Der Biss zum Biss

So kann queer_feministische Radioarbeit funktionieren – meinen Helga Schager und Michaela Schoissengeier, die von der Referentin eingeladen wurden, über ihr seit 2017 bestehendes und auf Radio FRO laufendes Sendungsformat „X_XY (Un)gelöst und (Un)erhört!“ zu berichten. Die beiden haben sich in die schreiberische Außenperspektive der dritten Person versetzt und erzählen.

Der Sendungsname auf dem Schwarzen Brett. Foto X_XY

„X_XY (Un)gelöst und (Un)erhört!“ so ein sperriger Titel, was heißt denn das eigentlich und überhaupt zu lang für einen Sendungsnamen!“

Diese und andere Kommentare haben die Radiojournalistinnen zu Beginn ihres neuen Sendungsformats im Jahre 2017 mehrmals gehört. Die zwei Gründungsfrauen Helga Schager und Michaela Schoissengeier haben sich nicht abbringen lassen und haben fleißig geübt, diese Worte, ohne mehrmals zu stolpern, charmant und souverän über die Lippen zu bringen. Sie haben es geschafft und wenn sie sich über das Magazin austauschen, heißt es dann einfach kurz und knapp: XXY.

Ohne ihre feministischen Grundhaltungen verlassen zu wollen, dachten sie, es sei an der Zeit, einen erweiterten Blick auf Geschlecht, Gender und Gesellschaft, auf deren Auswirkungen auf die sich rasant verändernde politische Landschaft zu werfen und diese in die praktische und theoretische Radioarbeit zu integrieren und zu aktualisieren.

X_XY steht als Synonym für Varianz. Von Geschlechtsidentitäten, die der Biologie nicht entsprechen müssen, ist hier die Rede. Geschlecht bewegt sich auf einem Kontinuum, das heißt, der Versuch wird gewagt, sich von binären Geschlechternormen zu lösen und nach Erlösung wird gestrebt.
Gelöst ist noch lange nicht alles, ungelöst ist vieles und manches braucht keine Lösung, sondern Respekt und Akzeptanz.

„Wir finden das (un)erhört! und bringen das zu Gehör!
Wir wünschen uns nicht eine neue Form von feministischer Politik –
Wir machen sie!“1

Das Miteinander ist durch das binäre Geschlechterkonstrukt geprägt. Vom Gang aufs WC bis zum X am Bewerbungsbogen gibt es Regeln, das schafft Ordnung in unserer Welt.
In den letzten Jahren bröckelt zunehmend diese vermeintlich unverrückbare Grenze. Menschen wechseln ihre Geschlechtsidentitäten, der 3. Geschlechtseintrag „inter“ und die „Ehe für Alle“ sind in Österreich seit kurzem Realität.
Unglaublich aber wahr, die Welt bricht nicht zusammen, ganz im Gegenteil! Menschen fassen Mut, so zu leben, wie es ihnen entspricht und wie es sie glücklich macht. Das soziale Gefüge ist divers und dynamisch und das nicht seit gestern, nicht seit heute.

Selbstverständlich schafft es immer wieder Verwirrung, Unklarheiten und auch Verwunderung. Das ist nicht immer angenehm, regt aber zum Nachdenken an und erlaubt einen Blick über den eigenen Tellerrand.
Reaktionäre Kräfte wollen dies verhindern, doch keine Chance, der Zug rollt. Dieser Widerstand zeugt auch davon, welche Relevanz besser gesagt Brisanz diese Themen beinhalten.

Um was geht es?

Nicht nur der alte, weiße Mann wird panisch (sondern auch der junge), wenn seine Pfründe ins Wanken geraten.
Das Patriarchat wirkt in alle Lebensbereiche und die erste Welle der Frauenbewegung sägte schon kräftig an deren Stuhlbein.

Viele Jahrzehnte sind vergangen, vieles hat sich verändert, der Kampf (ja, es ist immer wieder ein Kampf!) nach gelebter Gleichheit in all ihren Unterschieden und Facetten ist im Grunde der gleiche geblieben. Die Rapperin Sookee bringt’s auf den Punkt: „Ich fänd’s unanständig kein*e Feminist*in zu sein.“

„Wir sind Feministinnen, haben den Anspruch, positiven und mutigen Vorbildern eine Stimme zu geben und kritisieren Ungerechtigkeit und Abwertung ohne Wenn und Aber aufs Schärfste!“, zeigen sich die beiden Radiomacherinnen resolut.

Die Geschichte zeigt, dass Frauen wenig bis gar keinen Platz bekommen haben. Weibliche Leistungen wurden und werden unter den Teppich gekehrt oder gleich von Männern geklaut.
Eine wesentliche Aufgabe von „X_XY (Un)gelöst und (Un)erhört!“ ist es, Lebensgeschichten aufzuspüren, Menschen zum Erzählen zu ermutigen und diese Geschichten zu archivieren.

Es ist ein Beitrag zur Hörbarkeit, zur Sicht­barkeit von verschiedenartigen Le­bens­entwürfen und deren Haltbarkeit über eine Lebenszeit hinaus.

Wie und womit wird das gemacht?

Es werden die freien Medien genutzt, um Themen in die Öffentlichkeit zu bringen, die von privaten und öffentlich-rechtlichen Sendern vernachlässigt werden.

Thematische Vielfalt ist Programm. Breit gestreut reicht diese von Kunst- und Kulturaktivismus, Frauen*- / Gesellschafts- / Entwicklungs- und Migrationspolitik, Alltagsleben von Frauen*, Lesben, inter- und trans-Menschen über Hörspiele bis zu experimentellen Radiosendungen (Radio als Kunstform).
Außerdem wird der Kurzlebigkeit und Kurz­berichterstattung ein Schnippchen geschlagen.
Ausführlichkeit und seriöse Berichterstattung sind gelebte Praxis.

Und was hat es mit dem „queeren Biss“ im Sendungsuntertitel auf sich?

Der Begriff „queer“ bezog sich ursprünglich auf etwas Merkwürdiges, Fremdartiges, Abweichendes und wurde als Schimpfwort benutzt. Inzwischen ist es zu einem positiv besetzten Wort geworden, mit dem sich Menschen selbst bezeichnen. Queer meint eine politische Haltung, die auch die vorherrschenden Normen rund um Geschlecht und Sexualität hinterfragt und alternative Wege des Denkens und Handelns herausfordert.
„Ja und den Biss zum Biss haben wir noch immer und noch allemal!“2

 

1 Statement 2017
2 Statement 2019

X_XY (Un)gelöst und (Un)erhört!
Das feministische Magazin mit queerem Biss FREIE Projektinitiative
Sendetermine: Jeden ungeraden Freitag, 19.00–20.00 h
Wiederholung jeweils: Jeden ungeraden Samstag, 11.00–12.00 h
am darauffolgenden Werktag, 14.00–15.00 h auf Radio FRO 105.0 und 102,4 MHz
Sendungsarchiv: cba.fro.at/series/x_xy-ungeloest-und-unerhoert

Kontakt: Helga Schager & Michaela Schoissengeier mailto: helgaschager@gmail.com, michaela.sch@gmx.at

Fan.Tastic Females – Football Her.Story

Sport als Mikrokosmos der Gesellschaft zeigt sehr plakativ das vorHERRschende Denken und Handeln. Obwohl Frauen seit Anbeginn des Fußballspiels als Zuseherinnen und Fans am Spielfeldrand standen und ihre Teams anfeuerten, werden sie weder in diesen Erzählungen noch ganz generell in der Geschichtsschreibung erwähnt. Eh klar, weil männliche Historiker immer den eingeengten Männerblick in die Welt bringen, wo Frauen keinen Platz finden, außer an der Seite ihres Ehemannes. Auch Archäologen konnten aus den Grabbeigaben in ihrer eindimensionalen Einfältigkeit nur die Schlüsse ziehen: Schmuck = Frau bzw. Waffen = Mann. Glücklicherweise gibt es mittlerweile DNA-Analysen, die nicht voreingenommen sind, bzw konnte durch DNA-Analysen festgestellt werden, dass auch weibliche Körper in Gräbern mit Waffen lagen. Erfrischenderweise gelangen immer mehr Wissenschafterinnen in entsprechende Positionen, um diese rein männlich geprägte Sichtweise neu zu zerlegen und neu zu konstruieren. Ebenso werden immer mehr Biographien geschrieben über Frauen, die Überdurchschnittliches leisteten, aber nie Anerkennung dafür erhielten. Das ist gut für ein stetig wachsendes Arsenal an diversen Rollenbildern für Kinder, junge Mädchen und Frauen. „If you can’t see it, you can’t be it“

Aber auch in der Durchschnittlichkeit des (Fußball-) Alltags wollen wir Frauen wahrgenommen werden als selbständige Wesen und nicht als Anhängsel des Freundes oder Ehemannes, wohlwollend mitgemeint im generischen Maskulinum der deutschen Sprache. Ja richtig gehört, wir Frauen schaffen den Weg ins Stadion alleine! Und der Grund unseres Erscheinens ist nicht uns einen Mann zu angeln, sondern unser Lieblingsteam anzufeuern, die Atmosphäre im Stadion zu genießen, FreundInnen zu treffen und eine gute Zeit zu haben. Wir wollen auch nicht pinkifiziert werden! Also echt, warum soll ich als Anhängerin eines Fußballvereins Merchandise-Artikel kaufen, die nicht in den Farben des Vereins gehalten sind?!! Welch gestörtes Frauenbild müssen Marketingverantwortliche haben, die allen Ernstes glauben, eine Frau möchte ihre Vereinszugehörigkeit mit Rosa ausdrücken?!

Die Vielfalt weiblicher Fußballfans, mit all ihren Leidenschaften, Problemen, Hoffnungen, Wünschen, Projekten, Netzwerken, Fanclubs …. steht im Fokus der Wanderausstellung „Fan.Tastic Females – Football Her.Story“, die Ende November in Linz gastiert. Die Ausstellung wurde konzipiert, entwickelt und umgesetzt von Mitgliedern des Netzwerks „Football Supporters Europe (FSE)“ und ist seit der Eröffnung im Hamburger FC St. Pauli Museum im September 2018 unterwegs in Europa.

Die Ausstellung zeigt Portraits von 78 weiblichen Fußballfans von Jung bis Alt aus 21 europäischen Ländern. Das Panorama der Darstellungen geht über die des Fußballfans hinaus und schließt verschiedene Rollen abseits des Fußballfeldes mit ein. Zu den Roll Ups, auf denen die Protagonistinnen dargestellt werden, gehören Videoclips, die über ein QR-Code gescannt am Smartphone zu sehen sind. Diese Codes gelten während der Ausstellungszeit in der jeweiligen Stadt und können zuhause nachgesehen werden.

Die Österreich-Tour der Ausstellung wird von FIN (Frauen im Fußball Netzwerk) in Innsbruck, Graz, Wien und Linz mit entsprechendem Rahmenprogramm organisiert. Vom 20.– 30. November stellt der Linzer KunstRaum Goethestrasse xtd seine Räumlichkeiten zur Verfügung, SKVrau und Arge TOR gestalten das abwechslungsreiche Rahmenprogramm. Am ersten Samstag erfreut uns die Sektion Menstruation mit ihren Erzählungen „Sex, Beer, Vaginas – We are the Vienna Rude Girrrls“ über das Fansein beim FC Vienna. Sie erzählt über ihre interne Vernetzung, verschiedene Projekte und über die Organisation des internationalen FIN Treffens in Wien 2017. Ganz besonders freut mich das Erscheinen von Almut Sülzle, Autorin der ethnographischen Studie im Fanblock: Fußball, Frauen, Männlichkeit, die sich auch hier in Linz dem Thema „Männlichkeit in Fanszenen, bezogen auf weibliche Fans“ widmet. Das Programm abrunden wird ein Film über weibliche Fußballfans, denen der Weg ins Stadion leider verwehrt bleibt. Den Abschluss am zweiten Samstag feiern wir mit mit einer grandiosen musikalischen One-Woman-Show.

 

Tipp: Fan.Tastic.Females – Football Her.Story
fan-tastic-females.org/index.php/de
Podcast mit Ausstellungsmacherinnen
rasenfunk.de/tribuenengespraech/26

Mi 20.–Sa 30. 11. 2019 in Linz im KunstRaum Goethestrasse xtd
Programm auf facebook www.facebook.com/FootballHerStory

Öffentlicher Raum

Foto Violetta Wakolbinger

wir sind sichtbar! Feministische Interventionen zum 2. Linzer Frauenbericht. Intervention Wiltrud Hackl. Konzept und Realisierung: FIFTITU% – Vernetzungsstelle für Frauen* in Kunst und Kultur in OÖ.

Theater. Ein Fantasie-Raum mit realen Grenzen?

Gerlinde Roidinger hat im Juni das Schäxpir Festival in OÖ/Linz besucht. Ein (B)Logbuch über Darstellende Kunst für junges Publikum, Astro-Physik und blaue Pillen, die Beziehung zwischen Menschen und Objekten und sonstige raumgreifende Fragen.

Katharina Senk und Maartje Pasman in ihrer raumübergreifenden Schäxpir-Koproduktion [White Hole]. Foto Gerlinde Roidinger

Die austauschbare Vielfalt an trendigen Marketing-Strategien und knalligen Festivals ermüden mittlerweile etwas, umso wichtiger erschien es mir dieses Jahr, mir Raum und Zeit zu nehmen, um der so genannten „jungen Generation“ und den New Acts der Tanz- und Theaterszene in echter Aufmerksamkeit zu begegnen. Aufmerksamkeit, Zeit und Raum sind nach Georg Franck1 übrigens konstitutive Letztbestandteile der subjektiven Erlebnissphäre, wonach Zeit und Raum die Dimensionen und Aufmerksamkeit die Substanz mensch­lichen Erlebens sind.
Und so gab ich mich Ende Juni in der atmosphärischen Substanz meines persönlichen Lebens – also bei Höchsttemperaturen, Unwetterwarnungen und diverser anderer Krisen – dem oö Festivaltreiben hin und betrat die kontroversielle, äh, multiverselle Troposphäre des 10-jährigen Schäx­pir-Jubiläums.
Für die Tour-Notizen hatte ich mir ein reales Logbuch bereitgelegt, plus etwas Schreibmaterial, einen einfachen Bleistift: Die Gedanken meiner Aufmerksamkeit und die Erlebnisse dieser subjektiven Sphäre wollte ich in St_ICH_Worten darin festmachen …

Tag 1: Von auswärts kommend lande ich Montagmorgen am Linzer Hauptbahnhof, um via Bim rasch zur Kulturtankstelle zu gelangen, wo ich mich von zwei zeitgenössischen Tänzerinnen räumlich ins weiße Loch und durch die multisensorisch aufgeladenen Underg_rounds der dortigen Tiefgaragen-Räume führen lasse. Katharina Senk und Maartje Pasman (tanz.sucht.theater) reflektieren in dieser raumübergreifenden Schäxpir-Koproduktion [White Hole] die Grenzen von Körperlichkeit in der Zukunft und erforschen auf tänzerisch-performative Weise die physischen Möglichkeiten technologisch „überarbeiteter“ Menschen sowie deren neue Wirklichkeiten. Ich bin begeistert! Ein wahrlich feiner Ort, diese Tankstelle! Und umso spannender, weil ich höre, dass es hier schon einige kulturelle Impulse gegeben hat und immer wieder welche folgen sollen. Dass es Tanz an jenem besonderen Ort an diesem Tag offenbar aber zum ersten Mal zu sehen gibt, macht mich ir­gendwie traurig – Hallo ihr TänzerInnen da draußen, wo seid ihr!? Und warum bespielt ihr nicht diesen wundervollen Ort!?….
Kurz darauf habe ich in der STWST ein Meeting in eigener Sache, ich treffe mich mit einer Kollegin aus Wien, die im Festspielhaus St. Pölten arbeitet und wohl zum ersten Mal vom „Strom“ hört, wo wir ebenfalls über Tanz sprechen. Abends eile ich noch schnell in die Kammerspiele, um der Eröffnungsrede zum Thema „Multiversum“ und dem Schmusechor aus Wien zu lauschen. Bei vollem Haus widme ich mich dann dem Thema Mensch-Maschine, einer österreichisch-belgischen Produktion namens Homodeus Frankenstein von Johan De Smet und Sara Ostertag, einer der künstlerischen Leiterinnen des Festivals (!). Die Inszenierung erzählt mittels Videowall über das freundschaftliche Zusammentreffen einer älteren Damen mit einem Roboter, während im Bühnenraum davor zwei weibliche Protagonistinnen, die eine tanzend als Maschine, die andere in der Rolle des Menschen, auf der Suche nach der Spezies des vermeintlich anderen immer wieder aufeinandertreffen und zusammenprallen. Musikalisch begleitet von fünf Instrumentalisten und mit viel Feingefühl werden Fragen aufgeworfen, die mit Sorgen und Ängste über die Zukunft verwoben sind, wobei sich die Geschichte vorsichtig der Beziehung zwischen Mensch und Maschine anzunähern versucht…
Tag 2: Ich muss passen und das Festival auf mich warten. Ich verschanze mich in meinem „Home Office“ vor dem Computer, um voller Tatendrang den eigenen Tanz-Projekten zu frönen.
Tag 3: Um 8:29h nehme ich erneut den Regionalexpress zur „Main-Station Linz“ und check mir auf der Fahrt den Weg zur Bruckneruni, die ich seit dem Neubau vermutlich wegen der dezentralen Lage erst einmal von innen zu sehen bekam. Im Foyer dort angekommen, treffe ich einen Bekannten, der begeistert von der Vorstellung des Vorabends schwärmt und mir ausführlich von der versäumten Proletenpassion berichtet: Ein politisches und zeitkritisches Stück der Prolos (Österreich) über die Geschichte von Herrschenden und Beherrschten, eine Wiederaufnahme des Autors Heinz R. Unger und der Band Schmetterlinge aus dem Jahr 1976, das erstmals bei den Wiener Festwochen gezeigt wurde und in der aktuellen Fassung die neoliberale Realität der Gegenwart beleuchtet. Inhaltlich thematisiert die performativ-musikalische Darbietung revolutionäre Zeitfenster von Gestern und Damals, die offensichtlich deutlich vor meiner Zeit auf diesem Planeten stattgefunden haben, deren Brisanz rund um das Thema Klassenkampf und die Kritik an der Geschichtsschreibung wohl aber aktueller denn je sind …
Schwarz-weiß gestreift ist die Schleife schließlich, die mir kurz darauf ein junger Mann an den Oberarm bindet, während mir seine Kollegin „Frau Löfberg“ (Skript und Dramaturgie) eine Flüssigkeit auf die Augenlider tropft um mich zu einer erholsamen „Auszeit“ einzuladen. Die Vorstellung beginne etwas später, bedauert „Herr Finnland“ (Regie und Konzept) dann freundlich, da wir noch auf eine Schulklasse warten. Geduldig sitze ich also neben einer Ansammlung artiger HTL-Schüler und gönne mir in Frédérics Bistro ein frisches Croissant. Kurz darauf werden wir in Teams eingeteilt und die Uraufführung der Sommernachtsmatrix von Nesterval (Österreich) beginnt. Bei brütender Hitze starten wir in den Uni-Garten, davor gibt’s ein paar Einführungsworte inkl. Erklärung der Spielregeln sowie einen Stationen-Plan in Papierform, danach subito die erste Szene: Figuren in weißen Kleidern sprechen, Schlafende erwachen, und ich anachronistischer Anti-Konsolen-Mensch verstehe nur langsam: Das interaktive Real-Life-Computerspiel – die Shakespeare-Schnitzeljagd – ist im vollen Gange: Über zwei Stunden werden wir durch antike Liebes-Geschichten gejagt, mit täuschenden Aufträgen betraut, von AgentInnen mit Wasser-Spritzpistolen verfolgt und mit Hilfe von weißen Kaninchen in ferne Länder versetzt, um uns am Ende für eine von zwei farbigen Pillen zu entscheiden: Wir stimmen ab und ich lasse mich überreden: Unser Team schluckt die blaue. Und ich frage mich, ob das wohl Gutes verspricht oder ich nun für immer unwissend im Kaninchenloch verweile und die Wahrheit über diese Welt womöglich gar nie erfahre …?
Ohne weiße Kaninchen, aber ebenso spielerisch geht es kurze Zeit später im Posthof weiter, wo die drei Performerinnen Deborah Hazler, Martina Rösler und Emmy Steiner sich in On the Other Side auf die Reise nach Australien begeben, um die andere Seite der Erde zu erforschen, alles und jeden auf den Kopf stellen, verkehrt zu laufen und rückwärts zu denken: Ein schönes und reichhaltiges Konzept, das nicht nur zum Perspektivenwechsel einlädt, vielmehr noch: Die Neugier auf das Fremde weckt und sowohl Kinder als auch Erwachsene anregt das Anders-Sein und sich selbst mit allen Sinnen zu entdecken …
Tag 4: Dass es mehr als zwei Seiten der Welt(-Anschauung) aufzuspüren gilt, zeigt am nächsten Tag auch das Kollektiv kunststoff, welches mit ihrem Stück Und die Erde ist doch eine Scheibe das Universum der digitalen Kommunikation in die BlackBox des Landestheaters befördert. Mit transformativen Klang- und Sounddesigns von Peter Plos und künstlerischen Visuals von nita. (Anita Brunnauer) wird der Bühnenraum mit realen Youtube-Channels und physischen Touchpads bespielt, den das Publikum später durchaus gespalten verlässt: Merkwürdige Irritation sowie das eine oder andere Fragezeichen bei den Kindern einerseits und bestätigendes Nicken der LehrerInnen und Begleitpersonen andererseits.
Follow the Rabbit
heißt die Gruppe, die danach im Central das Stück Mongos erzählt, eine berührende Geschichte über zwei Außenseiter, die sich in einem Krankenhaus kennen lernen, der eine querschnittsgelähmt, der andere nervenkrank. Humorvoll und voller philosophischer Fra­gen agieren die beiden sympathischen Schauspieler Nuri Yildiz und Jonas Werling unter der Regie von Martin Brachvogel, der sich mit adäquater Jugendsprache den Themen Liebe, Hoffnung und anderen Seltsamkeiten dieser Welt heranwagt. Die Auszeichnung mit dem STELLA-Darstellender.Kunst.Preis für junges Publikum 2018 in der Kategorie „Herausragende Produktion für Jugendliche“ kann ich an dieser Stelle nur unterstreichen.
Ermutigt, aber auch ein wenig gerüttelt von den melancholischen Szenen dieses Stücks treffe ich mich etwas später mit Anna. Eigentlich war geplant, Anna würde die gesamte Woche meine „jugendliche“ Verstärkung sein. Als 13-jährige Schü­lerin hat Anna in der Zeit des Schäxpir-Festivals (vorletzte Schulwoche!) aber einen dichten Stundenplan: Mathematik-Olympiade, Exkursion, Projekttage etc., weshalb wir uns leider nur für zwei Stücke treffen können. In ihrem knappen Zeitfenster verabreden wir uns an diesem Tag also in der Bruckneruni, um uns gemeinsam Randale und Liebe anzusehen. Auf dem Weg zum Bahnhof erzählt mir Anna danach, ihr habe der Stil des Theaterstücks recht gut gefallen, eine Inszenierung von der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien, der AHS Rahlgasse und dem Jungen Volkstheater Wien. Die Szenen wechselten zwischen dem Original-Text und den freien Interpretationen der SchauspielerInnen, von denen manche durchgehend im Publikum saßen und wodurch für Anna ein Vergleich vergangener Lebenswelten und der Gegenwart erkennbar wurde. Anna meinte außerdem, sie wäre bei der Darstellung all der unterschiedlichen Vaterrollen durchaus angeregt worden über ihren Vater nachzudenken, auch wenn die meisten davon überzeichnet und einem Stereotypus zu entsprechen schienen …
Im Zug Richtung Selzthal angekommen, verliert sich das Gespräch über das Vater-Stück schnell im Fahrtwind, trotzdem mache ich ein paar Notizen, während Anna in ihrem Buch zu lesen beginnt. Nach ein paar Stationen frage ich sie nach dessen Inhalt und Anna erklärt, sie interessiere sich für Astronomie und Physik. Dieses Buch – No idea: Vorletzte Antworten auf die letzten Fragen des Universums – sei eine witzig-ironische Sammlung von verschiedenen Themen dazu. Das aktuelle Kapitel behandle den Raum und es gehe um die Frage, ob alles Raum, dieser unendlich oder lediglich die Beziehung von Menschen und Objekten sei. Raum könne aber auch einfach nur Farbe sein. Da gäbe es in der Physik eben verschiedene Theorien, ergänzt Anna schließlich. Klingt mehr als spannend, sage ich, wobei mir das Festival-Wort Multiversum durch den Kopf geht und ich mich erneut frage, was genau all diese Stücke mit der Realität und dem Leben der Kinder und Jugendlichen zu tun haben, wohin sie zielen und wie es um die Gewichtung von Provokation, Angepasstheit, Ästhetik, Pflichterfüllung, Verantwortung, Rebellion, Pädagogik, Pop und Punk steht. Und ob bei all dem – zumindest potenziell erreichbaren – Luxus und der Vielzahl von Weltproblemen das Theater etwas Adäquates abbildet bzw. überhaupt anbieten kann und welche Rolle die hierarchische Institution mit ihrer multituden Festival-Prämisse der Teilhabe hat bzw. ob diese denn auch etwas Nützliches anpeilen kann. Und ob Jugendliche wie Anna in ihrem – trotz Schulschluss – übervollen Stundenplan überhaupt Zeit finden um ins Theater zu gehen …

Tag 5: Am Freitag schaffe ich es vormittags dann noch zu Unkraut, ein Stück mit sechs jungen Frauen mit (mir scheint) Model-Maßen, deren tänzerische Darbietung sich um den Körperkult, Macht und die Sehnsucht nach Individualität dreht, eine Inszenierung, deren choreografische Hand­schrift nur unschwer zu erkennen ist: Doris Uhlich. Nicht nur wegen der lauten Bum-Bum Musik, sondern auch wegen des persönlichen Zugangs, wenn die Mädchen nach mehreren physisch anspruchsvollen Sessions erschöpft am Boden sitzend über ihre eigenen Erfahrungen zum Thema Körper und Leistungsdruck sprechen.
Später treffen wir uns im AEC, ich bin bereits vor Ort und Anna kommt mit dem Zug extra von Zuhause angereist. Auf die­ses Angebot habe sie sich schon die ganze Woche gefreut, sagt sie. Eine Ausstellung namens Memories of Borderline von Schauspiel Dortmund (u. a. Kay Voges), die sehr vielversprechend klingt. Doch leider soll es nicht sein und dieser virtuelle Raum bleibt uns trotz Ticket-Reservierung und wegen zu großem Publikumandrangs verwehrt. Dennoch bitte ich Anna später mir ihre Erinnerung an dieses Erlebnis mitzuteilen:

Memories of Borderline
[Gedankensplitter von Anna Hofer]

Eine Installation
Mehr oder weniger digital
Mit VR-Brille, angeblich
Borderline-Syndrom
3 von 100 Leuten leiden daran
Ungefähre Anzahl derer, die die Installation sehen durften
Echt schade
Wäre sicher cool geworden
Für junge, technisch interessierte Leute
Nur sechs Leute pro Stunde sind eine Frechheit
Deprimierte Heimfahrt
In der prallen Sonne
In Gedanken an das verpasste Stück
Gratulierte still den glücklichen Gewinnern
Die es sehen durften.

Tag 6+7: An den letzten beiden Festivaltagen entscheide ich mich für ein freies Wochenende und stimme mich bei Sonnenschein und erfrischender Abkühlung auf einen hoffentlich entspannten Sommer ein, auch Anna plantscht vergnügt im örtlichen Freibad (… wohl aber nur solange ein solches in unserer Gemeinde für die Öffentlichkeit noch zur Verfügung steht …).

Zurück zum Theaterraum: Wer es wie Anna und ich ebenfalls nicht in die besagte Installation geschafft hat, wird hoffentlich im genannten Museum der Zukunft auch nach der Neugestaltung und abseits des Festivals noch Gelegenheit (?) dazu haben. Und alle, die sich diesen Sommer sowieso lieber in fremden Gefilden erholt haben oder in andersartigen Gewässern abgetaucht sind, dürfen sich schon jetzt über die Spieltermine der heimischen Szene freuen, welche sich neben den nationalen und internationalen Gruppen (insgesamt 270 KünstlerInnen) in jedem Fall nicht nur beim Schäxpir-Festival, sondern auch im Herbst in Linz und darüber hinaus unbedingt sehen lassen können:

Else (ohne Fräulein) von Thomas Arzt nach Arthur Schnitzler (ab 14 Jahren)
Si(e)Si von Silk Fluegge YOUNG Audience (ab 10 Jahren)

Und wer 2019 gar nicht in den Schäxpir-Trubel eintauchen konnte oder wollte, darf sich in diesem Fall auf die Astrologie verlassen: Laut Eröffnungsrede steht ein solches Festival nämlich schon wieder fix in den Sternen …

Das Professionelle Publikum

Die Redaktion hat für diese Ausgabe Tobias Eder, Wolfgang Fuchs, Marlene Gölz, Klaus Hollinetz, Jürgen Köglberger, Michaela Kramesch und Herbert Stöger um ihre Veranstaltungsempfehlungen gebeten. Vielen Dank!


Tobias Eder
ist Mitglied im Kulturverein „Strandgut“.

Ausstellungseröffnung Peco présentez-vous Le congo-la-merat
Ausstellungseröffnung Lafenthaler/Mayrhofer/Waldenberger: „Überunterwasser“

Wolfgang Fuchs
arbeitet am Spagat zwischen Familie, Verwaltung, Improvisationsmusik, (Klang)bildender Kunst und Text. In, um und weit weg von Linz.

CONDOR
music unlimited

 

Foto: privat

Marlene Gölz
ist Autorin und u. a. freie Mitarbeiterin im StifterHaus, wo sie in der Öffentlichkeitsarbeit tätig ist.

„Unsere Stadt ist noch niemals beschrieben worden“
Tschick

 

Foto: Werner Puntigam

Klaus Hollinetz,
geb. 1959 ist Komponist und Klangkünstler; Konzerte, Veröffentlichungen, Festivals, Workshops, Groß- und Kleinprojekte und anderes in aller Welt, Lehrbeauftragter am IEM, Kunstuniversität Graz, lebt in Traun. de.wikipedia.org/wiki/Klaus_Hollinetz

Musik im Raum TREE_TALK
IMPROVISATION ANREGEN-LERNEN-UNTERRICHTEN LECTURE-PERFORMANCE

 

Foto: privat

Jürgen Köglberger
(Köxx) ist über 10 Jahre Vorstandsmitglied im Röda und davon einige Jahre Obmann. Im Zweitleben ist er Sonderpädagoge.

Friska Viljor (SWE)
SOAP&SKIN (AUT)



Michaela Kramesch
ist Soziologin, Geschäftsführerin und Austronautin beim Freien Rundfunk OÖ.

FROzine
3. Internationales Menschrechtssymposium der Bewusstseinsregion Maut­hausen-Gusen-St. Georgen

 

Foto: privat

Herbert Christian Stöger
ist Künstler, Autor und Initiator von Lesungs- und Ausstellungsprojekten.

LOGOtheSEN 01. Literarisches zu Anestis Logothetis
LOGOtheSEN 02. Literarisches zu Anestis Logothetis
Ausstellungseröffnung Anestis Logothetis
Folge Ton #


Tipps von die Referentin

 

 

Ausstellungseröffnung The Amateur Naturalist – Uku Sepsivart
Buchpräsentation Anna Weidenholzer
Führung durch die Ausstellung „Unsere Stadt ist noch niemals beschrieben worden“
Serie von KünstlerInnenpositionen „Und eins und zwei und drei und vier“
KLANGFESTIVAL 2019 weaving in

 

Editorial

Zeitgenössische Kunst und Kultur these days: Viele, viele Künstler, Künstlerinnen, Kulturschaffende und AutorInnen sind erschüttert von den gesellschaftlichen und politischen Krisen, die sich seit geraumer Zeit anbahnen, und sich nun von ihrer aktuell unglaublich skurril-hässlichen Performance zeigen – um es so zu sagen.
Während wir hier als Editorial-Schreiberinnen Worte formulieren, sehen wir vorläufige Ergebnisse der EU-Wahlen vor unseren Augen auftauchen. Der nicht so schlimm ausgefallene, und dennoch drohende Rechtsruck in der EU wird diskutiert, Menschen wie Steve Bannon beraten weltweit in Sachen staatlicher Destruktion. Während diese Zeilen geschrieben werden, betritt ein befreundeter Autor die Räumlichkeiten und erzählt davon, dass auf einem öffentlichen Platz gerade eben rechte Parolen herumgerufen wurden, der Schock ist ihm anzusehen und wir sind ebenfalls schockiert. Genug ist eben leider nicht immer genug.
In Tagen und Zeiten wie diesen ein Editorial für ein Heft für „Kunst und kulturelle Nahversorgung“ zu schreiben, ohne sich von all dem berührt zu zeigen, ist eine Herausforderung, die schlichtweg nicht gelingt und auch nicht gelingen kann. Es geht um Gefährdung auf allen Ebenen – und diese Gefährdung spiegelt sich bis in die „lokalsten“ Realitäten und auch in vielen Beiträgen in diesem Heft.

Zum einen findet Wiltrud Hackl in ihrer Work-Bitch-Kolumne über die male Egomanen von Ibiza bis Linz klare Worte. Dominika Meindl sieht sich die Lage der Kunst- und Kulturschaffenden an, die seitens des Landes OÖ immer noch von Kürzungen betroffen sind; und die sich noch vor wenigen Tagen mit dem Umstand auseinandersetzen mussten, dass beinahe ein Deutschnationaler in den Landeskulturbeirat berufen wurde, während zeitgleich die Auftaktveranstaltung zum neuen Kulturleitbild des Landes erfolgte.

Femicides im Spiegel der Heimat beleuchtet Sarah Held, und sie dringt tiefer in die rassistischen Ressentiments, die auch hierzulande oft selbstredend mit Gewalt gegen Frauen einhergehen. Weitere Gefährdungspotentiale sind zweifelsohne im Heft auszumachen und nachzulesen, die Kunst- und Kulturprojekte sprengen aber erfreulicherweise den fatalistischen gesellschaftlichen Rahmen. Sie orientieren sich an ästhetisch und politisch größer angelegten Visionen einer besseren, sozialeren, emanzipierteren, ökologischeren Welt.

Hervorgehoben seien an dieser Stelle exemplarisch sehr unterschiedliche Texte: Einerseits jene beiden zu den Arbeiten des Papiertheater Zunders. Das Kollektiv hat sich der frühen sozialen Bestrebungen der Rätebewegung und ihrer ProtagonistInnen angenommen und berichtet quasi aus der Innensicht der Produktion. Andererseits hat Lisa Spalt den „Rurbanisten“ Christoph Wiesmayr besucht, um mehr über seine Insect City zu erfahren, beziehungsweise über eine stadtplanerische Sicht aus „insektoider Perspektive“.

Perspektivenwechsel ist jedenfalls angesagt – nach den ökologisch destruktiven Entwicklungen der letzten Jahrzehnte und auch nach den politischen Wahnsinnigkeiten der letzten Tage. Beim Schreiben des Editorials hat sich nun nach den Politnews wieder das Musikprogramm in den Äther geschoben und aus dem Radio klingt „What a Wonderful World“.

Was immer das bedeuten kann.

Die Referentinnen, Tanja Brandmayr und Olivia Schütz

People from Ibiza. Men at work – auch hierzulande

Weil die Redaktion mir hier blind vertraut, gesteht sie mir immer sehr, sehr späte Abgabe­termine zu und ich meine, angesichts des irren Wochenendes, das hinter uns liegt, hat sie auch völlig Recht damit. (Wenn ihr das lest, liegen schon wieder mehrere Wochenenden hinter euch und auch hinter mir, und ich übernehme keine Garantie dafür, wer sich bis dahin schon wieder alles besoffen, filmen lassen und selbstüberschätzt hat.)

Es hat also Ibiza gebraucht, um patriarchal gesinnten Mitmenschen zu zeigen, warum viele Bürger*innen mittlerweile der Meinung sind, dass diese eher ungeeignet sind, öffentliche Ämter zu bekleiden: nicht allein besaufen sie sich gern und reden viel, schwadronieren und wollen Frauen beeindrucken, nein, auch wenn sie nicht auf Ibiza waren und dennoch in diese Regierungskrise zutiefst verwickelt sind, beweisen sie mit ihren Aussagen, dass sie nicht im geringsten Politik für uns, die Bürger und Bürgerinnen, Politik im Sinne des Gemeinwohls und sozialen Friedens machen, sondern ausschließlich zum reinen Machterhalt, genauer vielleicht, um den Rausch, den sie aus der Idee der eigenen potentiellen Mächtigkeit und Wichtigkeit schöpfen, aufrechtzuerhalten. Diese Männer, die uns da regieren (bzw. regiert haben) leben höchstens Projektionen von sich selbst und scheitern sogar daran, sind sich selbst wohl die größte Enttäuschung. Sie sind keine Politiker, wie sie vielen von uns noch in Erinnerung sind: ideologisch, streitbar und diskursfähig und politisch im besten Sinn. Dass die Parteizugehörigkeit bei dieser neuen Form unpolitischer Politiker nicht wirklich eine Rolle spielt, unterstreicht das ihrem Wirken innewohnende Un-Ideologische, das durch unbedingten Inszenierungswillen kompensiert wird. Oder, wie die Politikwissenschafterin Natascha Strobl in ihrer fundamental wichtigen Analyse der Kurz’schen Reaktion es beschreibt: „Rabiate Selbsterhöhung und einschmeichelnde Bescheidenheit. Er opfert sich wieder und stellt es offensiv zur Schau. Schaut, wie arm er ist und was er erduldet. Jetzt kommen wir an gefühlt 57. Stelle zu den eigentlich problematischen Dingen des Videos. Aber die Priorisierung zeigt uns, dass es nur noch ein Nebengedanke ist. Und auch nur, um wieder sein Narrativ des „für uns“ zu bedienen. Sein politischer Zugang ist, uns zu dienen. Und gleich macht er wieder das Gegensatzpaar zu den anderen auf, dieses Mal zur FPÖ, die das leider nicht so sieht, wie ihm heute plötzlich in Gesprächen klar geworden ist. Was für ein Schock! Deswegen muss es jetzt Rücktritte geben. Das war so zuvor nicht absehbar.“

Spannend – wenngleich nicht überraschend –, dass nach diesem Wochenende auch andere türkise Politiker diesem Ductus folgen. Thomas Stelzer etwa, oberösterreichischer Landeshauptmann, Kulturreferent, nach Ibizagate ebenso in der Bredouille mit seiner FPÖ-Koalition wie Kurz auf Bundesebene, gibt sich im ersten Ö1-Morgenjournal nach diesem Wochenende ebenso nichtssagend und ablenkend, spricht immer noch von „roten Linien“, die die FPÖ jetzt überschritten hätte, und dass man nun „klärende Gespräche“ führen müsse. Das ist schlicht Realitätsverweigerung, denn allein die Causa Manfred Wiesinger hat Stelzer eine Woche davor ausreichend offene Briefe, Appelle und Mails beschert, die ihn auf permanent überschrittene rote Linien auch seitens der oberösterreichischen FPÖ aufmerksam gemacht haben. Erst als der Wind strenger ins Gesicht weht, und das eigene Ansehen in Gefahr gerät, hat sich Stelzer – möglicherweise nicht ganz ohne Drängen aus Wien – entschlossen, Wiesinger als Mitglied des oö. Landeskulturbeirats doch abzulehnen. Das ist nicht Politik im Sinne einer respektvollen, demokratischen Bevölkerungsmehrheit, die den Begriff der „Minderwertigkeit“ gegenüber zeitgenössischen Künstler*innen oder das dreist zur Schau gestellte Frauenbild eines Herrn Wiesinger schlicht ablehnt, da steht der eigene Machterhalt im Vordergrund, da steht die Inszenierung im Vordergrund, die Handlungsfähigkeit und Entscheidungsmacht suggerieren soll, eine Inszenierung, die wiederum Anleihen an Kurz nimmt: „Er entscheidet. Es war also seine Entscheidung und nicht die Not der Umstände, dass es Neuwahlen gibt. Denn nur so kann ER uns wieder die gute Zeit bringen. Mit uns und als einer von uns. Die anderen sind nicht willens oder sie sind schwach. (…) Es braucht klare Verhältnisse. Es braucht Ordnung. Es braucht Eindeutigkeit. Weg aus dem Chaos und der Dramatik. Hin zum Guten und Schönen, für das ER steht.
Als Fazit lässt sich festhalten, dass es zu 99 % nur um Kurz, seine Rolle und sein Empfinden für uns und unser Empfinden für ihn geht. Es geht nicht auf einer Sachebene um die schweren Verfehlungen der FPÖ oder den Schaden für die Republik. Es geht nur um Kurz. Es ist faszinierend, wie viel man über sich selbst reden kann.“

Was Natascha Strobl in kürzester Zeit aus Kurz’ Rede herausgearbeitet hat, ist ein Sittenbild aktueller patriarchaler Politikkultur. Es ist eine Form von populistischer Politik, die nicht – so zeigt sich spätestens jetzt – von einer politischen Vision, einem politischen Ziel getragen ist, die uns allen – unabhängig davon, welcher Partei wir unsere Stimme geben, zugutekommen soll. Als Beispiel darf ich meinen Vater, ÖVP-Mitglied, bringen, der voll des Lobes für die sozialdemokratische Bildungspolitik war, einfach, weil er sich eingestehen konnte, dass die zu einer gerechteren Gesellschaft beitragen wird. Eine gerechte Gesellschaft, eine Gesellschaft, die Zugänge zu Bildung, Strukturen und Ressourcen für alle bietet, hat die oben beschriebene Politinszenierung eines Kurz oder Strache der letzten 17 Monate, haben diese Politiker nicht im Blickfeld. Darüber sollten wir uns im Klaren sein und davor ist im Übrigen keine Partei gefeit, solange sie überwiegend und in ihren Grundfesten patriarchal strukturiert ist.

 

www.falter.at/archiv/wp/ich-ich-ich

dotheyknowitsprovinzposse.eu

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Provinzposse mit Happy End?

Oberösterreich ist ein Bundesland für Menschen, die Ambivalenzen ertragen. Dank des Wirtschaftsbooms darf sich die Landesregierung über 100 Millionen mehr im Budget freuen, Frauen, Kulturschaffenden und sozial Schwache werden aber von der schwarzblauen Koalition behandelt, als sei sie insolvent. Gerne rühmt sie sich der „Aufarbeitung“ der NS-Geschichte, zugleich wählt sie um ein Haar einen Deutschnationalen in den Kulturbeirat. Ein Stimmungsbild mit Aufforderungscharakter von Dominika Meindl.

Ein erster lauer Abend Anfang Mai. Mit Mühe müssen die freundlichen MitarbeiterInnen der Kul­turdirektion die Men­schen, die angeregt in Trauben vor der Landesbibliothek schwat­zen, in das kühle Haus treiben. Ein neues Kulturleitbild soll entstehen, und dieser Abend bildet den Auftakt für einen längeren Diskussionsprozess. Nicht geplant ist eine Diskussion darüber, warum es überhaupt eines neuen Leitbildes bedarf – das „alte“ ist gerade einmal zehn Jahre alt und in etlichen Punkten noch gar nicht umgesetzt.

Die Stimmung ist betont freundlich. Nach den heftigen Protesten der freien Kunst- und Kulturszene gegen den Kahlschlag im Vorjahr und existenzbedrohendem Chaos in den Förderabteilungen (#kulturlandretten) bemüht man sich seitens des Landes offensichtlich um ein gutes Auskommen. Die Anwesenden werden in Gruppen ge­teilt, die Autorin landet in jener mit dem Titel „Kunst als Botschaft nach außen und Motor nach innen“. Ein redegewandter Mitarbeiter der Landesregierung erklärt, es gehe hier um die „Positionierung der oberösterreichischen Kultur als Marke“. Die Mitglieder diskutieren artig über die Einbindung der Jugend, eine junge Frau lobt das Förderwesen. Die Autorin verkneift sich ein Augenrollen und schreibt konstruktiv „Landesmusikschulwesen auf sämtliche Sparten ausdehnen“ auf die Flipchart.

Fünf Tage später positioniert die Landes-FP die heimische Kultur auf ihre ganz eigene Weise: Sie nominiert Norbert Ho­fers Lieblingsmaler Manfred „Odin“ Wie­singer für den Landeskulturbeirat. War der mäßig geniale Innviertler Kunstmaler bis dahin hauptsächlich in freiheitlich-deutschnationalen Kreisen bekannt, dürf­ten seine Vita und seine Geisteshaltung nun hinlänglich bekannt sein. Wer im Mai auf Urlaub oder im Tiefschlaf war: Wie­sin­gers Lieblingssujet sind schlagende Bur­schenschafter und Wehrmachtsoldaten, Frauen sind für ihn schon mal ein „hässliches und dummes Stück Fleisch“, beim Holocaust ist er sich nicht sicher, und seinen KritikerInnen droht er nach den heftigen Protesten: „Euch merke ich mir, und irgendwann seid ihr dran.“ Hinweise etwa der Grazer AutorInnen Autorenversammlung Oö, dass seine Mitgliedschaft gegen das oberösterreichische Kulturfördergesetz (Kultur als „Trägerin einer humanen Gesellschaft) verstoße, ver­hallten ungehört.

Die zunächst erfolgreiche Nominierung durch die FPÖ geriet zum beabsichtigten Skandal; dem rechtsextremen Flügel schien seine Legitimierung und Normalisierung über die Gremien zu gelingen; die Opposition sowie die Kunst- und Kulturschaffenden entflammten in hellem Zorn, die unnötige Posse zog Kreise bis ins Ausland. „Was ist denn da bei euch schon wieder los?“, war die Frage des Tages. So viel zur „Kunst als Botschaft nach außen“. Landeshauptmann Thomas Stelzer verwies kühl auf die Gepflogenheit, das Nominierungsrecht anderer Par­teien zu respektieren. Die Oberösterrei­chi­schen Nachrichten vertraten die Blattlinie, dass man sich habe provozieren lassen wie ein Kind, dass auch schon Thomas Bernhard ein Provokationskünstler gewesen und dass der Landeskulturbeirat ohnehin zahnlos sei.

Auch die folgenden Ereignisse sind bestimmt noch bestens bekannt: Die FPÖ jag­te auf Ibiza die Koalition in die Luft. Hektisch wurden auch auf Landes- und Ge­meindeebene „Diskussionsprozesse“ eingeleitet. Fazit: Die FPÖ muss ihren Sicherheitslandesrat, Aula-Fan und AfD-Berater Elmar Podgorschek opfern. Und der Landeshauptmann hat die Eingebung, dass „Odin“ Wiesinger im Kulturbeirat doch untragbar ist. Podgorschek und Wiesinger treten zurück, um weiteren Schaden von ihren Familien fernzuhalten.

Dem Land und seinem Kulturbeirat ist eine gewaltige Peinlichkeit erspart ge­blie­ben, Schaden ist dennoch zur Genüge angerichtet. Es bleibt zu hoffen, dass die Ver­antwortlichen Konsequenzen ziehen. Der Beirat hat kein Politikum zu sein, sondern ein Gremium aus bewährten Fachkräften, dem die Bedeutung beikommt, die es verdient. Wie absurd ist es eigentlich, wenn die Regierungsparteien Fixplätze mit ih­ren Vertrauensleuten besetzen, dann aber die Empfehlungen nicht einmal ignorie­ren?

Und wenn es schon eines neuen Kulturleitbildes bedarf, möge die Politik ihre Verantwortung wahrnehmen und darin den in der Verfassung verankerten Anti­faschismus festschreiben. In ihrem ge­mein­samen Protestbrief schlugen KUPF und die Gesellschaft für Kulturpolitik folgenden Satz vor: „Ein neues Kulturleitbild muss ein ganz klares und glaubwürdiges Bekenntnis zu einer demokratischen, offenen, inklusiven Kulturpolitik enthalten, die alle rechtsextremen, identitären Kultur- und Heimatbilder, die sich aus einer Geisteshaltung ableiten, von der Öster­reich 1945 befreit wurde, eindeutig ab­lehnt.“ Word. Das muss gar nicht mehr diskutiert werden und stünde Oberösterreich, dem Spitzenreiter bei rassistischen und rechtsextremen Straftaten, auch mehr als gut an. Gar nicht mehr diskutiert werden muss auch eine adäquate Frauenpolitik; sämtliche Kürzungen müssen flugs zu­rückgenommen und per Neuformulierung im Landesfördergesetz verhindert werden. Mit diesem „Motor nach innen“ dürfte die Kulturpolitik des Landes wirklich eine „Botschaft nach außen“ senden. Und wir alle müssen uns nicht schämen, wenn wir das Wort „Heimat“ hören. Irgendwann können wir es dann vielleicht sogar ohne Anführungsstriche ans Ende eines Essays schreiben.

Femicides im Spiegel der Heimat

 

Sarah Held gibt Einblicke in die Verflechtungen von genuin feministischen Forderungen und einer Regierungspolitik, die mit sexualisierter Gewalt gegen Frauen fremdenfeindliche Politik betreibt.

Österreichische Zustände – Femicides im Spiegel von Heimat und rassistischer Ressentiments
Mit der Schlagzeile „Die Taten werden brutaler“ zitiert Silvana Steinbachers Artikel in der letzten Ausgabe der Referentin aus dem aktuellen (Zeitungs-)Diskursuniversum zum Thema Frauenmorde in Österreich. Frauenmorde bzw. Femicides sind hierzulande demnach seit Beginn des Jahres eklatant gestiegen. Dieses Gespräch über einen wichtigen gesellschaftlichen Missstand wird auch stark von Boulevard-Formaten und rechten Parteien/ Gruppierungen beeinflusst. An die Gedanken der Kollegin anschließend gibt dieser Artikel weitere Einblicke in die Verflechtungen von eigentlich genuin feministischen Forderungen und einer Regierungspolitik, die mit sexualisierter Gewalt gegen Frauen fremdenfeindliche Politik betreibt.
Zur Erinnerung bzw. Einführung an dieser Stelle zunächst einmal die Definition: Femicides, ein Neologismus aus den englischen Begriffen Female und Homicide, sind Verbrechen gegenüber Frauen (in der Regel handelt sich um Frauen, aber auch als Frauen gelesene Personen sind davon betroffen), die meistens von Männern ausgeübt werden, die durch Hass, Dominanzverhalten und Machtasymmetrien motiviert sind. Patriarchal geprägte Gesellschaftsordnungen, in denen Sexismus allgegenwärtig ist, perpetuieren diese misogynen Mechanismen. Im kulturellen Gedächtnis sind Femicides fest mit südamerikanischen Ländern verzahnt, so wurde das im Norden Mexikos liegende Ciudad Juárez zum Sinnbild des Grauens. Dort wurden seit den 1990er Jahren mehrere tausend Frauen ermordet oder sind verschwunden. Daher ist auch das spanische Kofferwort Feminicidio sehr geläufig. Es handelt sich also scheinbar um Verbrechen, die assoziieren, dass sie in der Ferne und nicht in der Heimat stattfinden. Das wirft die Frage auf, wer ist wo von wem und generell davon am meisten betroffen? Zudem scheint diese Verbrechenskategorie nicht nur auf sprachlicher Ebene einen exotischen Anstrich zu haben. Exotisch, wird hier im Sinne von weit weg verstanden, also Verbrechen, die von den Anderen an Anderen im Anderen ausgeübt werden. Soweit der eurozentrische Blick und seine kulturelle Wirkmächtigkeit auf gesellschaftliche Ausschluss- und Wahrnehmungsmechanismen innerhalb von westlichen Industriekulturen Mitteleuro­pas. Seitens der FPÖ/ÖVP-Regierung wird die steigende Rate an Frauenmorden mit einer gestiegenen Zuwanderungsrate aus Krisengebieten begründet. Zudem erscheint es einfach, dabei mit dem Finger in Richtung Südamerika zu zeigen und hegemoniale Verhältnisse als Begründung für barbarische Phänomene wie Femicides anzuführen.

Post-Colonialism und rassistisch gefärbte Instrumentalisierungen im Strafgesetz
Die Silvesternacht 15/16 in Köln markiert eine Zäsur in der öffentlichen Wahrnehmung von sexualisierten Übergriffen gegenüber Frauen. Wie keine andere Stadt ist Köln zur Chiffre für sexualisierte Gewalt geworden, die von migrantischen Männern an deutschen Frauen verübt wurde. Dazu beigetragen hat auch die rassistisch-pauschalisierende Sprache der örtlichen Polizei, die die Täter als „Nafris“ (Abkürzung für Nordafrikaner) bezeichnete. „‚Köln‘ steht also für die Behauptung, dass bestimmte Migranten nicht integrierbar sind, sich nicht integrieren wollen und dass es ‚irgendwie‘ doch fundamental unüberwindliche Differenzen zwischen Kulturen gibt.“1 Unter dieser Formel werden im deutschsprachigen Raum aktuell Themen, die zwischen Femicides, sexualisierter Gewalt und Sexualstraftaten oszillieren, von politisch rechten Lagern und Regierungsparteien verwendet, um rassistische Ressentiments zu schüren und fremdenfeindliche Politik zu machen. So verkünden die österreichischen Politikerinnen Edtstadler, Bogner-Strauss und Kneissl auf einer Pressekonferenz im Januar dieses Jahres, dass es einen kausalen Zusammenhang zwischen den gestiegenen Femicides und aktuellen Migrationsbewegungen gäbe. Vergleicht man damit die polizeistatistischen Zahlen, die auf der Homepage der österreichischen Frauenhäuser veröffentlicht sind, wird die Aussage als Panikmache und rassistisches Ressentiment dekonstruiert: „Insgesamt gab es 2018 55 Mordfälle sowie 76 Täter, davon waren 41 Inländer, 35 Täter kamen aus dem Ausland. Laut Medienberichten wurden in den ersten Monaten des Jahres 2019 schon 10 Frauen von ihren (Ex-) Partnern oder Familienmitgliedern ermordet.“2 Die verschärfenden Strafrechtsmaßnahmen, die gerade unter Türkis-Blau in Österreich stattfinden, dienen weniger dem Betroffenenschutz als der Katalysierung von rassistischen Mechanismen, denn ein strengeres Strafrecht in diesen Fällen beschleunigt Abschiebeverfahren. Mit dieser Politik treten vor allem traditionelle Muster von Dämonisierungsmechanismen in den Vordergrund. Die Trope des bösen, fremden (schwarzen) Mannes, der im öffentlichen Raum lauert, um Sexualdelikte zu begehen, wird damit verstärkt. Die Bestärkung dieses Diskurses ist höchst problematisch, da so nicht nur Rassismen perpetuiert, sondern auch Frauen* der Aufenthalt im öffentlichen Raum nicht nur diskursiv eingeschränkt wird.
Das ist immer noch besonders paradox, denn es ist nun kein Geheimnis, dass ein Großteil der verübten sexualisierten Gewalttaten und Sexualdelikte im persönlichen Nahraum betroffener Personen stattfindet und häufig von vertrauten Personen ausgeübt wird. Eine Verschärfung des Strafrechts, gerade im Kontext von Aussage gegen Aussage, ist somit für die Betroffenen eher Hindernis als Befreiungsschlag – zumal sich Betroffene ohnehin mehr Schutz- und Unterstützungsmaßnahmen wünschen. Genau diese Supportmöglichkeiten, welche häufig von Vereinen, Frauenhäusern oder Nichtregierungsorganisationen übernommen werden, sind allerdings stark von Kürzungen betroffen. Im Narrativ der anti-feministischen und reaktionären konservativen Politik von Türkis-Blau lässt sich mit echtem Betroffenenschutz eben kein Wahlpublikum gewinnen. Schließlich gehören zu deren Zielen keine echten soziopolitischen Maßnahmen zur Unterstützung Betroffener bzw. zur Vermeidung von Sexualdelikten. Bei der aktuellen Fokussierung handelt es sich lediglich um eine rassistisch aufgeladene Instrumentalisierung von Übergriffsfällen.

Trotz aller dystopischer Realitäten, die aktuell vorherrschen, sollte trotzdem der Blick auch auf positive Entwicklungen gerichtet werden. Denn neben dem Demonstrieren auf der Straße werden auch wei­terhin neue feministische Zusammenschlüsse und Allianzen gebildet. Als Beispiel sei hierbei ein junger Verein aus Wien erwähnt: Changes for Women (im Folgenden kurz Changes). Die engagierten Gründerinnen, zu denen auch ich gehöre, möchten mit ihrem Verein als Schnittstelle zwischen ungewollt Schwangeren und Abtreibungskliniken fungieren. Leider haben in Österreich nicht alle ungewollt Schwan­geren Zugang zu Abtreibungskliniken. Das hat auch mit der demographischen Struktur der verschiedenen Bundesländer zu tun, aber häufig sind es finanzielle Gründe. Das österreichische Gesundheitssystem übernimmt keine Kosten für einen Schwangerschaftsabbruch. Die einzige Personengruppe, die finanziell unterstützt wird, sind Menschen, die Mindestsicherung erhalten. Das bedeutet, dass alle, die nicht gezwungen sind, auf diesem prekären Level zu leben, sondern anderweitig nahe der Armutsgrenze sind (wie Studierende oder geringfügig Tätige), aus dem Raster herausfallen. Diese Lücke möchte Changes füllen und ungewollt Schwangere mit niederschwellig erreichbaren Finanzierungsunterstützungen auffangen. Gerade im Kontext der toxischen Abtreibungspolitik von christlich bis zuweilen fundamentalistisch gefärbten Politstrategien stellt der Verein einen Lichtblick am dunklen Polithorizont Österreichs dar. Der Verein möchte die feministische Parole „Your Body, Your Choice“ ein Stück weit verwirklichen und ungewollt Schwangeren die Möglichkeit schaffen, selbst über den Zeitpunkt der Familienplanung zu entscheiden. Changes steht hier exemplarisch für ein feministisches Aufbegehren in Stellvertretung für eine Vielzahl von Gruppen, die mit ihrer Arbeit versuchen, Österreich ein bisschen weniger sozialkalt zu machen.
Wenn eingangs auf die steigende Brutalität misogyner Verbrechen referenziert wurde, möchte ich abschließend anmerken, dass die strukturelle Brutalität, die von der aktuellen Regierung ausgeht, ebenfalls exponentiell steigt. Man denke an dieser Stelle an die vermeintlich behindertenfreundliche Abtreibungskampagne „#fairändern“, die von Regierungsmitgliedern öffentlich unterstützt wird. Diese fördere einen schrittweisen Abbau vom Recht auf körperliche Selbstbestimmung und die Folge könnte ein sukzessiv umgesetztes generelles Abtreibungsverbot sein.3

 

Changes im Web: changes-for-women.org

1 Hark, Sabine; Villa, Paula-Irene: Unterscheiden und Herrschen. Ein Essay zu den ambivalenten Verflechtungen von Rassismus, Sexismus und Feminismus in der Gegenwart. 2017. S. 10.

2 Zahlen und Fakten zu geschlechterbedingten Gewaltverbrechen: www.aoef.at/index.php/zahlen-und-daten (aufgerufen am 08. 05. 2019)

3 Horaczek, Nina: „Das Ziel ist es den legalen Schwangerschaftsabbruch zu Fall zu bringen“, März, 2019. www.falter.at/archiv/wp/das-ziel-ist-den-legalen-schwangerschaftsabbruch-zu-fall-zu-bringen (aufgerufen am 08. 05. 2019)