Buchtipp

8M – Der große feministische Streik Konstellationen des 8. März

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#VivasNosQueremos, #NosMueveElDeseo, #NosotrasParamos – Wir wollen uns lebend(ig). Uns bewegt der Wunsch. Wir Frauen streiken. So gelangen die Slogans neuer feministischer Bewegungen aus Lateinamerika seit 2016 als Hashtags zu uns. Die hier versammelten Texte untersuchen die Genealogien dieser vielfältigen Bewegungen, die aus einem lauten Aufschrei gegen blutige, regelmäßig ungestrafte Feminizide entstanden und schließlich als internationaler feministischer Streik 2017 und 2018 massive Dimensionen erreichten. Die Mitte dieses Streiks bildet allerorts die entscheidende Frage, wie Sorgearbeit bestreikt werden kann. Ausgehend von einem tiefen Überdruss gegenüber allen Formen machistischer Gewalt tritt der Streik hier als sorgfältiges Flechten eines gemeinsamen Gewebes, als gemeinsames Organisieren und Lernen auf, aber auch als unmissverständliche Warnung: Mujeres en huelga, se cae el mundo – Wenn die Frauen streiken, zerfällt die Welt. Das Buch ist die erste deutschsprachige Publikation, in der Aktivistinnen aus Argentinien, Mexico, Uruguay, Brasilien, den USA und Italien zu Wort kommen. Mit Beiträgen von Verónica Gago, Raquel Gutiérrez Aguilar, Susana Draper, Mariana Menéndez Díaz, Marina Montanelli, Marie Bardet / Suely Rolnik. Aus dem Spanischen von Michael Grieder und Gerald Raunig. Mit einem Vorwort von Isabell Lorey.

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Popkulturelle Sextherapie im Abbruchklo

Die Coming-Of-Age-Serie „Sex Education“ dreht sich um das Sextberatungsprojekt „Clinic“, das an der Morendale High von der toughen Meave initiiert wird. Sarah Held hat sich die Serie angesehen und stellt hier einige Charaktere mit ihren toxischen bis vulnerablen Männlichkeitskrisen vor. Auch wir meinen: quite zeitgeisty.

Schauplatz der postmodernen Teenie-Sextherapie. Foto Netflix

Schauplatz der postmodernen Teenie-Sextherapie. Foto Netflix

In der von Maeve kurzerhand aus Geldnot initiierten „Clinic“ übernimmt der schüchterne Otis die Rolle des Sextherapeuten. Trotz seiner Jungfräulichkeit kann er aufgrund seiner Erziehung sowie des heimlichen Belauschens der Therapiesitzungen bei seiner Mutter Jean, renommierte Sex- und Paarpsychologin, in dieser Rolle agieren. Die hormonelle Achterbahn des adoleszenten Klientels der Moredale High wird von nun an im asbestverseuchten Abbruchklo der Schule therapiert.

Die Serie bietet eine große Auswahl divers angelegter Identifikationscharaktere, darüber hinaus auch eine Vielzahl interessanter Untersuchungsaspekte – eine thematische Fokussierung ist besonders schwer. Meine Wahl fällt auf die Thematisierung von toxischer Männlichkeit, personifiziert durch Adam Groff, Sohn des Schulleiters, ein Bully, der zwar mit einem immens großen Penis ausgestattet ist, aber unter einer psychosomatischen Dysfunktion leidet. – Adam kann nicht abspritzen. Kontrastierend hierzu ist er mit einem Repertoire vermeintlich typisch maskuliner Eigenschaften ausgestattet, denn er verkörpert die heilige Dreifaltigkeit idealisierter Maskulinität, bestehend aus stattlicher Größe inkl. körperlicher Stärke, Brutalität und wortkarger Verschlossenheit. Er entspricht somit Archetypen wie John Rambo, John Wayne oder John McClaine. Deshalb führe ich an dieser Stelle den Modellbegriff Testo-John als semiotische und somatische Schablone für hegemoniale Männlichkeit ein. Folgt man dem sozialen Script, das dieser Persona zugrunde liegt, ist es absolut nicht verwunderlich, dass Adam im Staffelfinale post-koital homophobe Züge aufweist. Denn während einer Arrestsitzung haben er, bisher als heterosexuell inszeniert, und sein bevorzugtes Objekt der Drangsalierung, Eric, Sex. Letzterer ist ein queerer Charakter, der seine Vorlieben für Crossdressing und Make-Up trotz sozialer Repression und Gewalt auslebt. Dessen Gesprächsversuche über die sexualisierten Handlungen werden von Adam strikt verboten und mit Gewaltdrohungen unterstrichen, falls Eric je mit anderen darüber sprechen sollte. Ironischerweise ist es Adam, der danach im Unterricht heimlich körperliche Nähe zu Eric sucht. Dieses Handlungsmuster deckt sich ebenfalls mit der Persona Testo-John, da echte Männer schlicht keine Worte, sondern nur Taten benötigen und vor allem schon gar nicht schwul bzw. bi sind.

In Adaption bester freudscher Manier suche ich die Ursache für Adams (Fehl)verhalten natürlich beim Vater. Schulleiter Groff gehört ebenfalls der Kategorie Testo-John an und sozialisiert Adam dementsprechend. Das Verhältnis von Sohn und Vater ist durch Strenge, Repression, Sanktionen, sozio-emotionalen Druck und Härte geprägt. Das lässt kaum Raum für liebevollen Umgang und positive Bestärkung. Die stereotype Emotionspalette erlaubt nur eine asymmetrische Gefühlsperformance, alle affektiven Regungen, die nicht dem aggressiven Spektrum angehören werden pauschal als feminin, wenn nicht gar direkt als schwul und damit schwächlich deklariert. Zeichen der Zuneigung zeigt Groff Sen. öffentlich gegenüber dem Schulsportstar Jackson und impliziert Adam somit unverkennbar die eigenen Defizite und zementiert das unterkühlte Vater-Sohn-Verhältnis. Dabei ist hervorzuheben, dass die positive Bestätigung weniger echter Sympathie zur Person Jackson, denn mehr von finanzieller Begabtenförderung motiviert wird. Das starre Unvermögen des Familienpatriarchen wird durch den emotionalen Sozialkitt der Mutter versuchsweise ausgeglichen. Gleichzeitig nutzt der Vater Groff die Vulnerabilität der Mutter als Druckmittel gegen Adam. Konservative (Familien)Politik der harten Hand wird als restriktives Modell inszeniert, das im Privaten (wie auch im Politischen) zum Scheitern verurteilt ist.

Vulnerable Maskulinität

Eric ist als gegensätzliche Figur zu Adam lesbar. Gerade das Verhältnis zwischen Eric und seinem Vater eignet sich als Kontrastfolie, obwohl der religiöse Vater einem ähnlichen sozialen Script wie Schulleiter Groff folgt, denn er ist vom Schwul-Sein seines Sohnes irritiert und leistet im ersten Teil der Staffel wenig Unterstützung. Nach einem tätlichen homophoben Übergriff auf Eric scheint dieser zwar für einige Zeit gebrochen und wählt einen gedeckten Kleidungsstil, findet aber durch schwule Rolemodels zu seiner schräg-schrullig-queeren Identitätsperformance zurück. Sein Vater macht ebenfalls einen Entwicklungsprozess durch und erkennt endlich seinen Sohn in all seinen Persönlichkeits-Facetten an. Weiters leistet er den nötigen väterlichen Support mit emotionaler Care-Arbeit. Die Serie zeichnet ihn somit als wandelbaren Charakter, der bereit ist, sich aufgrund sozialer Verhältnisse zu verändern.

Protagonist Otis ist auch kontrastierend zur Persona Testo-John angelegt. Bei ihm wird deutlich ein Identitätsmuster gezeichnet, das signalisiert, das auch durch die hyper-liberale und offene Erziehung der Mutter ebenfalls Defizite ausgebildet werden können. Die Sextherapeutin überfordert bzw. beeinträchtigt Otis mit ihrer direkten Art in seiner Entwicklung. Als Folgeerscheinung hat er Masturbations- und Sexprobleme. Zudem ist sie überwachend, beispielsweise, wenn sie Otis bei einem Partybesuch hinterherfährt. Die Situation wird von Adam treffend mit „I thought my parents were controlling!“ kommentiert.

Abschließend

Sex Education dient als Trojanisches Pferd für queer-feministische Anliegen. Die Serie zeigt Themenkomplexe von kriselnder Männlichkeit, das Aufheben von Klassenunterschieden, die Implementierung lesbischer Ehe als scheinbar normative Bilderbuchfamilie sowie die Inszenierung von tougher Weiblichkeit, außerdem markiert sie Queer-Sein als cool. Pointiert und selbstreferenziell wird das Thematisieren von Männlichkeit in der Krise in der letzten Folge als „quite zeitgeisty“ bezeichnet.

Neben der Darstellung verschiedener Tücken der Pubertät sind Personalitätsentwürfe, die Fehler machen und auch mal scheitern dürfen, omnipräsent. Das ist eine interessante Entwicklung, denn in den vergangenen Jahrzehnten wurden in der Popkultur tendenziell eher Teenie-Figuren gezeigt, die der Mainstream-Idee von Coolness entsprechen, man denke dabei insbesondere an diejenigen 80er-Jahre High-School-Filme, die coole Cliquen und Popular-sein als non plus ultra stilisierten. Etwas Ähnliches geschieht bei Sex Education auch, aber mit einer großen Portion ironischer Reflexion, wenn beispielsweise Aimee zwar als „most popular girl in school“ inszeniert wird, aber eigentlich unter ihren Cool-Kids-Freund*innen leidet und heimlich mit der von ihnen als asozial bezeichneten Maeve befreundet ist.

Abschließend ist für mich zu sagen, dass mir Sex Education in meiner Rolle als Kulturwissenschaftlerin, Genderforscherin sowie als profane Konsumentin einfach total viel Spaß macht; zumal auch diese Serie mit einem großartigen Soundtrack auffährt.

Feminismus & Krawall

Illustration Silke Müller

Illustration Silke Müller

„Wir müssen furchtlos gegen den Strom schwimmen.“

Das kollektive Gedächtnis und ihre Gedächtnisverluste: Olga Misar war unerschütterlich in einer Vielzahl früher emanzipatorischer Bewegungen engagiert. Die 1876 in Wien in eine jüdische Textilhändlerfamilie geborene feministische Autorin, Rednerin und Organisatorin portraitiert Brigitte Rath.

Bild Nachlass Leopold Spitzegger, Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich, Universität Graz.

Bild Nachlass Leopold Spitzegger, Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich, Universität Graz.

Nur wenige Frauen dominieren den österreichischen Kanon der Ersten Frauenbewegung. Die bürgerliche Feministin, Philosophin und Multifunktionärin Rosa Mayreder und die sozialdemokratische Feministin und Abgeordnete zum Nationalrat Adelheid Popp gehören dazu. Dass diese Bewegung ein weitverzweigtes Netzwerk mit einer Vielzahl von – zum Teil heute unbekannten – Aktivistinnen unterschiedlicher politischer Herkunft war, bleibt dabei oft ausgeklammert. Eine dieser Aktivistinnen, die in ihrer Zeit sehr bekannt war und heute kaum mehr erinnert wird, ist Olga Misar. Sie war in unterschiedlichen emanzipatorischen Bewegungen engagiert, überschritt die Grenzen traditioneller Frauenpolitik und trat als aufmerksame politische Beobachterin und Kommentatorin in Erscheinung.

Die am 11. Dezember 1876 in Wien in die jüdische Textilhändlerfamilie Popper geborene Olga verbrachte ihre Jugend in England und heiratete 1899 – sie war inzwischen zum evangelischen Glauben übergetreten – den Mittelschulprofessor und Freimaurer Wladimir Misar, späteren Sekretär der Großloge Wien. Im Jahr 1900 bekam das Paar die Zwillinge Olga und Vera.

Love and Peace

Seit 1908 trat Olga Misar als Referentin zu diversen Themen in der bürgerlichen Frauenbewegung auf. Mitgliedschaften in unterschiedlichen bürgerlichen Frauenvereinen, wie dem Stimmrechtsverein oder dem Allgemeinen Österreichischen Frauenverein (AÖF), kennzeichneten ihr Engagement. Als Journalistin für den Österreichischen Bund für Mutterschutz von 1911 bis 1912 setzte sie sich für die Entdiskriminierung unehelicher Mütter ein, forderte eine Legalisierung von Abtreibung und die Einführung von staatlichen Unterstützungen bei Geburten. Politische Erkenntnisse und persönliche Erfahrungen – sie hatte eine länger andauernde Liebesbeziehung neben ihrer Ehe – führten dazu, dass sie 1919 die 60 Seiten umfassende Broschüre „Neuen Liebesidealen entgegen“ veröffentlichte. In dieser sexual-ethischen Schrift kritisierte sie die bürgerliche Ehe als einzige Form legitimer Sexualität, analysierte den Einfluss der Religion und sparte auch nicht mit Vorwürfen gegen die konservative Haltung der bürgerlichen Frauenbewegung.(1)

Im Weltkrieg war die Mehrzahl der Frauen patriotisch gesinnt und trat für soziale Unterstützung an der Heimatfront ein. Gemeinsam mit einer kleinen Gruppe von gleichgesinnten Frauen, die im genannten AÖF engagiert waren, entwickelte Misar ein friedenspolitisches Engagement. Dies bedeutete eine Überschreitung der traditionellen Frauenrolle bis hin zu einer Einmischung in die allgemeine Politik. Ihren Überlegungen lagen geschlechtsspezifische Zuschreibungen und Differenzierungen, z. B. Vorstellungen einer stärkeren Friedensliebe von Frauen, zugrunde. Gemeinsam mit der Journalistin und Feministin Leopoldine Kulka, mit der sie eine enge Freundschaft verband, nahm sie an der internationalen Frauenfriedenskonferenz in Den Haag im April 1915 teil. Bei diesem außergewöhnlichen Treffen von Frauen aus kriegführenden und neutralen Ländern wurden mögliche Friedenslösungen diskutiert und die Unabdingbarkeit des Frauenwahlrechts gefordert.

Mut gegen den patriotischen Mainstream aufzutreten bewies Olga Misar durch ihre Beteiligung an weiteren Friedensversammlungen während des 1. Weltkrieges, die ab 1917 vermehrt abgehalten wurden. – Wohl nach dem amerikanischen Vorbild der Women’s Peace Party – engagierte sie sich auch in der 1917 gegründeten Friedenspartei. Das Engagement in der ab 1919 als Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit (IFFF) bezeichneten Organisation behielt Misar – in unterschiedlicher Intensität – bis zu ihrem Tod im Oktober 1950 bei. Bei der 3. Internationalen Tagung der IFFF 1921 in Wien brachte sie das „Gelöbnis keinen Waffendienst zu leisten“ ein.(2) Dem Gelöbnis für den Kriegsdienst, das bei der Aufnahme in die Armee zu leisten war, stellte sie eine frühe Form des Slogans der Friedensbewegung der 1970er Jahre – „Stell dir vor es ist Krieg und keiner geht hin“ – entgegen. Ihre Hinwendung zum Antimilitarismus war stark von den Theorien des österreichischen Anarchisten Rudolf Großmann, (als Pseudonym Pierre Ramus) getragen, mit dem sie auch eine Freundschaft verband. Dieser Publizist, Redner und Aktivist war wesentlich im Bund herrschaftsloser Sozialisten engagiert und gab die Wochenzeitschrift Erkenntnis und Befreiung heraus. In dieser Zeitschrift publizierte Misar etwa über Gewaltlosigkeit oder gegen die Einführung eines Berufsheeres. Die begabte Rednerin reiste häufig in kleinere Orte, beispielsweise in der Steiermark, wo der Bund herrschaftsloser Sozialisten viele Mitglieder begeistern konnte, um dort über Antimilitarismus oder das Engagement von Frauen für den Frieden zu referieren.

Frauenwahlrecht

Als Frauen im Jahr 1919 bei den ersten Wahlen das aktive und passive Wahlrecht erhielten, kandidierte Olga Misar für eine der zahlreichen bürgerlichen Parteien, der Demokratischen Mittelstandspartei. Diese hatte der Multifunktionär, Schriftsteller und Abgeordnete zum Reichsrat Ernst Viktor Zenker im Oktober 1918 ins Leben gerufen. Auf ihrem Programm standen Frieden, die Einführung der Zivilehe, eine Ablehnung des Anschlusses an Deutschland und stattdessen die Forderung nach einem wirtschaftlichen Zusammenschluss mit Nord- und Südslawen. Mit dieser Forderung stand die Partei im Gegensatz zu fast allen anderen Parteien. Misar betrieb einen intensiven Wahlkampf und im Winter 1919 trat sie beinahe täglich bei Wahlveranstaltungen auf.

In welchem Ausmaß antifeministische Schmähungen in dieser Zeit auch bei Intellektuellen verbreitet waren, zeigt folgender Eintrag in der pazifistischen Wiener Wochenzeitschrift „Der Friede“. Der bekannte Journalist Anton Kuh schrieb am 25. Oktober 1918 in der Rubrik „Deutschösterreichisches“: „Man liest jetzt in der Zeitung viel von radikalen Versammlungen. Es sprechen unter anderen: ,Reichsratsabgeordneter Neumann, Bezirksvorsteher Blasel, Frau Professor Misar.‘ Kein Zweifel: Wien steht vor einer Rohövolution.“(3) Mit Rohö war die Reichsorganisation der Hausfrauen Österreichs gemeint, deren Vorsitzende Helene Granitsch für die Bürgerlich Demokratische Partei kandidierte. Ziel dieser misogynen Schmähung wurde jedoch Olga Misar, die keine Verbindung zur Rohö hatte. Die Bedeutung transnationalen Austauschs innerhalb der Frauenbewegung wird auch sichtbar als Misar zwei Jahre später, nach ihrem Misserfolg bei den Wahlen von 1919, für die schwedische feministische Zeitschrift Hertha. tidskrift för den svenska kvinnorörelsen (=Hertha: Zeitschrift für die schwedische Frauenbewegung) die Entwicklung der Repräsentanz von Frauen im parlamentarischen System beschrieb. Kritisch stellte sie fest, dass Parteien qualifizierte Frauen oft an unwählbarer Stelle hinter mittelmäßigen Männern reihten und nur die Sozialdemokratische Partei ernsthaft für die Rechte der Frauen eintrat. Bürgerliche Frauen seien von der wirtschaftlichen Not besonders betroffen und daher nicht in der Lage sich politisch zu engagieren.(4)

Ihr eigenes Engagement konzentrierte sich in den 1920er Jahren auf die Organisation des Bundes der Kriegsdienstgegner, für den sie unermüdlich Vorträge hielt, Demonstrationen organisierte, an Kongressen teilnahm, und eine Vielzahl von Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln veröffentlichte. Von 1923 bis zu seiner behördlichen Auflösung 1936 war sie als Sekretärin dieser Organisation tätig.

Wie schwierig es war, in einer Situation ständig steigender physischer Gewalt einen Diskurs über Frieden und Kriegsdienstgegnerschaft zu führen, lässt sich immer wieder feststellen. Bei einer Versammlung im Jahr 1926 äußerte sie über die Arbeit der Kriegsdienstgegner Folgendes: „Wir müssen furchtlos gegen den Strom schwimmen, uns nicht durch Schmähungen oder Hohn beirren lassen. Wer gegen den Strom zu schwimmen wagt ist eine Kraft und wirkt als solche; wer mit dem Strom schwimmt, wird von ihm mitgeführt und wirkt überhaupt nicht als selbstständige Kraft, wird vom Strom verschlungen.“(5)

1928 organisierte sie in Sonntagsberg bei Waidhofen an der Ybbs das 2. Internationale Treffen der War Resisters International, der transnational agierenden Dachorganisation der Kriegsdienstgegner, an dem über hundert Teinehmer aus aller Welt gezählt wurden.

In den folgenden Jahren beteiligte sie sich an Zusammenschlüssen der zersplitterten Friedensorganisationen. Für diesen Zusammenschluss lud sie im Oktober 1931 Mahatma Gandhi mit folgenden Worten nach Wien ein: „All of us would be happy and honoured if we could once in our lives see Gandhi, who is for us the personification of non-violence and who has practically realised our ideal.“(6) Den Brief adressierte sie an Gandhi, London. Dieser erreichte ihn auch; allerdings konnte er die Einladung nicht annehmen.

Exil in England

Im April 1939 flüchteten Olga und Wladimir Misar ins englische Exil nach Enfield, nördlich von London. Während des Krieges blieb ihr politisches Engagement beschränkt. 1946 äußerte sie sich noch in gewohnt optimistischer und kämpferischer Weise brieflich bei der Tagung der IFFF, dass es in der Zukunft neue Methoden des Friedensaktivismus brauche.(7)

Nach Olga Misars Tod im Jahr 1950 beschrieb die Vorsitzende der englischen Gruppe der Women’s International League for Peace and Freedom (WILPF), Barbara Duncan Harris, in ihrem Nachruf ebenfalls die optimistische Einstellung von Misar, die bei einem Meeting, in dem die Frage des fehlenden Nachwuchs problematisiert wurde, geäußert hätte:  „I am old, and I am poor, but I have gathered a few women together to interest them in the WILPF.”(8) Olga Misar war unerschütterlich in einer Vielzahl emanzipatorischer Bewegungen engagiert und sollte daher stärker im kollektiven Gedächtnis verankert sein!

 

 

1 Olga Misar, Neuen Liebesidealen entgegen, eingel. von Brigitte Rath, Reprint von 1919, Wien 2017.

2 Wiederabgedruckt in: Beatrix Müller-Kampel (Hg.), „Krieg ist Mord auf Kommando“ Bürgerliche und anarchistische Friedenskonzepte, Bertha von Suttner und Pierre Ramus, Nettersheim 2005, 247–249.

3 Der Friede, Bd. 2, Nr. 40, 25. 10. 1918, 315.

4 Olga Misar, Österrikiskorna och de politiska partierna. (Die Österreicherinnen und die politischen Parteien), in: Hertha. Tidskrift för den svenska kvinnorörelsen, 1, (1921), 8–10.

5 Bund der Kriegsdienstgegner Österreichs, in: Erkenntnis und Befreiung, 7/10 (1926), 2–3.

6 Brief von Olga Misar an Gandhi vom 22. Oktober 1931, Archiv des Sabarmati-Aschrams. Gandhi befand sich zur zweiten britisch-indischen Round-Table Konferenz von September bis Dezember 1931 in London.

7 Letter from Olga Misar, in: X. International Congress of the Women’s International League for Peace and Freedom, Luxembourg, Geneva 1946, 64–65.

8 In: Pax International, 16/5 (1950), 3.

Buchtipp

Die schönen Kriegerinnen
Technofeministische Praxis im 21. Jahrhundert
Cornelia Sollfrank (Hg.)

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Die schönen Kriegerinnen versammelt sieben aktuelle technofeministische Positionen aus Kunst und Aktivismus. Auf höchst unterschiedliche Weise erweitern diese die Denk- und Handlungsansätze des Cyberfeminismus der 1990er Jahre und reagieren damit auf neue Formen von Diskriminierung und Ausbeutung. Geschlechterpolitik wird unter Bezugnahme auf Technologie verhandelt, und Fragen der Technik verbinden sich mit Fragen von Ökologie und Ökonomie. Die unterschiedlichen Positionen um diesen neuen Techno-Öko-Feminismus verstehen ihre Praxis als Einladung, an ihre sozialen und ästhetischen Interventionen anzuknüpfen, dazuzukommen, weiterzumachen, nicht aufzugeben. Mit Beiträgen von Christina Grammatikopoulou, Isabel de Sena, Femke Snelting, Cornelia Sollfrank, Spideralex, Sophie Toupin, hvale vale, Yvonne Volkart. (Verlagstext)

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5050 en 2020

100 Jahre Frauenwahlrecht – und wir weichen kein Stück zurück.

Im Gegenteil. Wir fordern weiter und wir wollen mehr. Wir wollen Macht, wir wollen politische Macht, wir wollen finanzielle Macht, wir wollen Entscheidungsmacht und absolute selbstbestimmte Handlungsfreiheit und -hoheit in unseren eigenen Entscheidungen, Selbstbestimmung über unsere Körper und unsere Reproduktionsorgane.

Der Angriff auf das Abtreibungsrecht war mit dieser reaktionären ReGIERung früher oder später zu erwarten. Zählt das Weib doch nur als Brutstätte des nachkommenden Brutto-Sozialprodukts. Mancher Mann meint ob seiner ‚Objektivität‘ – da er keine Kinder bekommen kann – stehe ihm das alleinige Entscheidungsmonopol zu (!). Frauen sind ja viel zu emotional, hysterisch und können in dieser Lage keine vernünftige Entscheidung treffen. Diese selbsternannten ‚Retter des Lebens‘ aberkennen das Leben der Frau. Als Reproduktionsmaschine hast du kein eigenes Leben zu führen oder zu wünschen.

Die Sorge um die Reproduktionsfähigkeit war seit dem 19. Jahrhundert die dominanteste Argumentation gegen eine Teilhabe von Frauen im Sport. Es galt als unästhetisch, vermännlichend und medizinisch bedenklich – wegen der möglichen Unfruchtbarkeit. Interessanterweise forderte zuvor im Jahre 1762 der Pädagoge Rousseau genau das Gegenteil, nämlich die körperliche Ertüchtigung der Frauen, damit sie kräftigen Nachwuchs zur Welt bringen.

Doch aller Hürden zum Trotz erkämpften sich die Frauen mühsam ihren Zugang zum Sport und zu Wettkämpfen. Bei den Olympischen Spielen 1932 triumphierte Ellen Müller-Preis als Österreichs bisher einzige Fecht-Olympiasiegerin. 1949 wurde sie als 1. SportlerIN des Jahres geehrt. In ihrer unglaublichen Laufbahn gewann sie neben Gold noch 2 olympische Bronzemedaillen, 3 WM-Titel, 8 weitere WM-Medaillen und 21 nationale MeisterInnentitel. Im Alter von 44 Jahren erreichte sie noch das Olympische Finale. Im Anschluss an ihre Karriere unterrichtet sie u. a. Bühnenfechten am Max Reinhardt Seminar für eine ziemlich bekannte Schar an SchauspielerInnen und Kunstschaffenden.

Einer anderen Fechterin, Elisabeth Knechtl, die 1993 die Gesamtwertung im Weltcup gewann, wurde bei Olympia 1996 in Atlanta die Chance genommen, eine Goldmedaille im Degen zu erkämpfen, weil der Platz vom ÖOC für einen Funktionär (!) benötigt wurde. Passt zu den seit 2015 neu bestehenden OÖ Schnapser-Regeln: Bauer sticht Frau bzw. männlicher Funktionär sticht weibliche Olympiamedaillenhoffnung! Ach ja, freundlicherweise wurde das ganze ca. eine Woche vor Abflug per Telegramm (!) mitgeteilt.

Seit 1984 organisiert die APA die Wahl zum Fußballer des Jahres. 34 Jahre später wurde nun endlich die 1. Fußballerin des Jahres gewählt. Sarah Zadrazil. Mittelfeldspielerin im Österreichischen Nationalteam und bei Turbine Potsdam in D.

Das bedeutendste Filmfestival Deutschlands, die Berlinale, stand dieses Jahr im Fokus der FilmemacherINNEN. Von der Berliner Tagespost als „Festival der Frauen“ tituliert. Prinzipiell find ich das super, aber was heißt das konkret? 100% Frauenfilme, Filme von Frauen oder Filme über Frauen?! Nein, aber immerhin sind 7 der 17 Wettbewerbsfilme von Regisseurinnen (von 21% auf 42%), auf insgesamt 400 Filme kommen 191 Regisseurinnen (47,75%). Diese Quoten sind unglaublich im Vergleich zu anderen Filmfestivals. Der scheidende Festivalleiter hat trotz alledem ein Gleichstellungsversprechen nach dem französischen Vorbild „5050 en 2020“ unterzeichnet. Damit verpflichtet sich die Berlinale, die Leitungen und Auswahlgremien paritätisch zu besetzen und Transparenz bzgl. der Geschlechterverteilung bei Filmeinreichungen und -auswahl zu gewährleisten. Eine Konsequenz dieser filmischen Frauenförderung sind die vielen wunderschönen vielfältigen, starken Frauenbilder, die immer mehr auf der Leinwand zu sehen sind. JUHUUU!!

In dasselbe Horn bläst das Mission Statement von FC Gloria*. Filme von Frauen zeigen den Blick von Frauen auf die Welt und fördern so das weibliche Selbstverständnis. In diesem Sinne freue ich mich schon auf Sabine Derflingers Dokumentation über Johanna Dohnal: Wir wollen die Hälfte vom Kuchen!

 

!!! FRAUEN*STREIK am WFT 8. März 2019 – in Österreich und weltweit !!!
ReGIERung gegen die Frauen – Frauen gegen die ReGIERung und deren patriarchales, frauenfeindliches, rassistisches, kapitalistisches, neoliberales System frauenstreikt.noblogs.org (→ es gibt viele Möglichkeiten zu streiken)
→ Streiksymbol sind lila Tücher

Feminismus & Krawall am WFT 8. März 2019 in Linz ab 16h beim AEC www.feminismus-krawall.at

* www.fc-gloria.at steht für die Wahrnehmung der künstlerischen, wirtschaftlichen, rechtlichen, sozialen und politischen Interessen von Frauen in der österreichischen Filmbranche.

Die kleine Referentin

Terri Frühling/Elke Punkt Fleisch

Terri Frühling/Elke Punkt Fleisch

Linz und der NS, wir und der NS

Erinnerungskultur in der ehemaligen Führerstadt Linz: Anlässlich abgesagter Stolpersteine und einem neuen Gedenkprojekt hält Wolfgang Schmutz ein Plädoyer für ein herausforderndes Erinnern.

Im Erinnern an den Nationalsozialismus sollte Konsens herrschen, so meint das historisch aufgeklärte, antifaschistisch gesinnte, verantwortungsbewusste Österreich, ich nenne sie einmal: die Wohlwollenden. Das sei doch selbstverständlich, in einem Land mehr als 70 Jahre danach, obwohl, ja, mit einer zäh erkämpften Anerkennung der Opfer und einem spät erfolgten und trüben Blick auf die Täterschaft. Aber mit öffentlichen Bekenntnissen der Staatsspitzen, die, zugegeben, in der Regel umfangreicher ausfielen, als die tatsächlichen Entschädigungen oder Förderungen von Gedenkstätten und Erinnerungsprojekten. Aber immerhin. Die Mission Anerkennung sollte, gibt man sich nur ein wenig bescheiden, erfüllt sein. Aber war es jemals angebracht, hier bescheiden zu sein?

Darüber rede und schreibe ich schon ein paar Jahre. Vielleicht zu offensiv, zu ungestüm, nicht einladend genug. Jedenfalls hat noch kaum jemand öffentlich darauf reagiert. Zustimmung ist, was ich im Halbschatten ernte, was zur Seite gesprochen wird, aber nicht geradewegs in die Mikrofone. Aber auf welche Resonanz sollte meine Kritik auch stoßen, wenn die Selbstzufriedenheit, zumindest etwas bewegt zu haben, stets einnehmender ist und sich auch besser mit dem Pathos des „Nie wieder!“ vereinbaren lässt? Ein Pathos ohne Erfolge wirkt schal, und niemand müht sich gerne umsonst ab. Das gilt auch für mich, den Kritiker. Gefalle ich mir zu sehr in meiner Rolle? Öffne ich oder schließe ich Zugänge? Gehe ich zu weit, weiter als man mir folgen möchte? Worauf ich abziele, ist ein Diskurs (widersprecht mir!), jedenfalls ein Prozess, in dem möglichst viele entdecken, wie sie ihren Zugang zu einer schwierigen Geschichte finden und den Ereignissen auf den Grund gehen können. Und was es heißt, dazu Stellung zu beziehen. Ich bin der mit dem Bildungspathos.

Geschichte als Flachware und die Utopie des Erinnerns

Es geht mir aber nicht um feststehende Lektionen, wie etwa: Töten ist schlecht! Antisemitismus ist schlecht! Rassismus ist schlecht! Dazu brauchen wir den Holocaust nicht, das ist kein Lernen im eigentlichen Sinn, und das verzerrt am Ende nur das historische Bild, wie es der Didaktiker und Kurator Paul Salmons präzise formuliert. Je voreingenommener wir in die Vergangenheit blicken, desto weniger sehen wir. Tun wir es mit einer zu spezifischen Agenda, moralisch, politisch, ideologisch, filtern wir die Widersprüche heraus. Was eigentlich geschehen ist, wird zugunsten einer wohlfeilen Lektion vereinfacht, wie es genau geschehen ist, muss dafür in den Hintergrund treten. Blicken wir etwa auf Opfer, Täter*innen, Bystander, Widerständige als abgezirkelte Gruppen, als feststehende und unveränderliche Rollen? Bad guys and girls against good ones? Es ist viel komplizierter, viel komplexer als uns lieb ist, als mir lieb sein kann. Je tiefer ich in die Geschichte schaue, je mehr ich mich mit den Akteuren, ihren Entscheidungen und Handlungen beschäftige, desto verwirrter werde ich, einerseits. Andererseits erkenne ich mich mehr und mehr wieder, entdecke meine Verwandtschaft, meine eigenen Kapazitäten als Mensch.

Ich rede hier nicht von Opferschaft. Zu dieser Gruppe kann ich niemanden zählen, der zu meinen Vorfahren gehört. Und das gilt für die Allermeisten. Außerdem entscheiden die Opfer nicht, Opfer zu werden, aber Täter zu sein, dazu kann sich jede*r entscheiden. Und Täter*innen brauchen Dritte, die Täter*innenschaft ermöglichen und Opferschaft zulassen. Diese Dritten sind in der Regel die Mehrheit. Eine Mehrheit, mit der wir uns historisch aber so gut wie gar nicht beschäftigen. Wenn, dann nur als naive, jubelnde, verführte oder geblendete Masse. Nie mit Individuen, die nachdenken, abwägen, sich entscheiden, sich im Sinne der eigenen Interessen verhalten und handeln. Wir setzen uns kaum mit den Beweggründen dieser Mehrheit auseinander, mit jener Position, die wir am wahrscheinlichsten innehaben würden, die unsere Vorfahren mehrheitlich innehatten. Stattdessen widmen wir uns immer wieder den Opfern, in Bildungskontexten wie im Gedenken, wir leiten die entscheidenden und drängendsten Fragen auf sie um, und diese damit von uns selbst weg. Wir benutzen die Opfer als Totem unserer mangelnden Verantwortung und nennen es würdiges Erinnern. Ist es das? Anerkennen wir damit wirklich ihre Opferschaft? Was laden wir ihnen damit zusätzlich auf? Niemand ist dafür gestorben, dass wir Töten für schlecht halten können. Diese Instrumentalisierung der Geschichte, die Verflachung der Ereignisse und ihrer Protagonisten macht unseren Blick auf den Nationalsozialismus zur rückwärtsgewandten Utopie: So wie wir mit ihr umgehen, wird die Vergangenheit nie gewesen sein.

Zeichen und Bezeichnetes

In der Ausgestaltung des Erinnerns hat sich diese Utopie, haben sich deren Formen längst festgesetzt. Heroische Monumente gehören zum festen Inventar von Gedenkstätten. Sie suggerieren, dass KZ-Häftlinge für die Freiheit von ganzen Nationen gestorben wären, sie erzählen von der Selbstvergewisserung europäischer Länder, jeweils Opfer gewesen zu sein und lenken das Scheinwerferlicht weg von Kollaboration und Duldung. Alles ist auf das Opfererinnern zugeschnitten. Das ist per se nicht falsch, denn mit dem Anerkennen der Opfer fing es an. Das Problem ist, damit hört es bis heute meistens auch auf. Wir haben keine Form entwickelt und generell kaum eine Sprache dafür, wie wir der Täterschaft und deren Unterstützung erinnern könnten. Es schwingt manchmal mit, aber explizit, geschweige denn zu einem Fokus wird es nicht.

Jüngere Formen des Gedenkens haben sich von der heroischen Formensprache verabschiedet, künstlerische Gestaltungen machen vielschichtige Perspektiven auf. Und doch fokussieren sie nach wie vor auf die Opferschaft. Auch die Stolpersteine tun das. Ihre Stärke besteht aber darin, jene Stellen zu markieren, an denen die Opfer ihren letzten frei gewählten Wohnsitz hatten. Sie liegen vor Häusern, im öffentlichen Raum, durchsetzen und markieren, was wir nicht a priori als geschichtlich relevante Umgebung betrachten würden. Die Stolpersteine verweisen darauf, dass es in einer Nachbarschaft seinen Anfang nahm, dass die Opfer aus der Mitte einer Gesellschaft rekrutiert wurden. Sie sind ein Türöffner zu dieser Dimension der Taten. Auch wenn sie nicht ansprechen, wie die Deportationen abliefen, aufgenommen und angenommen wurden. Aber auf dieses Ausbuchstabieren käme es an.

Worüber wir nicht stolpern sollten

Trotz dieser Einschränkungen: Ich habe die Petition für Stolpersteine in Linz unterschrieben. Weil es ein dezentrales Erinnern ist, das in die Gesellschaft hineinreicht, den öffentlichen Raum bespielt und dadurch die Erinnerung an den entscheidenden Ort bringt. Ich habe unterschrieben, weil die Gegenwehr des Linzer Bürgermeisters kaum nachvollziehbar war, er durchsichtig argumentierte und dies obendrein im Brustton einer proto-autokratischen Überzeugung vorgetragen hat. Aber um ihn soll es hier nicht gehen. Die Stadt, das ist nicht ihr Bürgermeister! Die Petition half jedenfalls, es gab ein Einsehen. Und nun, da ein Gedenkprojekt beschlossen ist, wird alles gut? Nein, denn wir befinden uns nach wie vor in der Logik einer Anerkennung von oben. Das vom Bürgermeister erwartete Einlenken ist ein von ihm kontrolliertes und limitiertes: Geladene Künstler (nach welchen Prämissen?) repräsentieren ebenso wenig wie er die Stadt, und eine Jury (wie ist deren Stimmrecht gewichtet?) ist noch kein Prozess. Doch der politische Gewinn, er wird von den Initiatoren der Petition bereits eingelöst. Leider.

Nehmen wir Anteilhabe ernst, steht die eigentliche Auseinandersetzung aber erst bevor. Dabei könnte man auf rezente Zeiten zurückgreifen, in denen die Potentiale eines herausfordernden Gedenkens sichtbar wurden. Temporäre Ausstellungen und Projekte im Kulturhauptstadtjahr 2009 waren nicht nur wohlgelitten, man sorgte sich auch um das Image der ehemaligen „Führerstadt“. Es gab Konfliktstoff. Heute jedoch ist die Fassade am Brückenkopf wiederhergestellt, die Spuren von „Unter uns“ haben sich verwischt, die Stencils von „In situ“ sind verblasst. Eine vergleichbare Stadt wie Nürnberg hat sich derweil längst auf den Weg gemacht, leistet sich ein Dokumentationszentrum, renoviert den Schauplatz Zeppelintribüne und spricht nach außen wie nach innen offensiv über dieses Erbe. Den Anfang nahm alles mit einer Handvoll Geschichtestudent*innen, die damit begannen, Gruppen über das ehemalige Reichsparteitagsgelände zu führen. Heute hat der Verein „Geschichte für Alle“ über 400 Mitglieder, und ehemalige Gründer*innen forschen und gestalten im städtischen Auftrag.

Stadt der Erinnerungsarbeit?

Der Vergleich macht sicher: Linz hat immer noch einen weiten Weg vor sich. Die wiederkehrende Aufzählung bisheriger Leistungen in Sachen „Aufarbeitung“, mit der sich die Stadt zu schmücken pflegt, wandert seit über zwei Jahrzehnten via copy-paste von einem Papier zum nächsten, mit nur geringfügigen Ergänzungen. Es ist höchste Zeit, für eine Entwicklung zu sorgen, die sich wirklich fortschreibt. Aufgrund des Mangels nun für etwas Dauerhaftes wie die Stolpersteine zu plädieren, ist verlockend. Hilfreicher ist es jedoch, eine andauernde Auseinandersetzung ins Auge zu fassen. Damit diese sich verändern, ergänzen, wandeln kann.

Es geht um einen Richtungswechsel, auch perspektivisch. Als Bürger*innen sollten wir nicht darauf warten, was von oben verordnet oder genehmigt wird. Relevanz entsteht, wenn man etwas an sich nimmt, etwas vertritt und sich dazu exponiert, sich mit anderen dazu austauscht und vereinbart. Eine Stadt mag gut oder weniger gut mit Zuschreibungen leben, Bürger*innen, die etwas auf ihre gesellschaftliche Rolle halten, sollten eigeninitiativ Profile und sinnstiftende Angebote entwickeln. Die mehr als 2360 Unterzeichnenden der Stolperstein-Petition, sie könnten einen ersten Schritt in diese Richtung machen, hin zu einer Stadt der Erinnerungsarbeit. Wenn es schon ein Etikett sein soll.

Zukunft denken

Der Audiowalk „über.morgen“ führt im April durch eine Stadt der Zukunft. theaternyx* arbeitet an Wirklichkeit, die das Morgen im Heute überschreibt. Theresa Luise Gindlstrasser hat Regisseurin Claudia Seigmann zum Gespräch getroffen.

Hier wurde Zukunft noch geprobt: 8 Minuten Audiowalk-Testlauf im Dezember vor dem Menschenrechtsbrunnen. Foto theaternyx

Hier wurde Zukunft noch geprobt: 8 Minuten Audiowalk-Testlauf im Dezember vor dem Menschenrechtsbrunnen. Foto theaternyx

„Schluss mit dem Patriarchat. Die gesamte Gesellschaft hat sich neu geordnet, musste sich neu ordnen, weil sich plötzlich niemand mehr in einem Abhängigkeitsverhältnis befunden hat. Damit musst du erstmal lernen umzugehen. Ein Wahnsinn! Zum Beispiel: Gender Pay Gap? Plötzlich null. Das war earthshaking“, zeigt sich eine Zeitwohlständerin zufrieden. Es ist das Jahr 2050. Mikro-Oasen und Indoor-Biotope laden während der heißen 37-Grad-Mittagsstunden zum Verschnaufen ein. Bedingungsloses Grundeinkommen für alle und technologische Entwicklungen gewährleisten die Voraussetzungen für das „Recht auf Nicht-Effizienz“. Willkommen in Linz! Willkommen bei „über.morgen“!

Ab 4. und bis zum 14. April bittet theaternyx* zum performativen Stadtspaziergang durch Linz. Der Audiowalk führt eine Reisegruppe von 25 Personen durch den öffentlichen Raum. Mit Kopfhörern ausgestattet, lauscht das Publikum der Erzählstimme, dem Sounddesign von Abby Lee Tee und Christian GC Ghahremanian, den Stimmen von Zeitzeug*innen, die aus dem Jahr 2050 zurückblicken, Entwicklungslinien aus unserer Gegenwart in die behauptete Zukunft zeichnen. Während die Reisegruppe von der Erzählstimme angeleitet durch Linz manövriert, wird die visuelle Gegenwart mit einer Audio-Zeitreise überschrieben. Startpunkt für die 80-minütigen „über.morgen“-Touren ist am OK-Platz.

Aus dem Anspruch heraus positive, ermächtigende Geschichten zu erzählen, arbeitet theaternyx* – seit Gründung im Jahr 2000 durch Claudia Seigmann und Markus Zett – vor allem an ortsspezifischen Stückentwicklungen. 2009 gab es für „siebenundzwanzig. eine geistergeschichte“ den Bühnenkunstpreis des Landes Oberösterreich. 2017 für „DREIHUNDERTFÜNFUNDSECHZIG+“ eine Nominierung für den Stella – Darstellender Kunst Preis für junges Publikum. Für die bei „über.morgen“ angestrebte Kombination aus Stadtspaziergang und Wirklichkeitsüberschreibung gibt es ein Vorgänger-Projekt: 2016 eröffnete Corinne Eckenstein ihre erste Spielzeit als künstlerische Leiterin am Dschungel Wien – Theaterhaus für junges Publikum mit der Produktion „Quartier 2030 – Die Stadt sind wir“. Seigmann konzipierte damals für das Areal des Museumsquartiers einen Performance-Parcours mit utopischem Ausblick. Die Welt im Jahre 2030 wurde als eine grünere vorgestellt. Als eine mit mehr Dachgärten, mehr Windmühlen und weniger Müll. Eigentlich gar keinem Müll. Denn, so erklärte es die Stadtführerin, jeder Abfalleimer sei an das zentrale Mikrotransportsystem angeschlossen, das die weggeworfenen Objekte an die Hersteller zurück und also zum Recyceln freigibt. Das Publikum wurde in Gruppen von Station zu Station geleitet, insgesamt sechzehn Performende sorgten für die Darstellung dieser Vision einer besseren Zukunft. Es gab eine Brücke der Wünsche, an der die Visionen geäußert werden konnten, eine Terrasse, von der herab auf sich fröhlich drehende Menschen geblickt werden konnte und einen Flur, an dem Gedanken über das bedingungslose Grundeinkommen gebracht wurden.

Für „Quartier 2030 – Die Stadt sind wir“ wurde eine fertige, funktionierende Gesellschaft der Zukunft gezeichnet ohne auf dystopische, totalitäre Implikationen zu verweisen. Fürs aktuelle Projekt, das den Schritt vom Morgen (2030) ins Übermorgen (2050) wagt, spielen mehr oder minder dystopische Assoziationen aber durchaus eine Rolle. Die Zeitzeug*innen verhandeln den Wandel, den Bruch, das Katastrophenmanagement, die Ideen, jedenfalls die Veränderungen, die von einer Gesellschaft 2019 zu einer Gesellschaft 2050 geführt haben. Die Verweise ins Heute sind mannigfaltig: Da geht es um Ressourcenknappheit, um Arbeitsplätze und darum, wie die Gesellschaft der Zukunft zu Entschleunigung und Nachhaltigkeit gefunden hat. „Technologie kann uns frei spielen für ein anderes Miteinander“, so Seigmann. Ob die Zeit langsamer laufen soll? „Unbedingt!“.

Die Anbindung der heutigen Erlebniswelt ans utopische 2050 – auch durch Herausarbeitung der Differenzen die zwischen der visuellen Gegenwart und der Audio-Zukunft bestehen – legt den Fokus auf den Weg dorthin, „es wird ihn brauchen, den Weg“, sagt Seigmann. Die Zukunft 2050 soll nicht als bloße Utopie gedacht (Utopie als altgriechisch für Nicht-Ort), sondern das Denken von Zukunft generell als prinzipiell möglich herausgestellt werden. Nicht Zauberei wird die Klimakatastrophe verhindern, nicht irgendein Nicht-Ort wird als fertiges Paradies bereit stehen, sondern Ideen und Handlungen sind nötig. „So wie es ist, so kann es nicht bleiben“. Damit zielt theaternyx* in Richtung individuelle und gesellschaftliche Selbstermächtigung und sieht „über.morgen“ als emanzipatorisches Unterfangen. Dass die Zukunft 2050 dabei nur über das Hören zugänglich ist, öffnet die Augen für die Differenzen, für die Handlungsmöglichkeiten heute. Das Aktivieren der Phantasie, der Vorstellungskraft ist für theaternyx* ein großes Anliegen. Das Gehen in der Gruppe, bei gleichzeitiger Vereinzelung bzw. Sensibilisierung für Körper im Raum durch das Tragen von Kopfhörern unterstreicht diesen Ansatz. Wenn „Quartier 2030 – Die Stadt sind wir“ eine Vision von Zukunft vor allem einmal vorgestellt hat, dann macht „über.morgen“ eine Zukunft erlebbar.

„Ich meine, alle wesentlichen Entwicklungen in Bezug auf Nachhaltigkeit sind ja ewig in die falsche Richtung gelaufen. Nicht nur bei uns. In den 2010er Jahren gab es dann endlich immer mehr Versuche über Gesellschaftssysteme nachzudenken, die sensibel mit den bestehenden Ressourcen umgehen. Obwohl ich auch sagen muss, dass sich der Glaube an das heilbringende Wirtschaftswachstum noch sehr lange gehalten hat. Es ist ja nicht so leicht eine Religionsgemeinschaft von ihrem kollektiven Irrglauben zu überzeugen.“

Das neue Leitungsteam am NTGent um den Theatermacher Milo Rau hat sich im Mai 2018 ein Manifest gegeben. Dessen erster Punkt lautet: „Es geht nicht mehr nur darum, die Welt darzustellen. Es geht darum, sie zu verändern. Nicht die Darstellung des Realen ist das Ziel, sondern dass die Darstellung selbst real wird“. Was es in diesem Kontext bedeutet, die Welt als eine schon veränderte darzustellen? „Wir stellen die Welt als eine veränderbare dar, wir sagen, dass sie sich verändert und sprechen eine Einladung zur positiven Veränderung aus“, erklärt Seigmann, „es ist komplex“. Für „über.morgen“ haben Claudia Seigmann und Markus Zett zum wiederholten Male mit der Autorin und Dramaturgin Claudia Tondl zusammengearbeitet. „Es gab viel zu tüfteln“, so zum Beispiel in Bezug auf den Straßenverkehr, „die Erzählstimme muss ja auch auf rote Ampeln reagieren können“. Und wie geht das? „Das verraten wir nicht“. Der Audiowalk wird auch Teil des internationalen Symposions „Superstadt!“ der Kunstuniversität Linz im Mai 2019 sein. Vielleicht lüftet sich ja dann das Geheimnis der roten Ampeln.

 

Premiere: 04. April, 17:00 Uhr
Weitere 10 Spieltermine: 05. – 14. April
Start- und Endpunkt: OK Offenes Kulturhaus, OK-Platz 1
Der Audiowalk führt zirka 80 Minuten zu Fuß durch die Stadt.
Kartenvorverkauf: Moviemento & OK Kassa. Infos: 0732/784090.
Mehr Infos: theaternyx.at

Mehr über den Audiowalk im Rahmen des Kunstuni-Symposions „Superstadt!“ im Mai: theaternyx.at

Konsequenzen, Schwimmen, Fliegen

YAAAS! bei Crossing Europe: Innerhalb der neuen Jugendschiene wurde von Gleichaltrigen ein Spielfilmprogramm von sechs Filmen mitprogrammiert. Drei davon hat sich die von der Referentin beauftragte Schülerin Valerie Straßmayr im Vorfeld angesehen – und gibt einen Vorgeschmack auf ein Programm zwischen Roadtrip und Coming of Age, und auf mögliche Diskussionsthemen.

Všechno Bude – Winter Flies (CZ/SI/PL/SK 2018) Foto: Cercamon Films

Všechno Bude – Winter Flies (CZ/SI/PL/SK 2018) Foto: Cercamon Films

Posledice / Consequences.

Es wird Konsequenzen geben! Glaub nicht, dass du so davonkommst! – Aber welche Konsequenzen kann es für jemanden geben, der nichts zu verlieren hat? Posledice ist ein slowenisch-österreichisches Jugenddrama von Darko Štante, was zugleich auch sein Langfilmdebüt ist. Der Film porträtiert das Leben des 18-jährigen Andrej (Matej Zemljic), der, nachdem er vermehrt straffällig auffiel, zu einem Aufenthalt in einem Heim für kriminelle Jugendliche verurteilt wurde. Dort soll er resozialisiert und für die Arbeitswelt vorbereitet werden. Doch sobald er ankam, merkt er, dass hier eine ganz andere Hierarchie herrscht, in der er, zumindest derzeit, ganz unten ist. Die Alphas Žele (Timon Šturbej) und Niko machen sich einen Spaß daraus, Andrej zu mobben. Die Betreuer sind hilflos und überfordert. Das wird Konsequenzen geben! Ich werde sonst die Polizei rufen müssen! – Schon sind sie am Ende ihres Vokabulars. Nichts und niemand kann die Jugendlichen stoppen. Im Heim lernt Andrej seinen Zimmergenossen Luka kennen, dieser bestreitet den Alltag, indem er ein Mitläufer ist und sich nicht gegen Želes Clique wehrt. Andrej möchte mehr, er will Teil der Gruppe werden. Nun darf er die Jungs am Wochenende, der Freizeit, auf Partys begleiten. Sie nehmen gemeinsam Kokain und andere Drogen. Sie stehlen Autos und schlagen Leute zusammen, es kommt sogar zu einer Messerstecherei. Andrej verfängt sich immer mehr in dem Netz aus Lügen und Gewalt, aus dem er nicht mehr aussteigen kann. Seine Position in der Gruppe festigt sich vor allem, nachdem ein Neuer ins Heim kommt. Mitar wird das nächste Opfer, das an seinen Platz verwiesen wird. Zwischen Žele und Andrej kommt es zu einer sexuellen Annäherung. Sie tanzen gemeinsam und küssen sich, am Ende schlafen sie miteinander in einem Hotel. Žele lebt seine Homosexualität nicht offen. Er hat eine Freundin, Svetlana, die aber von seinen Neigungen weiß. Der verliebte Andrej macht nun alles für Žele. Auch von Luka treibt er Geld ein, er ist korrupt und kalt. Dadurch verliert er seinen einzigen, wirklichen Freund. Als er 300 Euro von einem „Zigeunerjungen“ eintreiben soll, öffnen sich Andrejs Augen. Žele hat ihn die ganze Zeit nur benutzt, um seine Drecksarbeit zu erledigen. Als Andrej vor Žele Gesicht zeigt, merkt er, wie hinterlistig und unfair gespielt wird. Aus dem Teufelskreis gibt es kein Entkommen, am nächsten Morgen soll er erfahren, wie es einem Aussteiger geht. Posledice ist ein emotionaler Film, der die Fragilität der Männlichkeit porträtiert. Regisseur Darko Štante beschreibt die noch sehr verbreitete Homophobie im slawischen Raum. Gleichzeitig spricht er die Probleme in solchen Heimen, wie jenes, in dem Andrej lebt, an. Obwohl viele Versuche gemacht werden, um die Jungen zu resozialisieren, machen sie was sie wollen, jegliche Autorität ist wirkungslos. Auch wenn die Teenager fast wie in einem Gefängnis wohnen, sind sie doch so frei wie noch nie. Ihr Leben ist exzessiv, die einzigen Grenzen sind die ihrer eigenen Hierarchie.

Schwimmen.

Es gibt kaum eine Zeit, in der sich so viel verändert, in der so viel neu ist, in der jeder Tag eine neue Weltanschauung bedeuten kann. Schwimmen ist ein deutscher Coming-of-Age-Spielfilm von Luzie Loose, der eine ehrliche und objektive Perspektive auf das Teenagerdasein bietet. Der Beginn der Handlung könnte einem schon bekannt vorkommen. Eine introvertierte Außenseiterin, die gerade die Trennung ihrer Eltern miterlebt, wird von ihren MitschülerInnen gemobbt. Elisa (Stephanie Amarell) hat Kreislaufprobleme und bricht im Schwimmbad zusammen. Ihre SchulkollegInnen nutzen den Moment, um mit ihrem reglosen Körper zu posieren und Fotos zu machen. Diese verbreiten sich binnen des nächsten Tages an der ganzen Schule. Allein ist sie machtlos gegen diese Attacken, doch Anthea (Lisa Vicari) kommt ihr zur Hilfe. Gemeinsam wollen sie sich rächen und arbeiten eine Liste mit Elisas Peinigern ab. Ganz im Zeichen der Gegenwart nutzen sie die Technik und filmen ihre Aktionen. Anthea unterstützt Elisa, doch bringt sie in eine Situation der Abhängigkeit. Das unschuldige Mädchen wird selbst zur Täterin. Die Charakterzüge der zwei Freundinnen unterscheiden sich stark. Während Anthea immer auf sich achtet und egoistische Charakterzüge aufweist, meldet sich bei Elisa das Gewissen. Elisa fürchtet sich davor, wieder einsam zu sein. In jedem Streitpunkt springt sie für ihre beste Freundin ein. Dabei muss sie oft ihre eigenen Ideale verraten. Nach einiger Zeit eskaliert das Spiel der beiden Mädchen, indem sie mittlerweile Videos zur Erpressung nutzen, und Elisa erkennt das wahre Gesicht von Anthea. Die Regisseurin porträtiert diese komplizierte Lebensphase, ohne jedoch zu werten. Die vielen Aspekte, die einen in diesem Lebensabschnitt beschäftigen, werden nüchtern und ehrlich beleuchtet. Liebe, Drogen, Partys und der soziale Druck, der auf den Schultern lastet. Auf Fehler wir nicht mit dem Finger gezeigt und der Film wirkt nicht belehrend. Neben den dramatischen und schweren Momenten werden auch die schönen, von Leichtigkeit erfüllten Augenblicke beleuchtet. Diese Momente, in denen die Kinder alle Probleme vergessen können und sich von der digitalen Welt abschotten. Elisa wächst an ihren Herausforderungen im Film vom Kind zur Teenagerin heran. Sie lernt aufzustehen und für ihre Meinung den Kopf hinzuhalten. Der Film überzeugt auch mit viel Abwechslung im Schnitt zwischen Realität und Handykamera, die ihn umso lebensnaher erscheinen lassen.

Všechno Bude – Winter Flies.

Es gibt nichts Stärkeres als den Bund der Freundschaft. Všechno Bude ist ein Coming-of-Age-Spielfilm von Olmo Omerzu auf Tschechisch. Im Film werden die zwei Teenager Heduš (Jan František Uher) und Mára (Tomáš Mrvík) auf ihrem Roadtrip mit einem gestohlenen Auto durch ganz Tschechien begleitet. Die zwei Freunde könnten nicht unterschiedlicher sein. Heduš ist tollpatschig, naiv und noch sehr kindlich. Der etwas ältere Mára wirkt cool, rational und kalt. Mára prahlt immer wieder mit seinen Frauengeschichten und die zwei gabeln eine junge Frau, Bára, auf der Straße auf. Beide Jungs stellen sich vor, mit ihr schlafen zu werden. Bára wird dabei nicht wirklich als Mensch, sondern als Objekt wahrgenommen. Heikle Themen wie Sexismus, Homophobie und Transphobie, die es noch immer zu überwinden gilt, werden angesprochen. Der Film switcht zwischen den Szenen auf der Straße zu einer Polizeibefragung von Mára. Dabei spielt er mit dem extremen Kontrast der Freiheit und der Gefangenschaft. Während der Befragung kommen wiederholt Aufnahmen einer Fliege vor. Zuerst ist ihr Zustand völlig intakt. Im Verlauf des Gesprächs wird sie immer mitgenommener, wie Mára. Durch die Tricks der Polizistin gibt er immer mehr von sich preis. Letztendlich liegt die Fliege im Aschenbecher, bedeckt von Zigarettenstummeln, aber sie kann sich befreien. Am Ende führen die beiden Parallel-Geschichten wieder zusammen. Všechno Bude beschreibt die Vielseitigkeit der Freundschaft, die Ups und Downs. Die Geschichte zeigt, wie wichtig es ist, zu vertrauen und wie schön es ist, aufeinander zählen zu können. Durch ihre unterschiedlichen Charakterzüge läuft zwar nicht immer alles harmonisch zwischen den Freunden ab, doch sie wachsen durch sich und den anderen über ihren Horizont heraus und finden doch immer wieder zusammen. Am Ende wissen sie, dass dieser Trip noch lange nicht vorbei ist.

Resümee.

In allen drei Filmen spielt Freundschaft eine wichtige Rolle. Posledice und Schwimmen zeigen, wie leicht man in diesem Alter in Abhängigkeit geraten kann. Das Handeln der Personen wird vom Gruppenzwang beeinflusst. Ist man einmal Teil, wird es schwer, sich aus diesem Netz zu befreien. In diesen zwei Filmen sind soziale Medien sehr zentral. Fotos und Videos sind Mittel zur Erpressung – relevant und realitätsnahe.

Všechno Bude porträtiert eine ganz andere Welt, in der Medien eine weniger große Rolle spielen. Die Freundschaft der Hauptcharaktere ist offen und herzig. Heduš und Mára vertrauen einander und können auf den jeweils anderen auch in herausfordernden Situationen zählen.

Das Thema Drogen ist häufig aufgetreten. Es wird sehr objektiv behandelt, aber nicht verherrlicht. Die Geschichten drehen sich nicht um Abhängigkeit, sie porträtieren einfach, dass Drogen für viele Jugendliche eine gelegentliche Realitätsflucht bedeuten. Die Figuren wirken aufgeklärt und verantwortungsbewusst, wie es heute auch die meisten Teenager sind. Auch hier ist Všechno Bude eine Ausnahme, weil Drogen keine Rolle spielen.

Die Coming-of-Age-Filme der neuen Crossing Europe-Schiene Yaaas! sind interessante Aufnahmen, die das Heranwachsen an schweren Aufgaben Jugendlicher repräsentieren. Die Filme sind sehr spannend im Stil und abwechslungsreich. Nicht alle Geschichten hören mit einem Happy End auf, wie im echten Leben. Doch aus den emotionalen Herausforderungen wachsen die Charaktere und werden ein Stück erwachsener.