­räume und Strukturen unseres Lebens ersichtlich werden. Mit diesen Gegenüberstellungen auf Mikro- und Makroebene erfasst Teresa Cos die Potenziale der Erschöpfung als neue Wege zur Auseinandersetzung mit der chronopolitischen Dimension der Welten, die sie bewohnt, beobachtet und konstruiert.

 

1 Jan Verwoert, Exhaustion & Exuberance. Ways to Defy the Pressure to Perform, 2008, in Facing Value, Lauwaert, Van Westrenen, Valiz / Stroom, Den Haag, 2016, S. 143–164
2 Ebd., S. 151
3 Sven Lütticken, Autonomous Symptoms in a Collapsing Economy of Time, in Keine Zeit/Busy, 21er Haus, Wien, Hg. Husslein-Arco, Agnes und Steinbrügge, Bettina, Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln, 2012

Die Residency von Teresa Cos fand vom 17. – 28. November im bb15 statt. Im Rahmen der Residency gab es eine Ausstellung und eine Performance zu sehen. Mehr zu Teresa Cos: www.teresacos.co

 

Hosted by bb15

Seit 2009 organisiert bb15 ein professionelles Ausstellungsprogramm mit bis dato mehr als 120 öffentlichen Veranstaltungen. Auf rund 100m2 Ausstellungsfläche finden in monatlichem Rhythmus Ausstellungen, Performances und Screenings statt. Darüber hinaus werden die Räumlichkeiten von den bb15 Mitgliedern als Atelier und Produktionsort genutzt. Internationale Kooperationen mit ähnlichen Institutionen sowie ein jährlicher Open Call spielen eine zentrale Rolle bei diesen Aktivitäten. Als Arbeits- bzw. Nutzungskonzept bemühen wir die Idee eines „artist run space“ – wobei wir diesen Terminus im weitesten Sinne als Label benutzen, um uns in einem Netzwerk ähnlicher Institutionen im In- und Ausland zu positionieren.

bb15 versucht ein Möglichkeitsraum für lokale und insbesondere internationale Künstler*innen zu sein und bietet deshalb auch Residencies an. Die Rolle der eingeladenen Künst­le­r*innen besteht nicht nur in der Produktion von Kunst, sondern auch in der aktiven Reflexion der künstlerischen Positionierung von bb15. Das Hauptaugenmerk wird auf eigenständige und experimentelle Ansätzen im Bereich der Klangkunst und der Schaffung neuer ortsspezifischer Arbeiten gelegt. Installationsbasierte, skulpturale, multimediale oder performative Im­plementierungen sind willkommen. Das kuratorische Team, das aus dem bb15-Vorstand besteht, arbeitet eng mit den Künstler*innen zusammen. In intensivem Austausch werden Arbeiten ausgewählt, Ausstellungskonzepte entwickelt und die Präsentation in den Ausstellungsräumlichkeiten umgesetzt.

bb15.at


A time-ache

Teresa Cos at bb15: In November the artist Teresa Cos was a guest at bb15 as part of the Artist-in-Residence programme and presented her new project Tunnel Boring Machine. Beatrice Forchini writes about Teresa Cos and a work that moves between time and time ache.

As part of her practice artist Teresa Cos explores the potentialities of time-based media to undo linear temporalities and stratify the reading of the architectural, infrastructural and social spaces she investigates. In her work she holds together intimate dimensions and phenomena of global scale, public speeches and inner voices, personal memories and trans-historical reflections. Through the means of repetition, the loop, the index, the archive, diagrams and maps–used as semi-analytical and as poetic tools–her practice incorporates a drive towards exhaustion and dissipation as paradoxically productive forces. The dissipation of a sound repeated in a loop; the exhaustion of all the possible streets that lead to an end; the erratic mapping of physical and mental geographies – through these processes the work opens up new narrative potentialities.

Reflecting on exhaustion as a consequence of a constant pressure to perform, the author, theorist and critic Jan Verwoert speaks about the importance of latency in the work – as a potentiality that remains untold, unexpressed – and about ways of activating this latency and opening up new temporal dimensions in the work1. As a drive to defy the constraints of the current neoliberal temporal economy, the work that ‘incorporates the memory of its own process in this way constitutes its own parameters of time both in- and outside of itself. […] Through its immanent temporality such work is structurally at odds with any regimented notion of time. It interrupts the homogeneous pace of high performance culture through the immanent rhythm of expanded and compressed, delayed and accelerated time of the memory at work in the process of its making’2.

The practice of Teresa Cos negotiates the temporal conditions of the contexts in which it intervenes and that she attempts to reprogram, counter-influence and problematize. At bb15 in Linz Cos presents a multi-channel video installation, Tunnel Boring Machine (2019). The work is based on an ephemeral video-performance intervention, halfway between the improvised and the loosely choreographed. Tunnel Boring Machine is a piece that takes place aboard two trains. It consists of a repeated action that becomes part and parcel of the artist’s return trip from Brussels to London on the weekend of the last European elections. The piece stems from Cos’s experience of the commute between the cities where she lives. In both journeys Cos walks the entire length of the train during the train’s passage under the Euro Tunnel.

She walks end to end and back, holding an action camera fixed to her chest, and filming each path as a single shot in both directions. She walks through the cold-lit aisles of the carriages, the doors and the functional spaces of the restaurant area, the first and the second class; she registers passengers’ faces, their gestures, the screens of their phones and laptops, and a whole index of banal activities that come out of boredom or chance. The passengers turn into unaware spectators and participants of a non-declared performance. During the peripatetic intervention each micro-scene that unfolds at her passage is captured twice with a delay–the time required in order to walk back to the same spot again, in the opposite direction. Sound is recorded with a contact microphone applied to the window of her seat, and then modulated according to the geological cross-section of the tunnel, with its peaks and its lowest points. The recording is disturbed by the interferences of the mobile phones, signaling an overload of communications and interactions.

Tunnel Boring Machine revolves around a meticulous calculation of the different temporalities at play in the situation and serves to write the almost imperceptible score of the piece: the ‘Tunnel-time’ or ‘underwater-time’; the pace of the artist’s walk; the time that materializes in the gestures of the passengers; the gap between the first and the second passage of the camera on the same spot; the reduced speed of the video; the reverse motion; the time of two different time-zones that the train crosses. Through its apparently linear and naked visual language, Tunnel Boring Machine thickens and makes palpable the almost numb and alienated atmosphere in which the train’s passengers are all immersed. The train as a non-place, a place of anonymity and monotony, feels like an environment with a diffuse sense of fatigue and passivity, or boredom, an index of symptoms of a widespread time-ache3.

The flipped image of this sense of numbness and fatigue is to be found in the work Eight Chapters in Four Movements (2015), a durational video-performance where the viewer is confronted with the flow of the crowd crossing London Bridge during the morning rush hour. In this work Cos becomes a disruptive character in the crowd, altering its normalized routine and apathetic sameness. The action starts as a mimetic immersion in the crowd and climaxes to the point that the artist’s walk becomes an element of disturbance, a body that obstructs the regular pace of the people. Here the feeling of fatigue reappears in the myriad of gestures and tics of an everyday scene that Cos investigates through the words of Lefebvre’s Rhythmanalysis. The text, fragmented, dissected and made into an index of key-terms, is used for a spoken-word performance, recited in sync with the images in motion and tuned-in with the steps of the walking mass.

The individual symptoms of exhaustion in this economy of time are used vis-à-vis the symptoms of a general collapse happening on a bigger scale, symptoms that become visible in different locales, channels, interstices and structures of our living. In generating this confrontation – this feedback loop between the micro and the macro scale – Teresa Cos’s work embraces the potential of exhaustion as a way of imagining new possibilities of coping with the chronopolitical dimension of the worlds that she inhabits, observes and constructs.

Hosted by bb15

Since 2009, bb15 has organized a professional exhibition program of over 120 public events to date. Exhibitions, performances, and screenings take place every month in around 100m2 of exhibition space. Alongside these activities, the premises are used by the bb15 members as a studio and production site. International co-operations with similar institutions as well as an annual open call play a central role. As a working and usage concept, we strive for the idea of an ‘artist-run space’ in the broadest sense, positioning ourselves within a network of similar institutions at home and abroad.

bb15 tries to be a space of opportunity for local and especially international artists and therefore also offers residencies. The role of the invited artists consists not only in the production of art but also in the active reflection of the artistic positioning of bb15, which focuses on independent and experimental approaches in the field of sound art and the creation of new site-specific works. Installation-based, sculptural, multimedia or performative implementations are welcome. The curatorial team of bb15 works closely with the artists. In an intensive exchange, works are selected, exhibition concepts developed and the presentations implemented in the exhibition spaces.

The artist Teresa Cos was a guest at bb15 in November 2019 as part of the Artist in Residence program and presented her new project Tunnel Boring Machine.

bb-15.at

1 Jan Verwoert, Exhaustion & Exuberance. Ways to Defy the Pressure to Perform, 2008, in Facing Value, Lauwaert, Van Westrenen, Valiz / Stroom, Den Haag, 2016, p. 143-164

2 Ibid., p. 151

3 Sven Lütticken, Autonomous Symptoms in a Collapsing Economy of Time, in Keine Zeit/Busy, 21er Haus, Vienna, eds. Husselin-Arco, Agnes and Steinbrügge, Bettina, Verlag der Buchhandlung Walther König, Cologne, 2012

Stay in bed, bitch!

Müde Zeiten. Zeiten der Verwirrung. Zeiten des Aufbruchs und Übergangs. Zeiten, in denen die Wunderbaren in meiner Umgebung aus Über­zeugung (und der Müdigkeit zum eleganten Trotz) betont aufrecht gehen. Müde aber sind wir doch und alle wissen: es ist zu heiß, zu verrückt, zu unlogisch hier und wir können im Grunde gar nichts (mehr) tun. Die Radikalen haben die Welt seit Jahrzehnten fest im Griff und täuschen Normalität vor. Genug Idioten, die seit Jahrzehnten darauf hereinfallen und sich die Welt schönkaufen. Natürlich alles bio, re-usable, Fair Trade oder wenigstens geschickt greenwashed. Ich mein – würde dieser Schauspieler, der in Filmen wie Syriana spielt, sonst für ein Produkt Werbung machen, das ökologisch und politisch völlig unverträglich ist? Na, sehen Sie.

Normalität ist die wahre Brutalität ist die wahre Radikalität und daran leidet die Welt. Noch bevor manche wissen, wie man Postkolonialismus buchstabiert, setzt schon der Neokolonialismus ein – in Form von Müllbergen aus Plastik und Aluminiumkaffeekapseln, der First-World-Dreck, der sich an den Stränden ehemaliger, doch so preiswerter Urlaubsparadiese breitmacht. Die Meere aber vergessen nichts. Was ins Meer geht, kommt zurück und durchdringt unsere Körper – ob als Nahrung, als Regen, als Erinnerung oder als Geister, die uns jagen. Hoffentlich. Denn was wären wir noch, was würde uns Europäer*innen künftig ausmachen, würden selbst die Seelen jener Menschen auf uns vergessen, die wir im Stich gelassen haben – in den Meeren vor unseren Lieblingsstränden. Sie definieren uns ab nun und werden von jenem Europa berichten, das nicht eingegriffen hat, das keine Kriege verhindert hat, das aus Menschenrechten eine Survival-of-the-Fittest-Show gemacht hat. Eine Erzählung, die nicht mehr schöngekauft werden kann. Ein Europa, das die Chuzpe hat, sich gleichzeitig über die Gefahren des Islamismus zu echauffieren und nichts unternimmt, um zu verhindern, dass kurdische Soldatinnen in Syrien oder gegen den compulsory Hidjab demonstrierende Frauen im Iran ermordet, vergewaltigt oder zu jahrzehntelangen Haftstrafen verurteilt werden; ein Europa, das sich verängstigt zeigt gegenüber jungen geflüchteten Männern; das gleichzeitig aber nichts unternimmt, um Frauen und Kinder aus Flüchtlingslagern zu retten. Ein solches Europa sollte ohnehin das Recht verlieren, von Humanismus und Aufklärung als identitätsbildend zu sprechen. Von Normalität ganz zu schweigen. Hieran ist nichts normal. Normal wäre das Gegenteil, aber das wird als radikal beschrieben. Und so – wie man dem Schauspieler abnimmt, dass an Nespresso-Kapseln alles völlig normal sei – ich mein, der Mann ist schließlich mit der Menschenrechtsjuristin Amal Clooney verheiratet – hat sich das Narrativ der guten Normalität vs. die böse Radikalität in all unsere Geschichten eingeschlichen. Und bleibt unwidersprochen.

Eine Erzählung, in der schon lange nichts mehr gut ausgeht, sondern alles nur noch mit Happy End versehen wird. Ein Happy End, das nichts macht, außer Sehnsucht auszulösen nach dem, was man nicht ist und nicht hat. Das sich darin ergeht, die Unnormalen, Nicht-Dazugehörigen, Zornigen, Empfindsamen, Mehrdeutigen … in Zustände der Sehnsucht zu versetzen nach dem Angepassten, Eindeutigen, Konsumierbaren, Her­zeigbaren. Die braven Asylwerber, die fleißigen, gut ausgebildeten Migrant*innen, die zufriedenen, dankbaren Frauen, die unsichtbaren Behinderten, die weit weg verräumten Alten. Alle sollen sich einpassen und anpassen können und wollen, und wer das nicht schafft, aber zumindest viele ist, dessen Andersartigkeit wird kurzerhand zum Hype, ihre Träger*innen zur kaufkräftigen Zielgruppe oder zur Gruppe der willigen Billiglohnarbeiter & Lehrlinge. Ein jeder, ei­ne jede hier ist in dieser Erzählung von Nutzen, kann entweder kaufen oder gekauft werden oder sich wenigstens danach sehnen, eines von beiden zu sein und zu wollen. Treten Sie unbesorgt näher, im Kapitalismus ist für alle Platz! Wo sind die Märchen und die Erzählungen, die kein Happy End hatten, aber voller Figuren waren, die anders, unbrauchbar, stark und selbstbewusst waren? An deren Ende niemand happy war, weil es nie darum ging. Und niemals war da jemand eindeutig Heldin/Held oder Schurkin/Schurke. Deren Ende uns verwirrt zurück ließ und nachdenklich – aber eben: nachdenklich. Kleine Hoffnungsschimmer ausgenommen, haben wir uns alle ziemlich einlullen lassen. Selbst dieses bewusste Aufrechtgehen bei gleichzeitig unpackbarer Müdigkeit ist Teil dieser normierenden Erzählung der toughen Frau, die sich eh wehren kann, die eh so lange bis wirklich gar nichts mehr geht, durchhält.

Wir kommen alle ein bisschen lausig und als Feministinnen noch viel zu wenig radikal weg in dieser Geschichte, die mehr auslässt als sie erzählt. Was neugierig macht und möglicherweise Lücken ließe, um einzugreifen – aber ernsthaft – sollen wir dafür auch noch Kraft aufbringen müssen? Vielleicht sollten wir alle doch eher einmal unbrauchbar, unproduktiv, unbezifferbar werden, in einem Sinn, der sich nicht einmal mehr als Streik bezeichnen lässt. Wie das genau aussehen könnte – keine Ahnung, aber: lasst mal eine Weile alles liegen. You better stay in bed, bitch!

Schöne Illu, aber die Beinhaare müssen weg!

Soziales Design als illustrierter Aktivismus: Silke Müllers ausdrucksstarke Plakate verschönern die graue Fadesse von Linz – speziell die alljährlichen zu Feminismus & Krawall. Rollenklischees haben ausgedient, ebenso Beschränkungen im Stil. Christian Wellmann versucht dem Namen Silke Müller ein Bild in Worten zu geben.

Auf keinen einheitlichen Stil festgelegt, illustriert Silke Müller am liebsten zu gesellschaftspolitischen Themen, Frauenrechten und Ökologie. Sozial engagiert und mit Charme. Bevorzugt werden äußerst lebendige Menschen (starke Frauen!), Pflanzen und Tiere entworfen – für Poster, Zeitungen und Magazine (Augustin, Das Magazin/Berlin, Datum etc.). Vieles mit Ausziehtusche und Pinsel, in dicken, schwarzen Konturen, manchmal auch digital – die Arbeitsweise ist einem stetigen Wandel unterzogen. Zudem Arbeiten u. a. für die Stadt Linz, Time’s Up, Nordico, Kulturquartier OÖ, pro mente – sowie Ausstellungen, wie zur Frankfurter Buchmesse (100 Frauen, 2018, das Buch erschien bei Jacoby & Stuart) oder Artist-in-Residence-Aufenthalte (Klaipeda/Litauen). Wer in Linz (und anderswo) auf Plakate achtet, auch diesen Menschenschlag soll es noch geben, sollte die Augen bereits des Öfteren auf ihren wirkungsvollen Sujets ausgerastet haben.
Homebase ist das Atelier im HolzHaus, in der namensspendenden Holzstraße in Linz. Diese Ateliergemeinschaft, mit sechs geteilten Ateliers und derzeit 11 KünstlerInnen, nimmt dort ein ganzes Stockwerk ein. Im Hof werden Mülltonnen des gegenüberliegenden Schlachthofs ausgespült, aber wo Elend, da auch Jauchzen im HolzHaus: Zwetschgen können direkt vom Küchenfenster gepflückt werden. Der Offspace ist zugleich Kulturverein, mit einem Projektraum, offen für externe Ausstellungen oder Konzerte. Neben Epileptic Media waren dort in letzter Zeit Ausstellungen von Franziska Wiener oder eine Präsentation von sechs Skizzenbüchern (An einem Sommer im August), an der die HolzHaus-Obfrau Müller beteiligt war, zu sehen. Aktuell gibt’s die Dezember-Ausstellung – Hey, schau vorbei! – Infos siehe unten. Sie genießt es, in so einem Haus ihren Zeichentisch zu beackern, wo ein Einverständnis von Menschen vorhanden ist, die sagen: „Ich will von dem leben, was ich mir ausdenken kann.“ Das Atelier teilt sie sich mit der Kostüm- und Bühnenbildnerin Leonie Reese. Mit ihr pflegt sie das Trash-„Fetisch“-Hobby „Elsa im Holzhaus“: Bei geschenkten Möbeln war u. a. ein Holzschaukelpferd dabei, die Elsa – daraus begann ein Sammeln von Pferdedeko, eher Kitschpferdesachen vom Flohmarkt (check Tumblr-Seite, s. u.).

Von der Ostsee in die Donau
Müller kommt von Rügen, der Ostseeinsel, einem Dorf mit 29 EinwohnerInnen, und beschreibt ihre ersten Schritte dort wie folgt: „Ich habe großes Glück gehabt, unsere Nachbarin war Grafikerin, die hat viel Tiefdruck und Radierungen gemacht. Bei ihr durfte ich zwei Tage die Woche sein, statt im Kindergarten. Ich hab ganz viel von ihr gelernt, da hab ich quasi angefangen zu zeichnen. Die hat vorgelebt, dass man vom Zeichnen leben kann.“ Sie hat dann Mediengestalterin in einer kleinen Agentur auf Rügen gelernt, die Tourismuswerbung gemacht hat und sie auch illustrieren ließ, danach folgte ein Kommunikationsdesign-Studium in Wismar. „Ende des Sommers 2009 bin ich nach Linz, alles war toll, wie das Gelbe Haus, die vielen Ausstellungen. Irgendwie alles so charmant und schön, ich bin dann relativ schnell beim Strom gelandet, und dann dachte ich, hier kann ich auch wohnen.“ Über ein EU-Projekt, Leonardo, kam sie zu Radio FRO. Auch jetzt macht sie noch Sendungen, selten und meistens mit Petra Moser, wie 2019 für das Ottensheim-Festival. „Anfangs hab ich für den Kultur- und Bildungskanal Beiträge gemacht, viele Porträts, dann auch Grafik, Plakate. So bin ich auch in der Stadtwerkstatt bekannt geworden: ‚Ah, die kann ja auch ein Plakat machen‘ …“

Illustrierter Aktivismus
Etwas, mit dem ihre Arbeit gut beschrieben werden kann, ist Social Design, das Gestalten für NGOs oder politische Anliegen, nun ein neuer Studienlehrgang an der Angewandten Wien. „Ich habe bei FRO gemerkt, es liegt mir selber am Herzen, dass Illustrationen einen sozialpolitischen Antrieb haben können und es nutzt, ein Anliegen zu vertreten. Bei mir ist das ein großer Motivator, wie ich mitbeeinflussen kann, wie Menschen auf etwas blicken. Wie sind Frauen abgebildet, wie werden Familien dargestellt. Es ist wichtig, Sachen anders abzubilden, jenseits von Rollenklischees. Körperformen in der Bandbreite, wie es uns gibt, darzustellen. Ich find es ganz schlimm, wenn Illustrationen Frauenbilder immer reproduzieren, wie im Großteil der Frauenzeitschriften. Wie Erwartungen an Frauen aussehen, ob Frauen kurze oder lange Haare haben, Beinhaare oder nicht. Das ist ein Klassiker, dass die KundInnen sagen: „Schöne Illu, aber die Beinhaare müssen weg!“ Das kann auch von Menschen kommen, von denen man das nicht erwartet … dieses in konservativen Bildvorstellungen festhängen.“ Als Illustratorin kann sie das mitbestimmen. Dies zu nutzen, ist ihr ausgesprochen wichtig. Sie arbeitet für niemanden, wo sie nicht mitträgt, was diejenigen machen.

Der Kampf geht weiter!
Den Frauentag hat Müller in Linz als großes Lerngeschenk erfahren: „Ich bin in der DDR sozialisiert, da war Frauentag, dass Frauen eine Blume bekommen. Es hieß: wir feiern die Frauen, weil sie genauso starke und ‚nützliche‘ ArbeiterInnen sind, wie alle anderen Personen auch. Beim Mauerfall war ich noch Jungpionierin, bevor ich das rote Halstuch bekommen hätte, fiel die Mauer. Ich bin dankbar, dass es keine Mauer mehr gibt, und ich nicht in diesem System aufwachsen und in diesem Gehorsam mein Leben verbringen musste. In Linz habe ich auch kennengelernt: das ist auch ein Frauenkampftag, wo man sichtbar macht, dass ein Kampf für Frauenrechte stattgefunden hat und immer noch stattfindet. Ich habe Feminismus & Krawall jetzt seit sieben Jahren begleitet, und die Plakate dafür gemacht. Ich will Plakate gestalten, wo es nicht um einen lieben Feiertag geht, sondern darum, sich für etwas stark zu machen. Und es darum geht, starke Frauen abzubilden oder ein politisches Plakat zu machen … Wo klar wird: das ist ein gesellschaftspolitisches Anliegen, wir machen jetzt nicht nur ein Konzert und eine Party. Für mich war es ein totales Geschenk, die machen zu dürfen.“

Nein zum Ein-Stil
Ihre Vorlieben sind zwei-, dreifarbige Arbeiten – bunt sind sie nie. Eine dunkle Kontur ist fast immer da, ganz selten nicht. Es gibt drei, vier unterschiedliche Arbeitsweisen, die sich immer wiederholen, aber auch zum Nachteil für Kommerzialität geraten können. „Bei Illustrationen sagt man oft: wegen ihrem Stil gebucht, deswegen versuchen die meisten Menschen, die in diesem Bereich arbeiten, dass die Illustrationen immer gleich aussehen. Mich langweilt das.“ Zurzeit macht es ihr auch unheimlich viel Spaß mit dem Grafiktablett zu zeichnen. „Sowas wie die Zufälligkeit von Wasserfarben lässt sich aber digital nicht generieren – oder der Dreck auf den Zeichnungen, wie vom Kohlepapier. Ich möchte mich nicht beschränken, daher habe ich so viele unterschiedliche Arbeitsweisen, die sich im Laufe der Zeit verändern.“
Mit dem Autor (und Vokalisten) Stephan Roiss reichte sie bei der Akademie Graz eine Arbeit für einen Graphic-Novel-Wettbewerb ein, die prämiert wurde. Es entstanden die zwei Zines Bergen und Hafen (Anm.: als Trilogie geplant. Lieber Stephan, falls du das hier zufällig lesen solltest: Vollende doch bitte!). Verpackt in szenische Lesungen, die von Manuel Stadler musikalisch begleitet wurden – dazu ließ sie die Webkamera hubschraubergleich über die gezeichneten Berge fliegen. Zu einer solchen Lesung kam Tim Boykett von Time’s Up, der sie danach einlud, auch mal für sie zu zeichnen. Daraus wuchs eine langjährige Zusammenarbeit, das erste Mal für Mind the Map, wo Müller ein Tagebuch zum Thema Migration illustrierte, das sich mit Praktiken der europäischen Asylpolitik, insbesondere mit den Flüchtlingsbewegungen im Mit­telmeer, auseinandersetzte.
Danach gestaltete sie bei der Turnton-Ausstellung im Lentos die Medusa Bar sowie kraftvolle einseitige Illus für das 20-Jahre-Jubiläumsbuch von Time’s Up (Lückenhaft & Kryptisch, 2018). Drei davon sind auch als Risoprints erhältlich – ein erster Test mit der (sehr individuellen und haptischen) Risotechnik.
Mit der deutschen Kinderbuchillustratorin Tine Schulz verbindet sie eine langjährige Freundschaft. Der Austausch hält an, sei es durch Projekte (wie die oben erwähnten Skizzenbücher), oder durch die unterschiedlichen Bereiche, in denen die beiden illustrieren. „Ihre Sachen sind lustig. Die meisten Sachen, die ich mache, sind überhaupt nicht lustig, vielleicht ganz selten. Ich arbeite für ganz viele Menschen, wo die Themen eigentlich nicht lustig sind“, so Müller. Auch Comics macht sie sehr gerne – oft nebenbei, von Beobachtungen.
Aktuell ist Silke Müller bei einer Ausstellung in Graz (Arm in Österreich) beteiligt, mit Zeichnungen für Katalog und Reader, sowie mit Figuren in der Ausstellung. Zum 20-Jahre-Stadtmuseum-Leonding-Jubiläum machte sie aus einer 2D-Zeichnung ein 3D-Objekt: den Turm gibt es ganz frisch als goldenen Pin – erhältlich im Stadtmuseum.
Jedes Jahr erscheint ein Wandkalender zu einem bestimmten Thema, wie 2018 über zivilcouragiertes Handeln. Nun gibt es ihn in einer Neuauflage, da er ihr so wichtig ist, dass sie ihn noch einmal machte. „Gerade bei sexuellen Belästigungen oder rassistischen Übergriffen, wenn man so etwas beobachtet oder wenn das einem selber passiert … Da weiß man oft überhaupt nicht, was man machen soll und ist so hilflos, und im Nachhinein fällt einem dann ein, was man hätte machen können. Der Kalender ist als Leitfaden zu sehen, wie man reagieren oder einschreiten kann. Oder der Kontakt zur Person, die angegriffen wird … dass man nicht mit dem Angreifenden spricht, sondern sich mit der Person solidarisiert, die belästigt wird. Auf die Monate verteilt, gibt es immer eine Illu, und dann ist beschrieben, wie man jetzt sprechen oder unterstützen kann.“ Zu bestellen ist der Kalender in ihrem Webshop oder direkt im HolzHaus abzuholen.

 

www.silkemueller.net
www.instagram.com/silke.mueller.illustration
elsa-im-holzhaus.tumblr.com
www.dasholzhaus.at
www.museum-joanneum.at/museum-fuer-geschichte/ausstellungen/ausstellungen/events/event/8774/arm-in-oesterreich-1

 

HolzHaus-Dezember-Ausstellung:
noch bis 11. Dezember 2019
Eine Ausstellung mit allen, die aktuell im Holzhaus arbeiten: Ahoo Maher, Julia Hinterberger, Yara Lettenbichler, Silke Müller, Leonie Reese, Franziska Wiener, Katharina Grafinger, Melanie Moser, Maxi Kumpf

Dem gesellschaftlichen Verkehr mit Künstlern entrückt

Die Referentin bringt seit mehreren Heften eine Serie von Porträts über frühe Anarchist_innen – und den Anarchismus als eine der ersten sozialen Bewegungen überhaupt. Andreas Gautsch schreibt in dieser Ausgabe über Agathe Löwe, die Grafikerin der Revolution!

Im letzten Porträt über Karl F. Kocmata wurden die Zeitschriften Ver! und Revolution! erwähnt. Eine der Künstler_innen, die dort laufend ihre Grafiken publizierten, war Agathe Löwe. Als Künstlerin vergessen, als Kunsthandwerkerin anonym geblieben und selbst in der anarchistischen Bewegung ist sie eine der vielen Unbekannten, obwohl sie anregende Spuren hinterlassen hat.

Agathe Löwes Grafiken in Ver! und in der Revolution!
Die erste Veröffentlichung von Agathe Löwe in der Zeitschrift Ver! ist eine Zeichnung vom Dichter Arno Holz und erscheint im August 1918. Zwei Monate später wird auf einer Doppelseite ein Linolschnitt abgedruckt, der das erdrückende Elend in der Großstadt thematisiert. Hinter einem großen Torbogen sitzt eine Frau neben einem weiteren Durchgang, eingehüllt am Boden. Als wären die vielen Türen und Wege, die auf dem Bild zu finden sind, nicht für sie gebaut. Der Schnitt zeigt die Situation vieler Menschen in Wien nach dem Krieg, geplagt von Hunger, Wohnungsnot und Krankheiten.
Agathe Löwe war eine der vielen jungen Künstler_innen die, wie der Herausgeber Karl Kocmata, der Schriftsteller Fritz Karpfen und der Maler Michael Zwölfboth, den Kreis der Freien Künstlervereinigung Ver! bildeten. Wie alle Zirkel hatten auch sie ihr Stammkaffeehaus, das Ringcafé am Stubenring 18. Sie waren jung, modern, radikal, expressionistisch und verkörperten die Zukunft ihrer Zeit. Sie verabscheuten Patriotismus und Nationalismus, Militarismus und Krieg.
In der von Kocmata im Feber 1919 gegründeten Revolution! erscheint nach dem Peter-Altenberg-Linolschnitt im Heft 3 eine Grafik voll revolutionärem Pathos – eine wehende schwarze Fahne vor einer weißen Sonne mit spitzen schwarzen Strahlen. Hier zieht die Freiheit in eine strahlende Zukunft. Veröffentlicht wurde das Bild im März 1919, in einer Zeit, als die Russische Revolution für viele noch eine Hoffnung war, und es an unzähligen Orten Europas brodelte und gärte. In Österreich versuchten verschiedene linke Gruppen wie die Rote Garde und die frisch gegründete Kommunistische Partei die Revolution voranzutreiben. Auf dem am 1. Mai 1919 erstmalig erscheinenden, von Ignaz Holz-Reyther herausgegebenen Blatt Anarchist findet sich unter dem Leitartikel Freiheit, die wir meinen. ebenfalls ein Linolschnitt von Löwe mit dem Titel Die mühselig und beladen sind. Zu sehen ist ein Heer an einem Kreuz schleppenden, gebückten, weißen Silhouetten.
Bis ins Jahr 1921 lassen sich Grafiken von Agathe Löwe in verschiedenen Publikationen der jungen Avantgarde finden: zum Beispiel in der anarchistischen Zeitschrift Freie Jugend von Ernst Friedrich, der mit seinem Buch Krieg dem Kriege und dem ersten Antikriegsmuseum internationale Bekanntheit erlangte, oder in Irma Singers jüdischem Märchenbuch Das verschlossene Buch, in dem Löwe vier Textbilder gestaltete. Auch einige Titelzeichnungen von Büchern aus dem Ver! Verlag, wie beim Literarische Verbrecher-Album von Fritz Karpfen und dem Gedichtband Einsamer Wald von Kocmata, stammen von ihr. Eine kurze Erwähnung findet sich auch in dem Artikel Die Unabhängigen über eine Ausstellung im Haus der jungen Künstlerschaft.
Doch wer war Agathe Löwe? Was ist über sie heute noch zu erfahren?

Was können wir über Agathe Löwe wissen?
Sie war die Tochter des jüdischen Lederfabrikanten Moritz Löwy und seiner Frau Regine und hatte vier Geschwister. Geboren wurde sie im August 1888 in Hinterbrühl bei Mödling, ab 1907/08 besuchte sie die Kunstschule für Frauen und Mädchen. Für Mädchen aus bürgerlichem Haus war dies kein ungewöhnlicher Werdegang. Die 1897 gegründete private Kunstschule war in diesen Kreisen beliebt, hatte sie doch das Ziel, „dem weiblichen Geschlechte, so weit es Begabung und Fleiss erweist, auch auf dem Gebiete künstlerischer Betätigung eine uneingeschränkte Entwicklung ermöglicht werden soll.“ (Plakolm-Forsthuber, 1994: 52) Um die Jahrhundertwende hatte sich die künstlerische Landschaft in Wien auf mehreren Ebenen zu verändern begonnen. Junge und moderne Künstler_innen wie Gustav Klimt und Josef Hoffmann etablierten sich mit der Sezession als neuen Kunstraum. Auch Frauen schafften es langsam und mit Beharrlichkeit, als Künstlerinnen wahrgenommen zu werden und vor allem ausstellen zu können. Voraussetzung dafür war die Mitgliedschaft in einer Künstlervereinigung, bis Ende des 19. Jahrhunderts war diese für Frauen nicht möglich. Im Jahr 1910 gründeten einige Künstlerinnen die Vereinigung bildender Künstlerinnen Österreichs. Eine davon war Tina Blau, die auch an der Kunstschule unterrichtete.
Neben den emanzipatorischen Kämpfen der Künstlerinnen gab es auch eine ökonomische Entwicklung, die diesen Prozess unterstützte, jedoch unter anderen Vorzeichen. Um am Kunstmarkt konkurrenzfähig bleiben zu können, wurden in den Kunstwerkstätten ausgebildete, aber billige weibliche Arbeitskräfte benötigt.
Josef Hoffmann und seine Wiener Werkstätte (1903–1932) waren, sowohl was den Stil als auch die Vermarktung betrifft, Trendsetter. Hoffmann, der nicht nur an der Gründung der Sezession beteiligt war, sondern auch an der Kunstgewerbeschule unterrichtete, prägte den Kunstgeschmack des bürgerlichen Publikums einer ganzen Generation im Sinne einer klaren, stilvollen Formensprache und kunsthandwerklicher Perfektion. Im Gegensatz zur industriellen Massenproduktion sollten in überschaubaren Mengen edle Alltagsgegenstände, Möbel, Druckwerke und Stoffe hergestellt werden. Da in den Werkstätten überwiegend Frauen arbeiteten und auch neue künstlerische Impulse gaben, wurde diese von „Kritikern“ als „Weiberkunsthandwerk“ disqualifiziert.
Dieser Exkurs ist insofern wichtig, da sich Agathe Löwes Weg in diesen sozialen und ökonomischen Bedingungen wiederfinden lässt. Als Tochter einer jüdisch-bürgerlichen Familie besuchte sie die Kunstschule mit Unterbrechung bis 1916. Mit Kriegsende wirkte sie im Kreis der revolutionären Künstlervereinigung Ver!, machte ihre Grafiken für anarchistische Zeitschriften, agierte ab 1918 unter dem Künstlernamen Löwe. Selbst im Telefonbuch ist sie Anfang der 20er Jahre unter diesem Namen eingetragen. Im Oktober 1923 trat sie aus der israelitischen Kultusgemeinde aus, 1925 begann sie ein Studium an der Kunstgewerbeschule, in der Emailklasse von Josef Hoffmann. Sie schloss 1930 ihr Studium ab.
Ob sie jemals für die Wiener Werkstätte gearbeitet hat, ist nicht bekannt. In der einschlägigen Literatur wird ihr Name nicht erwähnt. Vielleicht hat sie ihr zugearbeitet oder ist für andere Kunstwerkstätten tätig gewesen. In den 20er Jahren ging es mit dem Kunsthandwerk schließlich bergab. Die Wirtschaftskrise ließ auch diesen Markt schrumpfen. 1932, im Jahr, als die Wiener Werkstätte Konkurs anmeldete, heiratete Agathe Löwe den Taxiunternehmer Ernst Schmied.

Zwei Briefe von 1949
Alle folgenden Informationen stammen aus zwei längere Briefen von Agathe Schmied, vormals Löwe, an den Bildhauer Gustav Ambrosi aus dem Jahr 1949. Den ersten hat Ambrosi, zu dieser Zeit bereits ein angesehener und hochdekorierter Künstler, beantwortet, den zweiten nicht mehr.
Die Anrede ist mit „Herr Professor“ zwar recht förmlich, der Tonfall entspricht jedoch mehr einer Plauderei. Im ersten Brief berichtet sie dem gehörlosen Ambrosi von den neuesten technischen Entwicklungen bei Hörapparaten, dass sie alles aus Zeitschriften erfahren habe und drückt ihr Bedauern darüber aus, dass der Maler Sturm Egger Skla, der seinerzeit seine Grafiken ebenfalls in der Ver! veröffentlicht hat, so früh verstorben sei. Sie erwähnt, dass er in der vergangenen Zeit immer nett zu ihr gewesen sei. Sie bedauert auch die Schäden, die die Bomben in Ambrosis Wiener Atelier angerichtet hatten. Weiters berichtet sie, dass sie sich nicht mehr der Malkunst widme, im Moment ihrem Mann beim Kolportieren von Zeitungen helfe und damit vollauf beschäftigt sei. Im Antwortschreiben geht Ambrosi auf die immensen Schäden an seinen Kunstwerken ein und meint, dass er sich nicht entmutigen lasse und sie wieder reparieren werde.
Im zweiten Brief beginnt Agathe Schmied wieder mit einer neuen technischen Erfindung, doch dann berichtet sie Folgendes: „Ich bin dem gesellschaftlichen Verkehr mit dem Künstlern völlig entrückt, seitdem ich heiratete, was für mich ein Glücksfall war“. Mit dem Glücksfall meint sie, dass sie die NS-Zeit in einer sogenannten Mischehe als Jüdin in Wien überleben konnte. Ihr Mann befreite sie „aus den Klauen der Gestapo, steckte ich schon damals im Sammellager drinnen, für die Deportierung bestimmt.“ Sie schreibt Ambrosi, dass ihre ganze Familie und Verwandtschaft in den Vernichtungslagern der Nazis umgekommen ist. Sie erzählt auch, auf welches Unverständnis sie bei Bekannten stößt, wie der Malerin Grete Wilhelm oder der Gattin ihres Malerlehrers Robert Philippi die nichts von den NS Verbrechen wissen wollten oder sie für Propaganda halten. In diesem Zusammenhang schreibt sie auch folgende Sätze: „Nur mein Mann bindet mich noch an Wien, sonst hätte mich nichts hier zurückgehalten. Die Zeit damals hatte tief ihre Spuren bei mir und auch bei meinem Mann geprägt.“

Zwei Briefe, ein dutzend Grafiken und die institutionell erfassten Daten, verstreut in Archiven und Bibliotheken, in Büchern, Zeitschriften und Datensätzen ist alles, was trotz intensiver Recherche zu Agathe Löwe (Schmied) zu finden ist. Es ist nicht viel, dennoch ist es ein kleines Universum, eines in Menschengröße. Ernst Schmied verstirbt 72jährig 1957 in Wien, Agathe neun Jahr später, beide wurden am Zentralfriedhof begraben. Die Gräber sind mittlerweile aufgelassen.
Der Kunstmarkt mit seinen Meistern und Stars ist ein reduktionistisches System, das fortlaufend ausschließt und Vergessenheit produziert. Vor allem Künstlerinnen sind davon betroffen. Ähnlich ergeht es der radikalen Arbeiter_innen- oder Alternativbewegung, die generell gern als Kuriosität betrachtet wird. Dass Agathe Löwe/ Schmied vergessen und in der Geschichte verschollen
ist, ist eine Konsequenz dessen.

 

Die Serie in der Referentin ist auf Anregung von Andreas Gautsch entstanden.

Literatur:
Sabine Plakolm-Forsthuber: Künstlerinnen in Österreich 1897–1938,
Malerei. Plastik. Architektur, Picus Verlag, 1994

Öffentlicher Raum

Neuentdeckung eines Linzer Urgesteins

Karl Wiesinger war eine prägende Gestalt der Linzer Kulturszene. Der 1991 in Linz verstorbene Schriftsteller gilt als einer der wichtigsten Repräsentanten der politisch engagierten Literatur in Oberösterreich. Durch seine kommunistische Haltung fühlte er sich vom Kulturbetrieb ignoriert. Schließlich narrte er diesen aber mit einem schillernden Husarenstück. Zurzeit erinnert eine Ausstellung im Linzer Stifterhaus an den vielseitigen Linzer Autor. Von Silvana Steinbacher.

Foto OÖ. Literaturarchiv/Adalbert-Stifter-Institut

Ein Mann steht in einem kleinen Boot und lächelt zufrieden in die Kamera, hinter ihm die Landschaft in einiger Entfernung. Ein Wochenendausflug mit Freunden, vermittelt mein flüchtiger Blick. Ich sehe mir ein Foto von Karl Wiesinger an, dem derzeit im Linzer Stifterhaus eine umfangreiche Ausstellung gewidmet ist.
Es dürfte kein leichte Arbeit gewesen sein, diese vielschichtige und facettenreiche Person in einer Schau zu bündeln, denke ich schon bald, als mir der Herausgeber der digitalen Edition der Tagebücher und Mitkurator der Schau Helmut Neun­d­linger von Karl Wiesinger erzählt.
Wiesinger, der politisch Kämpferische, der Journalist und Schriftsteller, der in Linz den verstaubten Kulturbetrieb der Nachkriegszeit prägte und die Linzer Literaturszene mit einem Pseudonym narrte, und schließlich der emsige Tagebuchschreiber, der in seinen Aufzeichnungen teils vernichtend über seine Zeitgenossinnen und -genossen, ja sogar seine engen Freunde herzog. Und wahrscheinlich gibt es noch so manch andere Seite an Karl Wiesinger zu entdecken.
Ich beginne mit einer Aktion rund um seinen „Bauernroman“ Weilling, Land und Leute. In einer Schaffenskrise erfindet Karl Wiesinger 1970 unter dem Pseudonym Max Maetz einen literarischen Bauern und lässt diesen ohne Interpunktionen und ohne Respekt vor sprachlichen Konventionen über sein Leben in Weilling erzählen. Weilling ist eine aus zwei Vierkanthöfen bestehende Siedlung in St. Florian. Die reale Verortung in diesem Buch wird Wiesinger noch zum Verhängnis werden und sogar Maetz’ „Tod“ bedeuten. Doch zunächst gelingt Karl Wiesinger genau das, worauf er abgezielt hat. Nachdem der mittlerweile 47-jährige Künstler bereits mehrere Niederlagen einstecken musste und seine Manuskripte von einigen Verlagen abgelehnt wurden, wird der Roman von der Düsseldorfer Eremiten Presse publiziert und durch neue Facetten ergänzt, und sein Max Maetz erregt mit diesem Buch bald Aufsehen. Wiesingers Coup des talentierten, wenig gebildeten Bauern, der mit Frische und unverbrauchtem Stil erzählt, schlägt also voll ein. Erst als sich Journalisten in Weilling auf die Suche nach Max Maetz begeben und dort natürlich nicht fündig werden, entscheidet sich der hinter der Kunstfigur verborgene Schriftsteller Wiesinger, sie kurzerhand sterben zu lassen und veröffentlicht sogar eine Sterbepate in einem lokalen Medium. Diese Aktion empfinden viele, die ohnehin über die Täuschung verärgert sind, als äußerst geschmacklos.
Warum ich dieses Ereignis hier an den Beginn setze? Es scheint mir charakteristisch für Wiesinger zu sein, soweit ich das, ohne ihn gekannt zu haben, überhaupt beurteilen kann.

Karl Wiesinger ist 1923 in Linz geboren und 1991 auch hier gestorben. Mit 19 Jahren betritt der politisch interessierte Mann die Bühne, die er bis zu seinem Tod nicht mehr verlassen soll. Auch unter dem Eindruck der Februarkämpfe 1934, die er als Kind erlebte, sympathisiert er mit den Kommunisten und wird einige Jahre später Mitglied der KPÖ. 1941 wird Wiesinger zur Wehrmacht eingezogen und begeht an der finnischen Front Sabotageakte, die bald entdeckt werden. Nach einem Freispruch ist er weiterhin im illegalen kommunistischen Widerstand. An seinem Lungensteckschuss aus dem Krieg leidet er bis zum Ende seines Lebens – bereits zwanzig Jahre vor seinem Tod klagte er über Atemnot – und an seinem Lungenleiden ist er letztlich auch gestorben.
Im Linz der Nachkriegszeit und in der späteren Aufbruchszeit in den 1960ern wird Wiesinger trotz seiner kommunistischen Haltung eine prägende Figur.
Unter anderem gründet er gemeinsam mit Ernst Ernsthoff und Paul Blaha das Linzer Kellertheater, das damals, im Gegensatz zum heutigen Programm, einen durchaus anspruchsvollen, experimentierfreudigen Spielplan präsentierte. Auch beim „Club der Todnahen“, dessen Performances an jene der Wiener Gruppe erinnern, hat er sich engagiert.
Ab 1960 lebt Wiesinger dann als freier Schriftsteller, der Verkauf seiner Dentistenpraxis und eine Invaliditätspension ermöglichen ihm diesen Schritt. Er schreibt Hörspiele, Romane und Theaterstücke und er ist ein intensiver Tagebuchschreiber. Und diese – somit schlage ich den Bogen zur Ausstellung im Linzer Stifterhaus – spielen eine nicht unwesentliche Rolle für die beiden Kuratoren, den Germanisten Helmut Neundlinger und den wissenschaftlichen Mitarbeiter des Adalbert-Stifter-Instituts Georg Hofer. Die Tagebücher, ursprünglich im Besitz von Wiesingers Ehefrau, wurden vor sieben Jahren von Wiesingers Nichte dem Institut übergeben. Seit zwei Jahren bearbeitet Neundlinger diese Aufzeichnungen. „Karl Wiesinger hat auch über seine Kontakte genauestens Buch geführt und sich über jeden abfällig geäußert. Ursprünglich wollte er ja seine Tagebücher veröffentlichen. Glücklicherweise nahm er davon wieder Abstand. Ich denke, sonst hätte niemand mehr mit ihm gesprochen. Wiesinger war ein Mann der Selbststilisierung, der zum Teil auch Facetten aus seiner Biografie literarisch überhöht hat. Als Zeitdokument eines hochpolitisierten Menschen im Spannungsfeld des Ost-West-Konfliktes ist das Tagebuch jedoch eine wertvolle Quelle“, stellt Helmut Neundlinger fest. Einiges aus Wiesingers Tagebüchern fließt auch in die Ausstellung Vorwärts, Genossen, es geht überall zurück. Karl Wiesinger (1923–1991) ein.
„Das Konzept der Schau ist eher reduziert gehalten, sie besteht aus zweiundzwanzig Stationen, beinhaltet Zitate und Dokumenten, die unter anderem auch aus dem KPÖ-Archiv stammen“, erzählt mir Georg Hofer.
In seinen literarischen Texten thematisiert er hauptsächlich die Zwischenkriegszeit über NS- Regime bis in die Nachkriegsära des Kalten Krieges. Und er benützt seine fiktiven Figuren hauptsächlich, um ihre Zerrissenheit in den Zeitläuften zu demonstrieren. So unter anderem in seinem erstmals 1967 publizierten Roman Achtunddreißig. Angesiedelt ist Achtunddreißig am Vorabend des Einmarsches deutscher Truppen. Besonders einprägsam empfand ich beim Lesen des Buches, wie der Autor hier die Diskrepanz zwischen der Unentschlossenheit des jüdischen Protagonisten und der kalten Zielorientiertheit der Nationalsozialisten darstellt. In ihrer Wankelmütigkeit vertraut die Hautfigur darauf, dass ein Leben unter den Nazis für ihn vorstellbar sein könnte. In einer klaren Sprache schreibt Wiesinger über seine Themen mit der Intention, eine bestimmte Botschaft zu transportieren. Drei seiner Romane, eben Achtunddreißig, Standrecht und Der rosarote Straßenterror, in denen Wiesinger prägnante Zäsuren der jüngeren Geschichte Österreichs, nämlich 1934, 1938 und 1950, thematisiert, sind vom Promedia Verlag 2011 neu aufgelegt worden. „Ich würde wohl am ehesten von einer Agit-Pop-Literatur sprechen“, stuft Helmut Neundlinger Wiesingers Stilistik ein. „Wiesinger verzichtet fast gänzlich auf psychologische Ansätze, auch bei seiner Figurenzeichnung fehlt teils die Tiefe.“ Auch der 1997 verstorbene Schriftsteller Franz Kain, mit dem Wiesinger eine lange gemeinsame, auch freundschaftliche Geschichte verband, vermerkte in einer Rezension durchaus auch kritische Punkte. In Bad Goisern sind beide zur Schule gegangen, bei der Neuen Zeit, der oberösterreichischen Ausgabe der Volksstimme, begegneten sie einander wieder. Kain wagte nun in einer Rezension von Wiesingers Drama Der Poet am Nil die „Wurzellosigkeit“ und „mangelnde weltanschauliche Eindeutigkeit“ zu kritisieren. Ich möchte kurz Wiesingers nicht wirklich freundliche Tagebucheintragungen, von denen niemand verschont wurde, in Erinnerung rufen und überlege mir für einen Augenblick, mit welch scharfer Pranke der Apodiktiker Wiesinger wohl auf diese Beurteilung seines Freundes reagiert haben könnte.
Gegen Ende betrachte ich noch einmal eingehend ein Foto. Es zeigt den Arbeiterschriftsteller, als ihm 1981 der „Berufstitel Professor“ verliehen wird. Fast ein wenig erstaunt sehe ich auf dem Foto einen seriösen Herrn im schwarzen Anzug und mit stolzer Miene, wie zumindest ich es interpretiere. Wie diese Anerkennung auf den Provokateur und Verächter alles Bürgerlichen gewirkt haben mag, wussten wohl nur wenige Freunde. Angenommen hat Wiesinger den Titel jedenfalls. Und noch einmal komme ich zum Beginn meines Textes zurück. Er bleibt vielschichtig und facettenreich: Wiesinger, der Rebell, der sich die Anerkennung der Gesellschaft, der er kritisch gegenüberstand, dennoch immer wieder wünschte.

 

„‚Vorwärts Genossen, es geht überall zurück‘. Karl Wiesinger (1923–1991)“
Linzer Stifterhaus
Bis 28. Mai 2020
Öffnungszeiten: täglich, außer Montag 10.00 bis 15.00 Uhr

neue begegnungen finden statt.

Zweifellos stellen Prosa und Lyrik der 1939 in Linz geborenen und heute in Thalheim bei Wels lebenden Schriftstellerin Waltraud Seidlhofer gleichermaßen maßgebliche wie notorisch unterschätzte Zeugnisse der österreichischen Literatur nach 1945 dar – meint Florian Huber über Waltraud Seidlhofer, die im Dezember in der Galerie Maerz liest.

in allen diesen begegnungen spielt der zufall eine wesentliche rolle. Foto Otto Saxinger

Obwohl Angehörige ei­ner jüngeren Autorinnengeneration wie Flo­rian Neuner (*1972), Ronald Pohl (*1965), Robert Pros­ser (*1983) oder Lisa Spalt (*1970) Seidlhofers Poesie stets Vorbildwirkung für ihre eigene Schreibpraxis attestierten, wartet ihr umfängliches, unter anderem mit dem Kulturpreis des Landes Ober­österreich für Literatur (1991), dem Heimrad-Bäcker-Preis (2008) und dem Georg-Trakl-Preis für Lyrik (2014) ausgezeichnetes Werk nach wie vor auf die Entdeckung durch das breite Lesepublikum. Viele Jahre ging die Autorin daher nach einem abgebrochenen Germanistik- und Anglistikstudium an der Universität Wien einer Bibliothekarstätigkeit in Linz und später in Wels nach, die ihr ein regelmäßiges Einkommen sicherte und vermutlich auch die Entstehung ihrer literarischen Texte begünstigte, in denen sie sich nicht nur als Kennerin der Klassiker der Literatur- und Wissenschaftsge­schich­te, sondern vor allem auch ihrer Zeit­ge­nossinnen erweist. Neben den Vertreterinnen einer avancierten Dicht- und Bildkunst aus dem Umfeld der Grazer und Wiener Gruppe und der Linzer Künstlervereinigung Maerz haben etwa surrealistische Schreibweisen und die französischen Schrift­steller des Nouveau Roman wie Alain Robbe-Grillet und Michel Butor im Werk von Seidlhofer vielfältige Spuren hinterlassen. Mit Letzteren verbindet sie ein starkes Interesse am Urbanismus, und mit diesen verbindet sie ebenso der Verzicht auf eine nacherzählbare Handlung und damit verbundene Identifikationsfiguren sowie der Gebrauch von formelhaften, gelegentlich bis zur gezielten Erschöpfung wiederholten Redewendungen und Sprechweisen in ihren Büchern. Ab Ende der 1950er-Jahre verfasste Seidlhofer erste eigene Gedichte, die 1971 schließlich in den vom Kulturamt der Stadt Linz veröffentlichten Band bestandsaufnahmen mündeten. Während das poetische Sprechen zu dieser Zeit bisweilen von den Empfindungen eines lyrischen Ich getragen scheint, kommt in den Folgepublikationen eine Distanznahme gegenüber einer ausschließlich am Prinzip der Einfühlung orientierten Dichtung zum Vor­schein, die noch in ihrer neuesten Veröffentlichung wie ein fliessen die stadt im Wiener Klever Verlag aus diesem Jahr bemerkbar ist.

Bereits der Titel ihres Prosadebüts fassa­den­texte, das 1976 die Reihe der Er­zähltexte der edition neue texte des Linzer Verlegers und Schriftstellers Heimrad Bäcker eröffnete, ist daher programmatisch zu verstehen. Anstatt mithilfe psychologischer Kunstgriffe hinter die Fassaden der die Literaturgeschichte bevölkernden Individuen und ihrer Triebschicksale zu blicken, widmete sich Seidlhofer den Zumutungen moderner Biografien an­hand einer Darstellung der sie um­ge­benden Außenwelten. Den Text durch­zie­hen Gespräche zwischen „ich“ und „p“, deren mangelnder Tiefsinn nicht länger durch Bedeutsamkeit verheißende Eigennamen kaschiert werden muss. Auch in späteren Texten der Autorin bleibt bis­wei­len unklar, wer in wessen Namen spricht und inwiefern dieses Sprechen Gültigkeit beanspruchen kann. Am Höhepunkt der neuen Innerlichkeit in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur der 1970er-Jah­re, wie sie etwa von Dichterinnen wie Peter Handke, Peter Schneider, Botho Strauß, Karin Struck oder Christa Wolf proklamiert wurde, formulieren die fassadentexte einen poetologischen Gegenent­­wurf, der die Beziehung zwischen den Dingen und ihren Bezeichnungen, zwischen Text und Welt zur Disposition stellt, wie bereits zu Beginn des Textes deutlich wird: „die stadt besteht fürs erste aus fassaden./jeder, der in einer stadt ankommt, wird sofort mit dieser konfrontiert./es gibt keine moeglichkeit, den fassaden zu entrinnen.“ Die Architektur spiegelt die En­ge der gesellschaftlichen Verhältnisse, de­ren ereignishafte Charakterisierung als „fürs erste“ unentrinnbare Realitäten an ihre geschichtliche Gewordenheit erinnert und dementsprechend ihre Überwindung nahelegt. Vielleicht mag man dabei auch an Ludwig Wittgenstein (1889–1953) denken, der in § 18 seiner posthum publizierten Philosophischen Untersuchungen notiert: „Unsere Sprache kann man ansehen als eine alte Stadt: Ein Gewinkel von Gässchen und Plätzen, alten und neuen Häusern, und Häusern mit Zubauten aus verschiedenen Zeiten; und dies umgeben von einer Menge neuer Vororte mit geraden und regelmäßigen Straßen und mit einförmigen Häusern.“ Wie die Schriften des österreichischen Philosophen sind auch die Prosa und Lyrik von Waltraud Seidlhofer von der Frage nach den grundlegenden Elementen einer Sprache und der ihnen angemessenen Lebensform bestimmt. „so als stellten sie selbst sich in frage/treten woerter/aus den passagen/zie­hen sich/von den schemen zurueck“, heißt es dazu passend in einem ihrer Gedichte. Die Zurückdrängung des klassisch-poetischen Vokabulars, die weitgehende Abwesenheit allegorischer Bezüge weckt bei den Leserinnen die Lust an neuen Begriffen und ihnen korrespondierende Erfahrungen: „neue begegnungen finden statt./in allen diesen begegnungen spielt der zufall eine wesentliche rolle.“

Ob und wie sich aus dem Zufälligen der Wahrnehmung des Individuums eine konsistente Weltsicht schält, prägt dabei nicht nur den Inhalt, sondern auch die Form von Seidlhofers fassadentexten und ihres Schreibens insgesamt, wie der Dichter Christian Steinbacher über die 1986 ebenfalls in der edition neue texte erschienene Prosa geometrie einer landschaft bemerkt: „[D]er Entwurf selbst wird gleichsam zum Protagonisten jener fiktiven Räume, Landschaften, Geschehnisse, die von ei­nem scheinbar daran unbeteiligten Subjekt fixiert worden sind.“ Auf längere Passagen, die mit einem vergleichsweise ge­ringen begrifflichen Inventar große Anschaulichkeit erzielen und in ihrer Blockhaftigkeit die Konturen einer Stadt mit Gebäuden, Plätzen und Straßenzügen evo­zieren, folgen in den fassadentexten daher kürzere Textabschnitte, deren Gedichtförmigkeit den Lesefluss irritieren und dem Bedürfnis nach einem kontinuierlichen Fortgang der Geschehnisse eine souveräne Absage erteilen. Anstatt ihre Sicht vom „Lauf der Dinge“ (so der Untertitel einer Publikation aus dem Jahr 2012 im Klever Verlag) lediglich darzulegen, appelliert die Autorin an die Mündigkeit ihrer Leserinnen und Leser, denen sie dadurch zu einer kritischen Reflexion ihrer eigenen Sicht­wei­sen und Erkenntnisinteressen, also ei­nem rundum beglückenden Lektüreerlebnis, verhilft.

 

Waltraud Seidlhofer
Lesungsabend zum 80. Geburtstag der Dichterin
Künstlervereinigung MAERZ
16. Dezember 2019, 19.00 Uhr
maerz.at

Schlagwort Theatergerechtigkeit

„Stahlstadt.online“ war ein Online-Theaterprojekt, das schon im August und im September während der Ars gelaufen ist – als Alternate Reality Soap und als offline Escape-Room-Event. Das Projekt hatte aber vor allem auch eine praktische Stoßrichtung für junge Menschen mit Fluchterfahrung. Theresa Luise Gindlstrasser gibt einen Einblick in das Community-Projekt und spricht danach mit den beiden, die das neue Theaterformat entwickelt haben – mit Clara Gallistl und Philipp Ehmann.

Kommen und gehen – auch mal von der Stahl City in die Plus City. Foto Stahlstadt Online

Und dann ist schon wieder was passiert. Für eine Instagram-Story war die 19-jäh­rige Schülerin @sefdisefda gerade noch da­mit beschäftigt, von @luca.ned.lucas zu schwärmen (der aber mit @notyourjuliett zusammen ist), als im nächsten Bild die Farben verschwimmen und Photoshop ein weißes Loch in die Aufnahme reißt. Auch @amirmstahl erging es ähnlich: Endlich Arbeit gefunden als Verkäufer in einem Kleidungsgeschäft, verzweifelt der 21-jährige Afghane am oberösterreichischen Idiom eines Kunden und beendet seine Insta-Story mit einem Foto vom weißen Loch. Seither war er verschwunden. Das Profil von @linzliebe suggeriert, dass solche „Portale“ auch in Wien gesichtet wurden.

Von 26. August bis 6. September war die Alternate Reality Soap „Stahlstadt.online“ öffentlich zu verfolgen. Das Theaterprojekt passierte online über Instagram und Youtube, am 5. und 6. September kam es im Rahmen des Ars Electronica Festivals in der PostCity Linz zu einem offline Escape-Room-Event. Egal ob digital oder analog, Hauptsache: Interaktion. Die „Theatervorgänge“ schreiben sich über die sozialen Medien in die Instagram-Realität der Abonnentinnen und Abonnenten ein. Auf die Kommentare, fertig, los! Was hat es mit den weißen Löchern auf sich? Solch Niederschwelligkeit ermög­licht das Erleben von Theater ohne Ticket-Kauf, Stillsitzen oder Lektüreschlüssel.

Für „Stahlstadt.online“ haben die Expertin für Community-Building Clara Gallistl und der auf immersives Theater und Urban Gaming spezialisierte Regisseur Philipp Ehmann mit einer Gruppe von 25 Jugendlichen, mehrheitlich mit eigener Fluchterfahrung, zusammengearbeitet. Die Story des Vorhabens wurde in monatlichen Workshops gemeinsam erarbeitet. Außerdem beteiligt sind zwei professionelle Schauspielende.

Vor dem Verschwinden von Amir und Sefda, also vor Beginn des eigentlichen Krimi-Plots, waren Alba, Aimée-Valerie, Matti und Alex (die Personen hinter diesen Pseudonymen betreuen gemeinsam das über den Projektzeitraum hinaus weiterhin auf Instagram bestehende @linzliebe) hauptsächlich mit Konzertmit­schnitten und Momentaufnahmen der schönen Stahlstadt beschäftigt. Im Vor­dergrund stehen aber Videos, die sich mit den Themen Wohnungssuche und Sprach­erwerb oder der Frage, wie und wo junge Leute in Oberösterreich sich freiwillig engagieren können, auseinandersetzen. Aimée-Valerie gibt Tipps für den Umgang mit Angst und Alex unterstützt Amir bei der Suche nach Arbeit.

Das Theaterprojekt „Stahlstadt.online“ hatte insofern vor allem eine praktische Stoßrichtung: Junge Geflüchtete sollen mit Informationen versorgt werden, die für ein selbstständiges Leben in Ober­öster­reich notwendig sind. Auf der Internetbühne verschwimmen nicht nur „real“ und „fiktional“ oder „Agierende“ und „Pu­bli­kum“, sondern auch „Unterhaltung“ und „Informationsweitergabe“. Publi­kums­seg­men­ten, die sich im klassischen Theater nicht repräsentiert fühlen, soll ein Zu­gang ermöglicht werden. Sich wie­derzufinden in den Geschichten, die Theaterkunst über das Leben erzählt, ist ein wichtiger Schritt gegen die Isolation und für die Teilhabe an Gesellschaft und Kultur.

Clara, du hast 2017 bei dem in der Tribüne Linz aufgeführten Community-Theaterprojekt „Perspektiven des Alltags. Neues Oberösterreich“ mitgearbeitet. Wie kam es in Folge zu „Stahlstadt.online“?
Clara Gallistl: Bei einem Treffen mit Landesrat Rudi Anschober haben wir über eine damals neu durchgeführte Studie über die Darstellung von jungen Geflüchteten in oberösterreichischen Medien gesprochen. Die Landesintegrationsstelle versucht über ihre Homepage, über Flyer und Folder Informationen weiterzugeben – über Deutschkurse, Wohnung, Geld, Freizeit. Es ist fraglich, ob diese Medien die Jugendlichen wirklich erreichen. Aber: Jugendliche, egal woher sie kommen, haben ein Smartphone, sind auf Youtube, Instagram und benutzen WhatsApp. Basierend auf diesem Gedanken habe ich ein erstes Konzept entwickelt und bin daraufhin mit Philipp Ehmann in die Planungsphase gegangen. Wir kennen uns schon sehr lange und haben ähnliche Vorstellungen davon, wie wir Theater machen wollen.

Wie wollt ihr denn Theater machen?
Philipp Ehmann: Wir treffen uns in den Geschichten, die wir erzählen wollen. Wir wollen nicht: Geschichten von weißen Männern auf der Bühne für weiße Männer im Publikum erzählen. Sondern eine komplexe, diverse Gesellschaft abbilden, nämlich so, wie unsere Gesellschaft einfach auch ist, wir sind nicht alle cis, wir sind nicht alle weiß, wir sind nicht alle Mann. Wer wird im Theater wie repräsentiert? Es geht auch darum wahrzunehmen, dass Jugendliche Individuen sind. Teilweise in der Pubertät, teilweise nicht, und es geht darum wahrzunehmen, dass die Menschen, mit denen wir arbeiten, verschiedene Bedürfnisse haben.
CG: Mein Schlagwort ist: Theatergerechtigkeit. Ein transparenter Umgang mit den Ressourcen, ein fairer Umgang mit den Beteiligten, sei es in Bezug auf Honorare oder die Weitervermittlung von Kontakten, das Ermöglichen von Vernetzung, das Verfassen von Referenz-Schreiben, dass alle gesund und gut arbeiten können, die Möglichkeit zur Reflexion auf den Prozess, dass alle mit einem positiven Gefühl rausgehen und das Projekt gut abschließen können – das ist für uns wichtig. Dabei muss aber niemand der Teilnehmenden die gesamte Komplexität des Projektes verstehen – woher das Geld kommt, wie viel Arbeit dahintersteckt, wie sich der Raum oder die Gruppe ergeben. Das ist die Aufgabe von uns, als Organisations-Team. Außerdem: Neue Touchpoints zu schaffen, die nicht das Leporello oder die Hand von der Mama sind.
PhE: Es gilt, Arten des Erzählens zu finden, die sich an Menschen wenden, die normalerweise nicht ins Theater gehen. Es gilt herauszufinden, wie wir Geschichten mit Geflüchteten erzählen können und nicht nur über sie.

Wie ging es mit der Entwicklung von „Stahlstadt.online“ weiter?
PhE: Leider hingen wir, was die Förderung betraf, in monatelanger Unklarheit und mussten im Endeffekt das Projekt verschieben. Anstatt wie geplant bei der Ars 2018 herauszukommen, waren wir dort nur mit einem Info-Stand vertreten und konnten „Stahlstadt.online“ erst 2019 umsetzen.
CG: Vor Beginn des Projekts habe ich eine Community-Building-Strategie entwickelt, aber wegen der ungewissen Verzögerung konnte diese nie von A bis Z umgesetzt werden. Zum Beispiel war es nicht möglich, mit einem gemeinsamen Kick-Off-Event zu starten, bei dem sich eine teilnehmende Gruppe hätte konstituieren können. Teilweise waren die Teilnehmenden schon klar, aber uns war noch nicht klar, ob das Projekt überhaupt in dieser Größenordnung würde stattfinden können.

Wie sah diese Community-Building-Strategie aus?
CG: Es gab drei Ziele. Erstens: Eine Gemeinschaft aufbauen. Damit diese Jugendlichen nicht mehr vereinzelt in ihren Lebenssituationen abhängen, sondern auf eine Community zurückgreifen können. Allen Teilnehmenden wurde eine Dokumenten-Mappe zur Verfügung gestellt, mit Fotos und Protokollen, für Bewerbungsgespräche oder Termine bei Gericht bezüglich Asylverfahren. Zweitens: Aufbau einer medialen Plattform, wo die Jugendlichen Peer to Peer die für sie relevanten Inhalte vermitteln können. Die Seite von @linzliebe wird insofern weitergeführt. Drittens: Abbau der negativen Vorurteile gegenüber geflüchteten Jugendlichen in der oberösterreichischen Gesamtgesellschaft. Leider konnte unsere großangelegte Werbekampagne für @linzliebe mit ober­österreichischen Stars und VIPs aufgrund der unklaren Fördersituation nicht umgesetzt werden.
PhE: Es geht immer um Kommunikationsprozesse. Mit Jugendlichen, die oft von vielen Emotionen und Eingebungen bestimmt werden, so zu kommunizieren, dass Informationen auch wirklich ankommen – das ist ein Prozess.
CG: Ich nenne es: Pubertät plus. Weil die Jugendlichen teilweise traumatisierende Erfahrungen gemacht haben, teilweise in Asylverfahren sind und damit also nicht abschließen können. Die werden oft hin und her gerissen und verstehen es selber nicht genau. Es ist ein Privileg, dass wir hier sitzen und über das Projekt reden können, dass wir die emotionalen, zeitlichen, finanziellen Kompetenzen haben, dass wir hier entspannt sitzen können.
PhE: Bei „Stahlstadt.online“ konnten die Jugendlichen kommen und gehen – wir wollten ein Angebot sein, aber wir wollten auch darauf reagieren können, falls es jemandem nicht gut geht. Es braucht soziale und emotionale Intelligenz um abzuklären, wann es notwendig ist, streng zu sein und auf Abmachungen zu beharren, wann es aber wichtiger ist, Freiheiten zu geben und da zu sein, wenn jemand etwas braucht.

Ihr habt euch für ein Online-Theaterprojekts entschieden. Warum?
PhE: Es ist schon ein sehr komplexes Projekt. Wir haben uns gefragt: Wäre es sinnvoller gewesen, einfach einen Text zu inszenieren, also einfach ein Theaterstück auszuwählen und dieses dann gemeinsam zu erarbeiten? In den gemeinsamen Textwerkstätten ist zutage getreten, wie verschieden das Vorwissen über Theater, über kreatives Arbeiten ist. Oder: Deutsch­kenntnisse.
CG: Hätten wir an der Inszenierung eines vorgegebenen Textes gearbeitet, wäre Anwesenheit der Beteiligten notwendig gewesen. Wiederholbarkeit bedeutet Stress. Für die Einzelnen und für die Gruppe.
PhE: Bei uns wurde viel improvisiert. Wir haben einige Takes für die Instagram-Videos gemacht und uns dann für den Besten entschieden, das ist eine viel entspanntere Arbeitsweise.

Beim Verfolgen von „Stahlstadt.online“ habe ich mich so einsam gefühlt, wie es im Theater, wo ich mit anderen gemeinsam sitze, nie der Fall wäre. Theater und Social Media – wie denkt ihr über diese Verbindung?
PhE: Ältere Semester – da zähle ich auch uns dazu – fällt das Verfolgen einer Geschichte über Instagram schwer, es ist etwas Ungewohntes. Unter 20jährige sind aber eh alle zehn Minuten auf Insta und kriegen das eh mit.
CG: Eine Teilnehmerin hat es so formuliert: „Instagram hast du immer und überall, egal wo du
bist, bei Theater musst du hingehen, Entscheidungen treffen und dann kostet es noch Geld“. Ein anderer Teilnehmer hat mittlerweile eigenständig eine Geschichte verfasst. Für ihn ist es ganz klar, dass diese über Instagram erzählt werden soll. Dann können alle Freunde, egal wo auf der Welt die sind, diese Geschichte verfolgen. Instagram und Realität – das geht für die Jugendlichen seamless zusammen.
PhE: Was von einem theatralen Standpunkt her als dramaturgische Lücken, als das Fehlen von Informationen für den Fortgang der Geschichte gelten muss, das nehmen die Jugendlichen im Rahmen einer sprunghaften, schlaglichtartigen Instagram-Dramaturgie in Kauf.
CG: Wir hatten in den ersten drei Tagen 3000 Views pro Charakter, @linzliebe hat mittlerweile 510 Follower, da werden wir mittlerweile auch getaggt, das läuft, das verbreitet sich, ohne dass wir was machen.
PhE: Online kannst du wirklich auf deine Zielgruppe fokussieren. Mit einem entsprechenden Marketingbudget wäre fünfmal so viel möglich. Ein Wunsch, ein Ziel, ein Vorhaben für das nächste Mal! Theresa Luise Gindlstrasser, geboren 1989, lebt und arbeitet in Wien. Studiert dort Philosophie und bildende Kunst. Schreibt dort, und manchmal woanders, meistens über Theater.

 

www.stahlstadt.online
@stahlstadtkids
@linzliebe