Andere Seilschaften

Der Autor Erich Hackl fügt mit seinem neuen Buch „Am Seil“ der Zeitgeschichte ein weiteres historisches Detail hinzu und veröffentlicht damit eine biografische Notiz und Überlebensgeschichte im Nationalsozialismus. Der Chronist Hackl offenbart mittels Oral-History den rätselhaften Charakter eines Ex-Berliners und Neo-Wieners: Wer war Reinhold Duschka? Pamela Neuwirth hat das Buch gelesen.

Denkt man an eine Seilschaft, so sieht man heute möglicherweise zuerst die Verbindung zwischen Menschen, die sich unterstützen, um Privilegien oder Ziele durchzusetzen. So liest sich das auch im Duden, allerdings unter Pkt. 2. In erster Linie gibt das Lexikon unter Seilschaft die knappe Definition an: Gruppe von Bergsteigerinnen u. Bergsteiger, die bei einer Bergtour durch ein Seil verbunden ist. So konträr die beiden symbolischen wie konkreten Auslegungen von Seilschaft sind, – hier die augenscheinlichen Vorteile einer Gruppe von Personen die sich begünstigen, dort die augenscheinliche Abhängigkeit innerhalb der alpinistischen Seilschaft, – nur durch die herausfordernden Tugenden, die mit letzterer verbunden sind, ja von ihr tatsächlich abhängen, hat sich jedenfalls das ungewisse Schicksal von Reinhold Duschka, Regina Steinig und ihrer Tochter Lucia Heilmann zum Positiven wenden können. Diesem Bild von Seilschaft ging Erich Hackl nach. Der oberösterreichische Autor ist ja mittlerweile bekannt dafür „die Geschichte aufzuarbeiten“ – unvergessen seine minutiöse, im chronistischen Stil verfasste, aber ebenso behutsame Beschreibung der von den Nazis ermordeten Widerstandskämpferin Gisela Tschofenig und wie es dazu kam, dass heute nur eine kleine Sackgasse in Ebelsberg bei Linz ihren Namen trägt –, so erzählt er mit seinem jetzt im schweizerischen Diogenes Verlag erschienen Buch „Am Seil“, wie zwei Leben im faschistischen Terror-Regime des SS-Staates dank der Haltung eines deutschen Alpinisten und Kunst-Schmiedes in Wien verschont blieben. Der Untertitel von „Am Seil“ lautet im Übrigen: Eine Heldengeschichte. Das ist interessant, weil ein Falsch und Richtig darin liegt: So prekär sich immer beim Helden ein Pathos gestalten mag – in der Historie, wie auch der historischen Perspektive –, der Biografie des stillen Reinhold Duschka wird das sicher gerecht – als Zuschreibung. Ein ausdrucksvolles und feierliches Heldentum fehlte Reinhold Duschka (1900–1993) selbst jedoch vollkommen.

Erinnern mit Lucia
Langsam, nach und nach, entblättert sich in dem Buch „Am Seil“ eine Geschichte. Es ist, als würde man als Leser den vielen Gesprächen zwischen dem Autor Erich Hackl und der Zeitzeugin Lucia Heilmann beiwohnen. Das gemeinsame Nachsehen im Erinnern, Fragmente und konkrete Orte, Zeitpunkte und Anlässe zu einem Faden zusammenziehen. Ein sanftes Kreuzverhör, wo Antworten mit Beweisen abgeglichen werden, wo Fragen es schaffen, den verschütteten Erinnerungen nachzuspüren und sie in die historisch gesicherten Ereignisse zu setzen. „Am Seil“ veranschaulicht die Oral History und zeigt vor allem im ersten Teil des Buches, wie diese funktioniert. Das erscheint dann während des Lesens wie ein weitläufiger Schlüsselmoment, was ein Oxymoron ist, doch erlaubt Hackls Erzählweise, dem Zeitzeugengespräch und gleichzeitig einer Geschichte mit den handelnden Personen beizuwohnen. Die Protagonisten von „Am Seil“ sind nicht, wie in der Literatur, Personen, wo durch Autorenschaft die Gestaltung der Persona stattfindet und nachvollziehbar wird, warum die Person in der Geschichte fühlt, wie sie fühlt. Zu Beginn der Hackl’schen Chronik bleiben die Personen erst einmal seltsam fremd, wie Schablonen, die Leser müssen sich vorantasten, jede Information, jedes weitere Zeit-Weg-Diagramm, bildet zunächst nur Fragmente einer Person, die in Verbindung mit anderen steht. In dieser Weitläufigkeit ergeben sich Schlüsselmomente, die die Stärke und Beweiskraft der Oral History verdeutlicht. „Ich habe einfach zu sprechen aufgehört“, erinnert sich die mittlerweile pensionierte Ärztin Lucia Heilmann und hat diesen traumatischen Befund als Kind erst indirekt durch eine beiläufige Aussage ihrer Mutter zu verstehen gewusst, als diese bei Kriegsende einmal überrascht feststellt: „Du sprichst ja wieder!“ Die langen Momente, die sich bei jedem, der sich erinnert, als sein persönliches Gefühl für die erlebte Zeit offenbart; so auch bei Lucia: im Gefühl der Isolation. Die langen Tage im Versteck in der Kunstwerkstatt, wo das Kind de facto über Monate und Jahre mit dem Metallfeilen und anderen kleinen Handarbeiten beschäftigt sein wird und dabei nichts Geringeres erlernt als das „Wiener Kunsthandwerk“ von Josef Hoffmann, welches auch Reinhold Duschka in Wien erlernt hatte. Seine Kunst-Werkstatt im 6. Wiener Gemeindebezirk sollte ihr erster Zufluchtsort vor den Nazis werden. Lucias Mutter Regina Steinig war Chemikerin und bewegte sich in Kreisen, die auch Duschka kannte. Vage sind Lucias Erinnerungen an ihre gute Freundin Erna Dankner. Erna und ihre Eltern werden von den sogenannten Sammelwohnungen abgeholt, um deportiert zu werden. Während des Transportes fällt das kleine Mädchen von dem offenen Lastwagen der SS und wird überfahren. Der Autor Erich Hackl sorgt sich eben um diese bruchstückhaften Erinnerungen und gleicht sie mit gesicherten Informationen ab. Die kleine Erna Dankner starb nicht bei dem, vielleicht aus Erzählungen rekonstruierten Unfall in der Berggasse, sondern wurde im Jahr darauf mit ihren Eltern Moshe und Cipore mit dem zweiunddreißigsten Transport österreichischer Juden, der am 17. Juli 1942 vom Wiener Aspanghof abging, in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert.
Wie das Überleben von Regina und Lucia durch Reinhold Duschka zu einer Möglichkeit wurde, wird aus den Kindheitserinnerungen von Lucia deutlich, und zeigt sich durch Methode und Selbstdisziplin des Alpinisten und Kunstschmiedes. Auch der Enkelsohn von Reinhold Duschka erwähnt in diesem Zusammenhang den Begriff vom intelligenten Widerstand. Dem willkürlichen Terror der SS etwas entgegenzusetzen und nicht in Panik oder Apathie zu verfallen, wie das nachvollziehbar von Viktor Frankl und Eugen Kogon beschrieben worden war, ist eine außerordentliche mentale Leistung. Denn, die beiden Jüdinnen Regina und Lucia in den Jahren 1942 bis 1945 im 5. Stock eines Hauses in der Mollardgasse und anderenorts vor denunzierenden Nachbarn über die Jahre verstecken zu können, verlangt etwas Anderes und gelang schließlich durch Methode, Verlässlichkeit und Vertrauen. Woher Reinhold Duschka Essensmarken für zwei weitere Personen herbeischaffte – unbekannt. Warum Duschka irgendwann während des Krieges beschlossen hat, nicht mehr in seine Wohnung zurückzukehren und stattdessen mit beiden im Werkstatt-Versteck zubleiben – unbekannt. Wie er zu den Büchern für Lucia kam – unbekannt. Duschkas Vorgehen hatte sogar aus Perspektive des kleinen Mädchens und in der späteren Erinnerung der Ärztin Lucia eine Methodik, die an ein Regelwerk erinnert. Es geht niemals etwas Klaustrophobisches von ihm aus, kein Aktionismus, keine Kühnheit, kein Heroismus liegt in seinem Handeln. Er spricht nicht viel, wird niemals ungeduldig. Für ein Kind war das stille Arbeiten in der Werkstatt aber auch ein Gefängnis. An ein paar Ausgänge mit Reinhold könne sie sich erinnern, erwähnt Lucia Heilmann. Ein „Ausgang“ entspricht dem temporären Austritt aus einem Gefängnis; so auch mitten in Wien, weil es außerordentlich riskant war auf der Straße angehalten und erfasst zu werden, somit waren die Ausflüge an den Stadtrand sehr selten. Die Arbeit im Stillen war schwierig, zugleich aber eine Lösung, die Situation dauerhaft zu ertragen. Das zeitgeschichtlich generell Interessante, so auch am Nationalsozialismus und in der Perspektive auf Holocaust und den Widerstand, ist: Niemand wusste damals, dass der Krieg 1945 zu Ende sein würde. Am Anfang der Versteckzeit, als Reinhold Duschka nach seinem Tagwerk in der Werkstatt noch in seine eigene Wohnung zurückkehrte, ging er an den Wochenenden zum Bergsteigen, weiß Lucia. Dem Leser wird spätestens dann die klaustrophobische Situation im Versteck deutlich.

Wer war Reinhold Duschka?
„Wer weiß, wie man selbst reagiert hätte?“ ist ein geflügeltes Wort im Hinblick auf die nationalsozialistische Vergangenheitsbewältigung. In der Sozialphilosophie wird die häufige Reaktion von Menschen auf eine Gefahr als blinde Unbarmherzigkeit des Überlebenswillens beschrieben und bezeichnet einen instinktgeleiteten Egoismus, der in gefahrvoller Situation blind in eigener Sache agiert. Dank der Tugenden eines Bergsteigers sah Reinhold Duschkas Enkel den Großvater wie geschaffen für den intelligenten Widerstand: Selbstdisziplin, Einzelgängertum, Menschenkenntnis und Verschwiegenheit. Als einmal ein befreundeter Bergsteiger und Gestapo-Unterläufer sehr viel später nach dem Krieg erzählen wird, dass eine anonyme Anzeige die beiden „Fremdarbeiterinnen“ in Duschkas Werkstatt verraten sollte, verlieren die Bergkameraden nicht viele Worte über das Ereignis.
In dem halb pazifistisch und halb kommunistischen Freundeskreis, von dem sich der Kunstschmied Reinhold Duschka und die Chemikerin Regina Steinig vor dem Krieg kannten, wurde über die letzten Tage der Menschheit und die russische Revolution, den Expressionismus, das rote Wien, gesunde Ernährung, den gläsernen Menschen und die freie Liebe diskutiert. Der Vegetarier Duschka könnte vordergründig als tiefes Wasser beschrieben werden, das im Laufe der Erzählung aber einem komplexen wie rätselhaften Charakter weicht. Seine Courage gegen das Terror-Regime erstand aus seinem großen Freiheitswillen. Die gleiche Freiheit war es aber auch, die ihn nur bedingt zum Familienmenschen prädestinierte, und seine Bindungsangst in der Liebe verkomplizierte sein Leben. Später wird Lucia Heilmann die Geschichte ihrer Rettung an die Gedenkstätte Yad Vashem übermitteln. Auch dem weltweiten Aufruf, der mit Steven Spielbergs Film „Schindlers Liste“ einhergeht, Holocaust-Opfer sollen ihre Geschichte der Shoa-Foundation erzählen, wird sie folgen. In Die Letzten Zeugen, einem vom Burgtheater 2013 realisierten Theaterstück, gab Lucia Heilmann Reinhold Duschka erneute eine Stimme; einem der selbst wohl kein Wort darüber verloren hätte.

 

Erich Hackl, Am Seil. Eine Heldengeschichte.
Diogenes, Zürich
13. September 2018, 19:30 h
Stifterhaus

Buchpräsentation und Lesung mit dem Autor

 

Am Seil. Eine Heldengeschichte.
Verlagstext zum Buch: „Wie es dazu kam, dass der stille, wortkarge Kunsthandwerker Reinhold Duschka in der Zeit des Naziterrors in Wien zwei Menschenleben rettete. Wie es ihm gelang, die Jüdin Regina Steinig und ihre Tochter Lucia vier Jahre lang in seiner Werkstatt zu verstecken. Wie sie zu dritt, an ein unsichtbares Seil gebunden, mit Glück und dank gegenseitigem Vertrauen überlebten. Was nachher geschah. Und warum uns diese Geschichte so nahegeht. Diese Erzählung gäbe es nicht ohne das Versprechen, das Lucia Heilman sich selbst gegeben hat: den passionierten Bergsteiger Reinhold Duschka (1900–1993) zu würdigen, der sie und ihre Mutter vor der Deportation in ein nazideutsches Vernichtungslager bewahrt hat. Auf Lucias Erinnerungen gestützt, spannt Erich Hackl einen weiten Bogen von einer Zeit, „in der Männer noch beste Freunde und Frauen beste Freundinnen hatten“, über die dramatischen, zugleich eintönigen Jahre im Versteck bis in die unmittelbare Gegenwart. In Hackls genauer, vor Leidenschaft leuchtender Sprache werden nicht nur Retter und Gerettete lebendig – sie zwingt uns auch, die Aktualität dieser Geschichte zur Kenntnis zu nehmen in einem Europa, in dem mehr denn je Zivilcourage gefragt ist.“

Erich Hackl, geboren am 26. Mai 1954 in Steyr, OÖ. Nach dem Studium der Germanistik und Hispanistik ist er seit 1983 freier Schriftsteller und Übersetzer sowie Herausgeber von Werken unbekannter oder an den Rand gedrängter AutorInnen. In seinem literarischen wie publizistischen Schaffen geht es Hackl darum, Fäden zu knüpfen zwischen denen, die sich mit heutigem Unrecht nicht abfinden, und jenen, die sich schon früher empört haben und damit nicht allein bleiben wollten. Seinen Erzählungen, die in 25 Sprachen übersetzt wurden, liegen authentische Fälle zugrunde. Zahlreiche Preise und Auszeichnungen, u. a.: Kulturpreis des Landes OÖ. für Literatur, 1994; Großer Kulturpreis des Landes OÖ., 2013; Menschenrechtspreis des Landes OÖ., 2017.

Wasser, gewaschen?

Fruchtbare Fragen, gesellschaftliche Diskrepanzen oder die mehrdeutige Kunst, die zwischen Ästhetisierung und Realpolitik verrieben wird? Robert Stähr hat sich den diesjährigen Höhenrausch „Das andere Ufer“ angesehen. Und stellt einige Projekte in den größeren Kontext zu den Themen Wasser, Meer oder Ufer, die in Zeiten wie diesen ihre Unschuld verloren haben.

Zu Beginn des Rundwegs eine Barriere: Um den Ausstellungsparcours zu betreten, gilt es, eine Konstruktion aus Absperrbrettern von Ovidiu Anton zu überwinden, mit Hilfe welcher der rumänisch-österreichische Künstler laut Begleitheft gesellschaftliche Vereinbarungen in Frage stellt. Welche, verrät der in bestem Kunsterklärungslatein gehaltene Text nicht. Wie viele weitere ästhetische und didaktische Ansätze der diesjährigen Ausgabe der seit 2009 (fast) jährlich stattfindenden „Höhenrausch“-Ausstellung verbleiben Werk und „Beipacktext“ im Vagen und Ungefähren. Das mag beabsichtigt sein, um Raum für … eigene Gedanken und Vorstellungen der Besucher/innen zu schaffen; und der klassischen Funktion solcher Texte entsprechen, eine Spur zu legen und gleichzeitig für Betrachter/innen genug offen zu lassen. Aber es mag auch einer allgemeinen Ausweichbewegung geschuldet sein, die dem Trend folgt, Räume öffentlicher und damit politischer Debatte enger werden oder überhaupt verschwinden zu lassen.
Der Besucher/in bietet sich ein Rundgang durch verschiedene Räume von OK und Kulturquartier, über die Dachböden der Ursulinenkirche und den mittlerweile zum Stadtbild von Linz zählenden hölzernen Turm auf dem Dach des Offenen Kulturhauses bis zur Außenstelle Mariendom, den eine qualitative und künstlerisch große Bandbreite von Exponaten zum (gewollt oder ungewollt mehrdeutigen?) Thema „Das andere Ufer“ säumt: eine vordergründig schöne Ausstellung mit Erlebnischarakter über das Element Wasser, die dafür konzipiert ist, über den engen Kreis von Insidern hinaus Publikumsschichten anzusprechen, die sonst nur peripher mit zeitgenössischer Kunst in Berührung kommen. Das ist – so sei hier vorab betont – für eine Institution wie das „OÖ Kulturquartier“ ein berechtigtes und erwartbares Anliegen. Ich bin bei meinem Rundgang Familien begegnet, deren Kinder vor allem an begeh- und betastbare Arbeiten „andocken“ konnten und daran ihre Freude und Anregung hatten. Alexander Ponomarevs hölzern-monumentales „Flying Ship“, so etwas wie das Flaggschiff dieses „Höhenrauschs“, sowie die Soundinstallation mit Videoergänzung der deutschen Künstlerin Tamara Grcic, mit welcher sie die Fließbewegung eines Flusses in ein akustisches Zusammenspiel von Stimmen zu übersetzen (Begleitheft) sucht, seien in ihrer Unmittelbarkeit als positive Beispiele genannt. Der gemeinsame Nenner der überwiegenden Anzahl der gezeigten Positionen liegt aber vor allem in ihrer Mehrdeutigkeit, oft auch Unverbindlichkeit. Daran ändert auch die Gliederung der Ausstellung in verschiedene thematische Bereiche („Vom Nutzen des Wassers“, „Vom Schrecken des Wassers“, „Lebensraum Wasser“, …) nichts. Die symbolische Aufladung von Trivialitäten zu „Wasser“ und deren in den mitgelieferten „Erklärungen“ erfolgte didaktische Verbrämung soll die Besucher/innen vielleicht nicht überfordern; sie vielleicht sogar zum sicheren Hafen des Verstehens geleiten; ob das nicht eher eine Unterschätzung interessierter Menschen von Kurator/innenseite bedeutet, sei dahingestellt. Und ob nicht ein thematisch deutlicher benannter Bereich wichtig gewesen wäre, der den Umstand benennt, dass Meer und Wasser ihre Unschuld verloren haben, sei ebenfalls dahingestellt – das jedenfalls ist die Konnotation, die sich in diesen Tagen von selbst einstellt.
Insgesamt gibt es einiges zu problematisieren: den unfreiwilligen Zynismus, der dem Gesamttitel der Schau sowie einzelnen Bereichstiteln (s. o.!) angesichts von Meeren als nur unter Lebensgefahr überwindbarer Barrieren für Migrantinnen und Migranten innewohnt; die Ästhetisierung dieser Thematik im Rahmen einer Kunstausstellung; schließlich die offensichtliche Empathielosigkeit politischer Entscheidungsträger, welche genau dies nicht nur nicht stören dürfte, sondern die künstlerische Ausdrucksformen vor allem dann schätzen, wenn sie ihnen – diskursiv, performativ, aktionistisch – nicht in die Quere kommen.

Drei Arbeiten soll diese kritische Perspektive überprüfen: Die aus Japan stammende Künstlerin Chiharu Shiota, die mit eine „Vorläuferarbeit“ bei der vorletzten Biennale in Venedig vertreten war, bespielt unter dem Titel „Uncertain Journey“ den großen Saal des OK mit einer raumgreifenden Installation aus einem Geflecht roter Wollfäden, welches sie mit im Raum verteilten Metallbooten verbunden hat. Einerseits eine eindrucksvolle Arbeit. Andererseits: Jeder dieser Fäden kann als ein Aspekt des Lebenswegs eines Menschen verstanden werden. So trägt jedes der Metallboote eine Fülle von individuellen Personen, stets verflochten mit anderen. Jedoch hat diese „Reise ins Ungewisse“ kein Ende … (Text: Begleitheft) So what? Tappe ich in die Falle plumper Aktualitätsbezogenheit, wenn (sicher nicht nur) ich mich weigere, den sich aufdrängenden politischen Kontext auszublenden? Auch wenn Shiota universelle Begriffe wie Identität und Erinnerung, Tod und Leben, und die Existenz in Abwesenheit (!) (Text: Begleitheft) bearbeitet? Oder spricht die blutrote Farbe in der Arbeit Bände, und die Abwesenheit der eindeutigen Termini beschreibt vielmehr den gegenwärtigen Zustand gesellschaftlicher und politischer Ignoranz? Von der Dreikanal-Videoinstallation des Südafrikaners Mohau Modisakeng wiederum wird im Begleittext behauptet, sie sei eine Meditation über den Zerfall afrikanischer Identität durch die Sklaverei. Die mit Symbolik überfrachtete Arbeit pendelt zwischen verschiedenen metaphorischen Ebenen von Wasser (u. a.: Leben spendend und Tod bringend) (Text: Begleitheft). Hat der Künstler kein Problem damit, den aktuellen politischen Kontext durch stark stilisierte Bilder/Szenen zu evozieren und gleichzeitig ins verblasen Allgemeingültige aufzulösen? Der Titel verweist aber auch darauf, dass wir alle Passagiere auf Reisen sind und jede Reise einen Anfang und ein Ende hat. (Text: Begleitheft) Bleibt an dieser Stelle die Frage, ob dem Betrachter, der Betrachterin das Fertigschreiben der Kontexte selbst zugemutet werden kann.
Ärger, Amüsement oder beides in … fruchtbarer Ambivalenz? Das erzählerische Potential von Bildern zu erforschen (Begleitheft), stellt sicher nicht nur für die Australierin Tracey Moffatt eine kontinuierliche Aufgabe dar. Ob diese genuin literarische Aufgabe angesichts der konkreten Narration: Ein übervoll besetztes Flüchtlingsboot ist in Seenot geraten und droht zu kentern (Begleitheft) in ihrer Videoinstallation mit dem Titel „Vigil“ darin bestehen sollte, einschlägiges Bildmaterial mit Sequenzen aus Hollywoodfilmen zu kombinieren, die drei Schauspieler/innen mit vor Schreck geweiteten Augen durch ein Fenster starren lassen, und zwar – so die verbindende Erzählung – auf eben dieses mit Geflüchteten besetzte Boot (!), muss die Künstlerin vor sich selbst verantworten. Ob hier aufrüttelnder Zynismus, der „gesellschaftliche Spiegel“, beabsichtigte oder unbeabsichtigte Komik, gar eine Metaebene des Humors am Werk ist, vermag ich, eingestandenermaßen, nicht zu entscheiden. Große Skepsis halte ich für angebracht.

Pädagogisch-didaktische Attitüde, sich am „Allgemeingültigen“ orientierende Symbolik, metaphorische Aufgeladenheit; ein Ausstellungsparcours mit Erlebnischarakter; bloßes Streifen einer nicht ausblendbaren, hochpolitischen Thematik: All das charakterisiert diese von der Intention ihrer Gestalter/innen zwar irgendwie interessante, aber doch – nicht nur irgendwie – einen schalen Nachgeschmack hinterlassende „Höhenrausch“-Ausstellung. Wir leben in einer Zeit, in der mit dem künstlichen Hochschaukeln (auch so eine Metapher …) einer Bedrohungsproblematik durch flüchtende Menschen, die eine inhumane Abschottung vor deren „Ansturm“ rechtfertigen soll, politisch „große Scheine“ gewechselt werden. Fragen zum Verhältnis von Ästhetik, Erkenntnisgewinn und Politik können wahrscheinlich nie endgültig beantwortet, müssen eben deshalb immer aufs Neue gestellt werden. Sicherlich ist es gerade das breit angelegte, kulturellen Repräsentationszwecken folgende Ausstellungskonzept, dass das Benennen von Kontroversen gesellschaftspolitischer Natur bei der Auswahl der künstlerischen Positionen gescheut hat. Vielleicht wäre die konkretere Benennung der „Flüchtlingsproblematik“ an sich schon eine Provokation für Politiker, die dieses Thema am liebsten völlig aussparen würden und eine Kunst der Behübschung wünschen. Das steht zu befürchten. Es geht rund.

Stolz auf Stolz.

Mit meiner Freundin war ich in der Altstadt, wir sitzen an einem lauen Abend draußen. Ein Mann kommt zu uns her mit den Worten: „Entschuldigung, ich bin schon ein wenig betrunken, darf ich mich kurz zu euch setzen, ich werd auch nicht stören“. Wir nicken, schaut nicht so schlimm aus, weiter: „Entschuldigung, ich möchte nicht stören, aber worüber habt ihr gerade geredet, ich bin gleich wieder weg“. Wir schauen ihn an und sagen: „Filme aus den siebziger Jahren, Rocky und Saturday Night Fever“, und er: „Interessant, ich bin zwar betrunken, nichts für ungut, aber geht’s um den Inhalt oder wie man sich erinnert?“. Ich sage: „Hm“ und sehe ihn an und er meint plötzlich geradeheraus: „Es gibt ja Menschen, die meinen, es gibt jüdische und nicht-jüdische Filme“ und ich: „Bist du wahnsinnig?“. Seine Augen zucken weg und stattdessen ein Ausweichen, wie vor einem grade noch verhinderten Auffahrunfall und er meint, dass niemand mehr Feindbilder habe. Meine Freundin fragt: „Brauchst du Feindbilder?“. Er: „Jeder reagiert auf Reizwörter“, hier brauche er nur etwa „Erdogan“ zu sagen, woanders halt was anderes usw. Was alles im Netz stehe, man könne sich das gar nicht vorstellen usw. … alles im agitierten Ton … und dann kommt grade eine Kupfermuck’n-Verkäuferin, der wir zwei Euro spendieren, was er, der angeblich Betrunkene dann auch macht, ein Verhalten namens Anpassung, Tarnverhalten möchte ich sagen, denn ich nehme ihm seine Betrunkenheit mittlerweile nicht mehr so ganz ab. Ich habe den Verdacht, dass er ein Identitäts-Organisierter ist, denn die Frage nach dem jüdischen- und nicht-jüdischen Film ist so was von deppert bis ungeheuerlich, dass einem das Hirn stehen bleibt. Ich möchte das herausfinden. Aber er verwickelt die obdachlose Frau in ein Gespräch, sagt so etwas wie: „Du regst dich nur auf, dass die anderen dir Unrecht getan haben, du musst selbst was machen“, uswusw. Amikal lädt er sie ein. Meine Freundin, die meine Gedanken liest, flüstert mir währenddessen zu, dass sie eher glaube, dass dieser Typ so eine Art Traumatisierter sei, der den Blödsinn aufgeschnappt habe und geradezu zwanghaft das Gesagte wiederholen müsse, „weil so ein Vollschas weder emotional noch rational verdaut werden kann“, flüstert sie, eben quasi wie eine ideologische Traumatisierung. Ich frage mich kurz, ob SIE die Besoffene ist. Wir sehen ihn jedenfalls an, als er aufspringt und gehen will. Unerwartet sagt er wirklich: „Es tut mir leid. Was mich aber echt aufregt, ist diese Brücke vom Pöstlingberg zum Freinberg. Sollen da die Tiere vom Linzer Zoo drübergehen, oder was?“. Wir sind etwas ratlos, ein Brücken- wie Grenzgang das alles, wir wissen es nicht. Geben ihm aber trotzdem mit: „Du erholst dich schon wieder. Lass dich nicht verarschen“. Tatsache ist, dass es kursiert. Der Umstand, dass man wieder Antisemitismus hört auf den Straßen unseres Landes, ist schockierend. Er sitzt wie ein Krönchen auf alle anderen Menschenhasser-Ideologien. Dieser geschürte Hass ist unerträglich. Diese Dummheit tut weh. Ein anderes Beispiel, auch eine Freizeitsituation, meine Freundin erzählt es mir ein paar Tage später: Am Donaustrand torkelten zwei Vollbesoffene heran, diesmal wirklich Betrunkene und haben gerufen: „Jetzt kommen sie über die Grenzen, sie überrennen uns, jetzt kommen sie, sie greifen uns an“, dann geben sie den Juden Schuld (inklusive, was man mit ihnen machen sollte) und kurz darauf später beschimpfen sie eine schwarze Frau (als was, schreibe ich hier auch nicht). Vollbesoffen, ja. Die Menschen rundum sind befremdet. Meine Freundin war mit einem Freund bei der Donau, er wiederum hat Gäste aus dem Ausland dabei, die den Sommer über an einem FH-Projekt arbeiten. Sie waren entsetzt von dieser Situation. Diese Dinge kursieren im Fahrwasser von Identitätsgelaber und Heimatpartei, sind entfesselt von oben, durch eine Politik, die diese Dinge schürt. Sagt der Freund zu seinen Gästen. Schließlich treffen sich unsere Politiker mit internationalen Rechtsextremen, sagt jemand am Donaustrand noch, und: „Da können wir echt stolz sein“. Er sagte plötzlich fast schon hysterisch kichernd, erzählt sie, nämlich von wegen Banalität, Stolz und seine Gäste: „Die haben ja bei dieser Stolz-auf-Linz-Busen-Kampagne schon aufgeschrien vor Peinlichkeit, das war das Erste, was ihnen hier aufgefallen ist – negativ. Dieser ganze Aufwand der Stadt, für so eine Null-Aussage, was hat denn ein Busen mit Politik zu tun usw.“. Stimmt schon, Politik, Badestrand, Holz vor der Hütte, Rechtsextremismus – es ist anscheinend alles echt schwer auseinanderzuhalten, ja eh … sagen wir jetzt, very dry. Dazu kommt noch die Leistungsbereitschaft, darüber reden wir auch noch. Manche der politischen Verantwortlichen und Wirtschaftsträger scheinen wieder einen Klassenkampf entfesseln zu wollen. Man diskreditiert wieder, nicht nur die Schwachen, auf furchtbar überhebliche Weise, sondern gleich alle – zum Beispiel als faul und dumm. Elitengequatsche. Darüber reden wir. „Das gute alte ‚Teile und herrsche‘“, sagt meine Freundin, „in Seilschaften hängend, das gute neue Einpeitschen und Auspeitschen für die neue Zeit“, sage ich. Heimat meint Haltung – so heißt es neuerlich wieder – und währenddessen saufen die Menschen ab. Wir sitzen in einem Gastgarten in der Altstadt. Sie sagt nochmal zum Abschluss: „Es ist wie in den dreißiger Jahren, nur, dass nicht alles schwarz/weiß ist, wie in den Nazi-Dokus, sondern in Farbe.“ Na dann, Prost Mahlzeit. Stolz auf Stolz.

Die kleine Referentin

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Als gäbe es kein Morgen

Tagsüber arbeiten sie als Redakteure oder Wissenschaftlerinnen, alle in prekären Anstellungs-Verhältnissen, in ihrer Freizeit verlieren sie sich in Drogen, Fetisch, Partys und Sex. Dass die Geschichte in Berlin angesiedelt ist, ist natürlich kein Zufall: Ines Schütz über die broken people in Marianne Jungmaiers Buch „Sonnenkönige“.

Sonnemkönig Buchcover

„Das Buch ist für mich ein Experiment“, sagt Marianne Jungmaier über ihren zweiten Roman „Sonnenkönige“. „Ich habe einen anderen Stil probiert und andere Themen, die nicht einfach sind.“ Im Grunde ist jedes ihrer Bücher ein solches Experiment, ihre beiden Bände mit Kurzprosa „Die Farbe des Herbstholzes“ (2012) und „Sommernomaden“ (2016) genauso wie ihr Lyrikband „harlots im Herzen“ (2014) und die Romane „Tortenprotokoll“ (2015) und eben „Sonnenkönige“ (2018). „Mir war es ein Anliegen“, so Jungmaier weiter, „wie ich das bei allen meinen Büchern mache, dass ich eine Lebenssituation nachzeichne, die ich interessant gefunden habe, als ich sie beobachtet habe.“

In „Tortenprotokoll“ war das die Lebenssituation einer Familie, die ein sogenanntes bodenständiges Leben auf dem Land führt, die tut, was sich gehört, aber nicht miteinander reden kann. Der Roman steigt ein mit einem Verlust, mit dem Tod der Großmutter. Friederike, die gleichnamige Enkelin, macht sich auf den Weg aus der Großstadt Berlin ins elterliche Dorf, um mit ihrem Freund aus Kindertagen in Erinnerungen zu kramen, dabei stoßen die beiden auf ein Bild der Großmutter, das ihnen völlig neu ist. Während sich alle Familienmitglieder an die nie ausgesprochene, aber gelebte Maxime der Großmutter „nie zu viel streicheln, nie zu viel lieben“ zu halten scheinen, „sich mit Schlagobers den Mund stopfen, Konflikte mit Buttercreme zuschmieren, Torten und Strudel zu essen, um nicht reden zu müssen“, finden sich ausgerechnet im abgegriffenen Rezeptbuch der Großmutter, von der Familie ehrfurchtsvoll „Tortenprotokoll“ genannt, zärtliche Liebesbriefe eines Mannes, der nicht der Großvater gewesen sein kann und zeugen von einem Leben, das die Großmutter verborgen vor allen gelebt hat.

Davon, dass ein Leben, das man vor und mit anderen führt, nicht unbedingt das eigentliche sein muss, erzählt auch der Roman „Sonnenkönige“, so unterschiedlich er stilistisch, perspektivisch und thematisch auch ist. Inhaltlich dockt das Buch an die unter dem Titel „Sommernomaden“ erschienenen Stories an, die vom Reisen erzählen, von der Lust an der Freiheit, am Unterwegssein und daran, einander (oder auch sich selbst) zu begegnen und wieder zu verlieren. „Sonnenkönige“ erzählt aus der Sicht Aidans ebenfalls von einer Art Unterwegs-Sein, von einem Leben im Flow. Marianne Jungmaier bezeichnet ihre Hauptfigur als drifter, „er hat nicht wirklich Halt in seinem Leben. Er hat einen Job, der nicht sicher ist, eine Beziehung, die nicht sicher ist und eine Wohnung, die nicht sicher ist.“ Alles Rahmenbedingungen für ein Leben von Menschen um die Dreißig, wie die Autorin sie oft beobachten konnte. „Es sind Charaktere, denen ich auch in meiner Generation, in der Jetzt-Zeit oft begegne: sich nicht einlassen wollen, alles ist käuflich, alles ist vergänglich, unverbindliche Beziehungen – das ist heute Normalzustand geworden und das wollte ich auch zeigen“.

Aidan und Hannah sind ein Paar, die Freundinnen Sam und Cherry auch. Miteinander haben sie eine Art Familie kreiert, ihr Lebensmittelpunkt ist eine WG in Berlin. Tagsüber arbeiten sie als Redakteure oder Wissenschaftlerinnen, alle in prekären Anstellungs-Verhältnissen, in ihrer Freizeit verlieren sie sich in Drogen, Fetisch, Partys und Sex. Dass die Geschichte in Berlin angesiedelt ist, ist natürlich kein Zufall: Es gehe in ihrem Buch um „broken people, die alle auf der Scholle Berlin gelandet sind“, so Jungmaier, und „in Berlin ist das relativ aufgelegt. Wenn man dort lebt und ausgeht, oder auch wenn man sich mit Sexualität auseinandersetzt, kommt man schnell in Berührung mit dieser Szene.“ Themen, mit denen sich Jungmaier in diesem Roman auseinandersetzt und „die nicht einfach sind“, sind Sexualität und Gender, eine Lebenssituation, die sie interessant gefunden hat, als sie sie beobachtet hat, ist das Paralleluniversum einer Subkultur in Berlin. „Die Hauptcharakterinnen(!), Sam und Cherry, führen eine BDSM Beziehung. Für mich war das wichtig, dass in meinem Buch eben Frauen mit einer starken Sexualität, die sie selbst gewählt haben, vorkommen, und dass ich zwei Frauen, die zusammen sind, darstelle. Für mich ist das in den Medien noch zu wenig vertreten: dass Frauen eine selbstbestimmte, selbstgewählte Sexualität ausleben.“ So sehr die Beziehung dieser beiden Frauen auf den ersten Blick von dem abweicht, was gemeinhin als klassische Paarbeziehung bezeichnet wird, so sehr ähnelt sie ihr in ihrem Prinzip: nämlich dass zwei Menschen aufeinander bezogen sind. Das ist ein Ausnahmefall im Meer von offenen Beziehungen, wie sie im Roman beschrieben werden. „Es war aber auch ein Berliner Problem“, heißt es hier. „Jeder hier war polyamourös, aber kaum jemand meinte es so. Die meisten wollten sich einfach nicht festlegen“.

Aidans Beziehung mit Hannah geht, trotz aller Offenheit, in die Brüche. Zum einen deshalb, weil er eine Festanstellung bekommt, wie sie sich auch Hannah erhofft, und er ihr, obwohl sie qualifizierter ist, damit im Verlagshaus vorgezogen wird. Zum anderen, weil er bei einer Party Bill kennenlernt, in den er sich sofort verliebt. Gemeinsam mit ihm will er seinen Traum, den er bis dahin im „Hobbykeller“ verfolgt und vor seinen Mitbewohnerinnen geheim gehalten hat, verwirklichen: Er will einen Drachen aus Eschenholz bauen, ihn zum Favilla-Festival nach Nevada bringen und ihn dort verbrennen. Im zweiten Teil des Buches, übertitelt mit „San Francisco – Favilla“, wird die Suche nach Rausch und Ekstase, nach dem Verlust von sich selbst auf die Spitze getrieben, gespiegelt in der Surrealität einer Festival-Stadt (angelehnt an „Burning Man“), einer mehrere Tage dauernden riesigen Party, zu der Leute aus aller Welt in die Wüste kommen. „Es ist total abgefahren“, so Hannah im Roman. „Du gehst verloren. Im Festival, aber auch dir selbst. Und trotzdem ist es ein Nachhause-Kommen. In deine Community, zu deinen Leuten. Und du kannst einfach du selbst sein“.

Mit „Sonnenkönige“ hat Marianne Jungmaier ein Buch über Menschen geschrieben, die an der Oberfläche leben, die sich treiben lassen. Genau das wollte sie auch. Ihre „Figuren leben in einer Hybris, in ihrer eigenen Blase, in ihrem eigenen Sein, ihrem ‚Wir sind die Größten in unserer Welt‘. Sie leben, als gäbe es kein Morgen; es gibt nie den Gedanken ‚Was macht das mit mir, was ich gerade tue?‘“

Dass eine solche Entscheidung für eine Welt ohne Tiefe nicht von ungefähr kommt, wenn im eigenen Leben von der Herkunftsfamilie angefangen nichts, aber auch wirklich gar nichts fix ist, schwingt im Roman immer mit. „Wer sich einlässt auf Aidans Welt“, so Barbara Krennmayr im Oö. Kulturbericht, „findet ein umsichtiges, urteilsfreies Portrait einer Generation von gut ausgebildeten, urbanen Zwanzig- bis Dreißigjährigen, die sich nicht festlegen will, aber auch nicht so recht glücklich wird damit.“ Dass man in den Untiefen eines solchen Lebens doch auch immer wieder Halt finden kann, bei einem anderen Menschen oder vielleicht sogar in sich selbst, grenzt, wie das temporäre, schrille und bunte Festival in der Wüste, fast an ein Wunder: „Sonnenkönige ist eine Kampfansage gegen Mieselsucht, Melancholie und allgemeine Angstzustände unserer Zeit“, schreibt Wolfgang Huber-Lang für die APA, „ein irritierendes Buch, das in seinem unbedingten Beharren auf den realisierbaren Gegenentwurf erstaunlich ist. Eskapismus könnte man das nennen. Oder: schöne Utopie.“

Aircheck Not To Disappear

Eine Sendereihe, die das Verschwinden von Frauen in den Raum stellt, läuft aktuell noch auf Radio Fro und Dorf TV. Sandra Hochholzer reflektiert nach vier gelaufenen Sendungen und eröffnet mit einer Ansage.

 

Lass mich jetzt mal mit meinem Selbstbewusstsein deine Kompetenz in Frage stellen.

Im Studio: Gabriele, Kepplinger, Julia Pühringer und Jelena Pantic-Panic. Foto Daniela Banglmayr

Im Studio: Gabriele, Kepplinger, Julia Pühringer und Jelena Pantic-Panic. Foto Daniela Banglmayr

Eben mit diesem provokanten Satz hat Jelena Pantic-Panic (Leiterin des Kulturressorts beim Magazin biber) eine Situation auf den Punkt gebracht, die nicht nur für den Bereich des Journalismus die Geschlechterrivalität in der Berufswelt gut darstellt. „Männer beanspruchen Deutungshoheit“, setzt sie ihre Aussage fort. Sie war zu Gast im Studio von Radio Fro und eingeladen, mit weiteren Gästen über das Verschwinden von Frauen aus ihrem Karriereweg, sprich von unterbrochenen oder abgebrochenen Karrierewegen, zu diskutieren – mit Fokus in dieser Sendung auf die Situation von Journalistinnen und unter dem Titel „Warum die Blattlinie Männersache bleibt und vom Verschwinden der Frauen in den Medien“. Eine von fünf Sendungen, die ihren Blick jeweils auf unterschiedliche Sparten werfen, um herauszufinden, wo denn sinnvoll an den gesellschaftspolitischen Schrauben gedreht werden müsse. Denn gesetzlich hat sich seit dem ersten Frauenvolksbegehren (1998) einiges getan. Ungleichheiten wurden gesetzlich beseitigt. Bleibt die Frage: Das Gesetz hindert und behindert Frauen also nicht mehr?

Durchschnittlich bekommt eine Frau in Österreich 1,4 Kinder, bei Journalistinnen sind es nur 0,5. Ausschlaggebend sind hier bestimmt nicht nur begrenzte Öffnungszeiten im Kindergarten, sondern es wird sehr stark auf die karrierefördernde Netzwerkarbeit verwiesen, die im Journalismus, aber ebenso in der Wissenschaft oder auch im Kunstbetrieb einen hohen Stellenwert einnimmt und die oft für Mütter nur bedingt alltagstauglich ist. Abends noch schnell auf ein Bier mitgehen, ist für Frauen mit Kindern viel unrealistischer als für Männer. Die Teilnahme an Abendveranstaltungen lässt sich viel mühsamer organisieren und auch nicht ständig. Selbst sehr engagierte Väter gestalten ihre Praxis einfach anders als Frauen. Männer planen die Zeit für sich selbst viel selbstverständlicher in ihren Alltag ein. Da wird, was auch immer, abseits von Anwesenheitspflichten nicht einfach zugunsten der Familie regelmäßig abgesagt oder überhaupt darauf verzichtet. So ist und bleibt die Kinderbetreuung ein wichtiges Thema, das hauptsächlich bei der sorgenden Mutter bleibt. Diese wird dem männlichen Machtstreben als Gegenpol gegenübergestellt. Ein Bild, das übrigens weit aus der Geschichte stammt, bringt die Historikerin Kathrin Quatember ein.

Die sorgende Mutter ist vor allem im Kopf der sorgenden Mutter und damit gesellschaftlich extrem verankert. Das ist kein Spaziergang, sowas zu verändern, zumal konservative Geschlechterbilder wieder auf dem Vormarsch sind und die Geschlechterordnung politisch wieder neu umkämpft ist. Der Umbau der Wohlfahrtsstaaten betrifft oft gerade Frauen sehr stark. Die Frauenförderung wird dem Wettbewerb der besten Köpfe, also der sogenannten Excellence, untergeordnet. Stattdessen sollte Arbeit neu bewertet und neu verteilt werden. Julia Schuster, Soziologin vom Institut für Genderstudies in Linz, fordert in diesem Zusammenhang Mut, um über neue Modelle nachzudenken. Die politische Situation in Europa lässt die Gleichstellung momentan nicht weiterblühen.

Aber ich möchte die Diskussion gar nicht nur auf Kinder beschränken und nochmals zur Aussage von Jelena Pantic-Panic zurückkommen. „Lass mich jetzt mal mit meinem Selbstbewusstsein deine Kompetenz in Frage stellen“. Sie spricht damit ganz dezidiert die Praxis in vielen Medienhäusern an und meint damit die immer noch sehr oft anzutreffende und leider viel zu selten offene Missachtung findende überhebliche Haltung von männlichen gegenüber weiblichen Kolleg*innen. Auch unterstreicht sie die Vorbildfunktion von Medienhäusern und die damit verbundene Verantwortung.

Dazu ein kleiner Ausflug. Ich lese momentan das Buch „Kultur der Digitalität“ von Felix Stalder. Darin arbeitet er einleitend die Rahmenbedingungen heraus, die die Wege in die Digitalität gestalten und macht dabei auch interessante Analysen der Vergangenheit: „Schaut man sich heute Fernsehdiskussionen aus den fünfziger und sechziger Jahren an, fällt einem nicht nur auf, wie genüsslich im Studio geraucht wurde, sondern auch, wie homogen das Teilnehmerspektrum war. Meist sprachen weiße, heteronorm agierende Männer miteinander, die wichtige institutionelle Positionen in den Zentren des Westens innehatten. Vor allem sie waren legitimiert in der Öffentlichkeit aufzutreten, ihre Meinung zu artikulieren und diese von anderen als relevant, anerkannt und als diskutiert zu sehen. Sie führten die wichtigen Debatten ihrer Zeit.“

Ist es heute anders? Wenn ich Ö1 höre, kann ich bestätigen, dass weiße, gut ausgebildete, erfolgreiche, vermutlich besserverdienende Frauen auch Interviews dazu geben, wie die Welt am besten funktioniert und wie vor allem sie selbst immer alles richtiggemacht haben und sich insofern auch selbst als rundfunkwürdig betrachten. Im Zusammenhang mit Stalders Geschichts-Exkurs ein sichtbarer Fortschritt. Für die gesellschaftliche Gegenwart aber eine Entwicklung, die noch viel Platz für Entfaltung lässt.

Diese soeben bemängelte Entfaltung glückt den Freien Medien durchaus besser, der Weitblick im Umgang mit den vielen unterschiedlichen Akteur*innen ist hier vermutlich einfach weniger beladen von Alt-Hergebrachtem und es entstehen dabei, meiner Ansicht nach, lebensnähere/authentischere Produktionen. Oder wie es Felix Stalder nennt: „Die Erweiterung der sozialen Basis der Kultur“.

Und so ist es auch 2018 noch immer bemerkenswert, wenn eine Moderatorin und ihre ausschließlich weiblichen Gäste im Studio vor laufender Kamera und live im Radio eine Stunde lang ihre Sicht der Dinge darlegen.

Es ging vier Mal eine Stunde lang auch um Männer, sogar um Kinder, um Kultur, um Politik, um Wissenschaft, um Medien und um die Fragen, warum und wohin sie denn verschwinden, die Frauen, die auf der Uni noch vorn dabei waren und dann ein paar Jahre später ihre Karriere auf Sparflamme gestalten und die erste Reihe meiden? Ein gut abgestecktes Spektrum relevanter Aspekte und Entwicklungen, die die Situation gut vergegenwärtigen und auch bezüglich einem hoffentlich bald eingeleiteten Frauenvolksbegehren die Forderungen sichtbar und hörbar machten.

NOT TO DISAPPEAR! – eine pure Übertreibung?
Daniela Banglmayr hat sich vorgenommen, fünf Sendungen (auf Radio Fro & Dorf TV, unterstützt von der Gesellschaft für Kulturpolitik) zu gestalten. Sie stellt tatsächlich das Verschwinden der Frauen in den Raum. Aber ist das so, ist das vielleicht doch pure Übertreibung? Nun, Übertreibung ist ja in vielen Bereichen eine notwendige Strategie, um überhaupt ein Ohr zu bekommen. Und so viel kann ich festhalten – die Notwendigkeit, weiter über die Rolle der Frauen in der Gesellschaft öffentlich zu reflektieren ist mehr als gegeben und die Notwendigkeit, Strategien auszubaldowern und sichtbar und hörbar zu machen, wann immer es die Möglichkeit dazu gibt, ebenfalls!

Die nächste und diesbezüglich vorläufig letzte Gelegenheit Daniela Banglmayr und ihren Gästen live beim Baldowern zuzuhören und zuzusehen gibt’s am 21. September 2018 um 17 Uhr auf Radio Fro 105,0 MHz und in der Folge auf Dorf TV zum Nachsehen. Sandra C. Hochholzer arbeitet weltumspannend für weltumspannend arbeiten und Radio Fro und entwickelt und leitet Bildungs- und Medienprojekte.

 

Alle Sendungen zum Nachhören: cba.fro.at und www.fro.at
Alle Sendungen zum Nachsehen: www.dorftv.at
Suchwort: not to disappear

Feminismus zum Anziehen?

Der Feminismus und sein immanentes Befreiungspotetial in Popkultur und Fashion: Riot-Grrrl, Radical Chic, Attitude und die größere soziale Gerechtigkeit – Sarah Held zeigt Beispiele, Widersprüche und Emanzipationspotentiale auf.

Neue Produktionstechniken generieren alternative Körperbilder: Der Studiengang Fashion & Technology der Kunstuniversität Linz. Bild „Happy Horder“ by Mirela Ionica, Studentin Fashion & Technology

Neue Produktionstechniken generieren alternative Körperbilder: Der Studiengang Fashion & Technology der Kunstuniversität Linz. Bild „Happy Horder“ by Mirela Ionica, Studentin Fashion & Technology

Nicht nur in der Mode feiern die 90er Jahre mit der aktuellen Retrowelle eine regelrechte Renaissance, auch innerhalb der Popkultur zeigen sich diverse Phänomene aus den 90ern, allen voran das Revival des Girl-Power-Slogans. Dieser steht für eine vermarktbare feministische Attitüde, die vorwiegend mit der etwas platten Phrase der Spice Girls assoziiert wurde bzw. wird. Ähnlich wie diverse andere massenkompatible Erscheinungen hat auch der popfeministische Spice Girls-Girl-Power-Slogan einen aktivistischen und/oder subversiven Background. Vor dem Bubble-Up zur nahezu inhaltsleeren Oberflächenrhetorik des Pop-Mainstreams der 90er Jahre positionierte sich die punkinduzierte Riot-Grrrl-Bewegung mit emanzipatorischen Slogans wie Revolution Girl Style Now. Diese dienten zur Identitätsbildung und -verortung sowie dezidiert zum aufrührerischen Verhalten, aber vor allem zur Bandenbildung innerhalb einer feministischen Sisterhood. Als genderorientiertes Punk-Subgenre weist die Riot-Grrrl-Bewegung einerseits ästhetische Verwandtschaft zum Punk auf, bildete aber eine eigene Bildsprache heraus, die heute innerhalb der Riot-Grrrl-Retrowelle reproduziert und erweitert wird. (1) Welche Beispiele zeigen sich in der aktuellen Popkultur für die Vermarktung feministischer Slogans bzw. deren Verwendung als Tool zur Identitätsbildung? Es werden vestimentäre Praxen skizziert und die Schnittstelle feministischer Intentionen im Modekontext aufgezeigt.

Nicht nur in sozialen Netzwerken und szeneorientierten Kontexten sind feministische Mode und ein sogenannter Riot-Grrrl-Style sichtbar. Der Onlineshop Feminist Apparel hat sein Sortiment komplett auf Radical Chic ausgelegt, so kann sich dort von Kopf bis Fuß mit feministischem Merchandise eingedeckt werden, glitzernde Accessoires inklusive. Es werden Nischen geöffnet und kleine Untergrund-Designlabels, beispielsweise Indyanna (2) gegründet, die ihre Kollektionen mit aufrührerisch klingenden Titeln wie riots start everywhere benennen und sich in den Kleidungsstil von Riot-Grrrl-Bands wie Bikini Kill, Bratmobile oder Le Tigre verorten.

Was früher als subkulturelle Do-it-yourself-Mode der Riot-Grrrl-Bewegung entstand, wurde mittlerweile über Indie-Labels bis hin zu globalen Modeketten kommerzialisiert. Den endgültigen Schritt weg von der Szene markiert das T-Shirt mit dem Druck der Lexikon-Definition des Substantivs „Feminism“ des schwedischen Modehauses H&M aus dem Jahr 2015.

Die Verwendung von feministischen Symboliken und Bildsprachen unter kapitalistischen Interessen großer globaler Marken ist kritisch zu betrachten und auch hier muss wie bei verschiedenen aktuellen feministischen Erscheinungen in der Produktvermarktung das Framing mitgedacht werden: Wer agiert, wie wird agiert, was sind die Rahmenbedingungen und unter welchen Prämissen werden welche Absichten verfolgt? Im Beispiel der H&M-Kampagne handelt es sich weniger um eine ideell orientierte Massenverbreitung von feministisch-emanzipatorischen Inhalten denn um eine kapitalistische Verwertungslogik. Feminismus wird hier zur zentralen Marketingstrategie hipper Labels reduziert und als solche vermarktet. Aktivistisch bleibt es eher an der Oberfläche, wenn Jacken mit glitzernden Riot-Schriftzügen verziert werden, wie beispielsweise beim Start-Up Indyanna aus Berlin. Bildsprachlich wird hingegen modische Selbstdarstellung mit feministisch-subversiven Inhalten assoziiert. Ein weiteres Beispiel für die Verwendung von feministischer Bildsprache und -ästhetik ist Karl Lagerfelds Inszenierung im Rahmen der Ready-to-wear-Modenschau 2014. Der Catwalk sollte den Eindruck einer Frauenrechtsdemonstration erzeugen. Dabei liefen die Models mit Demo-Transparenten über den Laufsteg und forderten allerdings statt Gleichberechtigung ihr Recht auf Luxusmode von Chanel ein. Feministisches Potential versteckt sich hier nicht, denn die Darstellung beschränkt sich auf eine inhaltslose Repräsentation, die weder das subversive noch das feministische Moment der referenzierten Ästhetik reproduziert, besonders im Hinblick auf die körperfeindlichen Zitate des Designers. (3)

Popkultur und Mode wird häufig vorgeworfen, feministische Maxime als Marketingstrategie zu verwenden. Das geschieht zum Beispiel bei der Pop-Sängerin und Aktivistin Beyoncé Knowles, deren feministisches Engagement und öffentliche Selbstbezeichnung als Feministin in radikal-feministischen Kreisen kritisch diskutiert werden. (4) An dieser Stelle muss eingeworfen werden, dass eine Ikone wie Beyoncé größeren Einfluss auf ein breites, zumeist junges Publikum hat als die einschlägigen Diskussionen der Genderforschung und radikal-aktivistischer Gruppierungen. Allerdings erweisen sich jüngst publizierte Tatsachen bezüglich der Produktionsbedingungen von Beyoncés Modelabels Ivy Park als problematisch. Das Label nutzt zur Produktion der Designs Kollaborationen mit Fast-Fashion-Derivaten wie TopShop und lässt in Sweatshops in Sri Lanka produzieren. (5) Hierbei zeichnen sich die üblichen Problematiken kapitalistischer Konsumkultur ab. Das Beispiel der Sängerin Beyoncé wird allerdings im Diskurs auf einer anderen Ebene verhandelt, denn durch ihre feministische Einschreibung und ihren Black-Movement-Aktivismus in den USA werden solche Skandale medial besonders gern verwertet. Es ist allerdings auch eine berechtige Entrüstung.

Richten wir – im Zusammenhang mit den Produktionsbedingungen – den Fokus auf die mexikanischen Sweatshops (Maquiladores) von Ciudad Juárez, um zu zeigen, dass mit Modepraxen auch Handlungsmacht geschaffen werden kann. Die Grenzregion ist bzgl. der Femicides seit den 1990er Jahren immer wieder im Gespräch, weil dort seitdem mehrere hundert bzw. tausend Frauen getötet wurden und verschwunden sind. Es besteht ein direkter Zusammenhang zwischen Femicides und Maquiladores, da dort Frauen in der Mehrzahl arbeiten und häufig auf dem Weg zur Arbeit verschwinden. (6) Neben verschiedenen künstlerischen Auseinandersetzungen (z. B. Desconocida Unknown Ukjet) oder Menschenrechtskampagnen (z. B. FEMAP) ist die Modemanufaktur NI EN MORE ein Versuch, die Situation für Frauen in Juárez zu verbessern. Dabei handelt es sich um ein junges Modelabel, das 2018 Marktreife erlangen möchte. Sie propagieren Ziele wie beispielsweise ein nachhaltiges Geschäftsmodell von, mit und für Frauen aus Juárez. Das Label erzeugt dabei Mode vor Ort, mit allen Produktionsschritten von Design bis Textilherstellung. Das beinhaltet nicht nur einen de-globalisierten Herstellungsprozess der Kleidung, sondern auch eine soziale, gar aktivistische Intention. Denn die Initiator*innen versuchen mit ihrer Strategie, sexualisierte Gewalt gegenüber Frauen sichtbar zu machen und alternative Arbeitsmöglichkeiten für Frauen in Juárez zu schaffen. (7) Die sozioökonomischen Bestrebungen des Modelabels zeigen deutlich eine ethisch-moralische Komponente von Modeherstellung im Kontext von feministischen Aktivismus. Schließlich ist die Branche dafür bekannt, sehr häufig unter ethisch fragwürdigen Bedingungen zu produzieren. Das betrifft Designware genauso wie massengefertigte Normkleidung der großen Modehäuser. Natürlich gibt es hier Ausnahmen, die bewusst auf den LOHA-Trend setzen und fair herstellen lassen.

Hinsichtlich einer anderen, technologisch orientierten Entwicklung: Seit einigen Semestern kann man an der Linzer Kunstuniversität den Studiengang Fashion & Technology studieren. Der Studiengang scheint ein Experimentalfeld zu sein und setzt auf Technik. Bei einem Besuch der Werkstätten und einer Führung durch die Räumlichkeiten in der Tabakfabrik wird deutlich: hier soll ein neuer Wind wehen. Ich spüre einen Hauch von Aufbruchsstimmung dort, wo Mode mit Technologie kombiniert wird und damit neue Wege begangen werden sollen. Bei so viel wahrgenommenem Aufschwung ist auch eine feministische Note deutlich spürbar. Gerade in Bezug auf Körpernormierungen und Körperpolitiken scheint sich in Linz etwas zu tun. Möglicherweise gelingt es im lokalen Experimentalraum, die mächtigen körperfeindlichen Diskurse an der Schnittstelle von Mode und Technologie mit Innovationen möglicherweise zu schwächen. (8)

Zum Abschluss möchte ich zur poppigen Feminismusvariante zurückkehren und betonen, dass im Sinne eines Spread-the-word die aktuellen Entwicklungen durchaus förderlich für die Verbreitung feministischer Intentionen sind, um Nachwuchs für die Sisterhood zu gewinnen. Zudem verhilft die Popvariante Feminismen zu einem Imagewechsel: sich buchstäblich in neuem Kleid zu zeigen. Kurzum, es trägt dazu bei, die Attraktivität einer feministischen Selbstbezeichnung zu erhöhen, denn es gilt in bestimmten Kreisen als schick, Feminist*in zu sein. Zudem wird möglicherweise einen Einstieg bereitet, sich auch tiefergehend mit der Materie zu beschäftigen und nicht nur feministisch motivierte Bildsprachen auf Textilien zu tragen.

 

1 www.missy-magazine.de/2016/05/30/riot-grrrl-chic
2 www.indyanna.squarespace.com
3 www.pop-zeitschrift.de/2014/10/12/mode-oktobervon-sabina-muriale12-10-2014
4 www.theeuropean-magazine.com/julia-korbik–3/9500-feminism-as-a-trend
5 www.huffingtonpost.com/michael-shank/how-beyonces-ivy-park-lab_b_10143234.html?guccounter=1
6 Tipp: Lourdes Porillos Dokumentation Señorita Extravida – Missing Young Women
7 Weiterlesen auf www.nienmore.com/home
8 www.ufg.at/Fashion-Technology.11325.0.html

Everything must go! Ich werde an Übelkeit sterben.

Wenn dieses Schwanken zwischen positiver Gelassenheit, der Freude darüber, demnächst endlich alles anzünden zu dürfen und der Überzeugung tief drin, dass alles noch viel viel schlimmer kommen wird (schlicht, weil es schlimmer kommen KANN) nicht bald aufhört, dann werde ich an Übelkeit sterben. Mein Herz wird aufhören zu schlagen. Mein Magen und Bauch werden rumoren wie nie zuvor, während sich in meiner Galle ein Brennen und Ziehen breitmachen wird. Ich werde noch ein paar Rülpser in die Welt setzen und dann wird es aus sein.

Die Welt ist manisch-depressiv – oder ist es doch mein Blick, der sich nicht entscheiden kann und mal freudig und dann wieder angstvoll um die nächste Ecke schaut? – egal – ich fühle mich jedenfalls wie damals, als ich als einzige nicht seekrank, dafür nach drei Wochen Segel-Urlaub aber landkrank wurde. Ich wusste nicht einmal, dass es dieses Krankheitsbild gibt. Landkrank. Wenn der Körper sich auf See wohler fühlt als auf dem Trockenen, dann kann eine das überkommen. Dann steigt eine vom Schiff, über dessen Reling alle anderen drei Wochen lang das Meer vollgekotzt haben und kotzt plötzlich selbst (sich vor die Füße. Ohne Reling. Ohne Meer). Abgrundtiefe Übelkeit überkommt eine, sobald das wohlig und grundvernünftig schaukelnde Schiff verlassen werden muss. Abgrundtief übel. Und man weiß: solange auch noch ein Bissen, ein Tropfen in mir ist, der raus MUSS, gibt es keine echte Besserung. Everything must go! Und so auch ich – aus dem Leben anderer, in das ich mich gedrängt habe. Geborgtes Glück, das ich zurückgeben muss. Davor natürlich ausmisten, weil sich wie immer Objekte im Netz der Projektion eines besseren, eines gemütlichen, eines einfachen Leben verfangen haben. Ich kenne das. Ich bin geübt darin. Eine, die schon als Kind stets mit einem fix fertig gepackten Köfferchen unter dem Bett geschlafen hat, tut sich nicht allzu schwer mit weggehen. Eher mit dem Bleiben. Mit dem Statischen, mit dem nicht wohlig und grundvernünftig Schaukelnden.

Landkrank also. Ich denke, ich bin unter Umständen österreichkrank. Immer schon gewesen. Und mindestens in dritter Generation mütterlicherseits. Meine Großmutter – *1899 – meinte, dass das nicht mehr „ihr“ Österreich war, nachdem die Nazis übernommen hatten (wobei sie zwar mit einem republikanischen Österreich auch nicht wirklich allzu glücklich war, befürchte ich, immerhin aber konnte man sich auf die Schnittmenge des Antifaschismus einigen). Meine Mutter – *1934 – wollte nur weg aus dieser Kleinstadt, in die sie gepresst, festgehalten und zu einem stillen Leben gezwungen wurde und später von einer Ehe und vielen Kindern so richtig festgeschraubt wurde an diesem Ort, über den und dessen Bewohner und Bewohnerinnen ich sie nie versöhnlich sprechen hörte. Weg wollten sie und geblieben sind sie und gehadert haben sie. Und ich – *1969 – ich träume vom Meer, vom Schaukeln, vom Treibenlassen, vom Schreiben, vom Auskotzen, vom leer werden.

Landkrank also, da waren wir.

Also nicht generell landkrank, sondern eher geographisch eingeschränkt auf Österreich. Und Ungarn. Und aktuell Italien vielleicht auch noch. Und die USA nicht zu vergessen. Also doch eher länderkrank. Und gleichzeitig, wenn ich mit Freund*innen spreche, habe ich das Gefühl, wir sind mittendrin in etwas schwer Revolutionärem, einem Aufbruch, jedenfalls mittendrin in etwas sehr Gescheitem, Aufregendem, Neuem. Wir können uns allerdings noch nicht entscheiden – ob es notwendig sein wird, gleich und alles anzuzünden oder doch eher …. Ja was eigentlich? Schlauer sein? Menschlicher und demokratischer? Ausharren? Mit Faschisten reden? Hat schon 1938 ganz toll funktioniert. Revolutionär zu sein und nicht alles anzuzünden wird in jedem Fall eher schwierig. Es wird nicht ohne hässliche Bilder gehen.

Derweil findet mein Blick aber noch Schönes: Ich schreibe in einem wunderbaren Garten und blicke auf das wohlig und grundvernünftig schaukelnde Wasser. Es ist noch Sommer und ich bin noch da. Ich sortiere aus, ich miste aus. Trenne mich. Und merke, wie das Innere und das Äußere und die Liebe und die Politik plötzlich miteinander zu tun haben wie selten zuvor. Ich glaube nicht, dass ich in diesem Land bleiben kann, ebenso wenig wie ich in diesem Garten bleiben kann. Es hält mich nichts und niemand. Im Gegenteil macht es mich krank. Mitzuerleben, wie die Spekulanten und ihre dumpfe Klientel in diesen Stadtteil einfallen, alles niederreißen, was eine Geschichte erzählt und alle vertreiben, die diese Geschichte erzählen könnten, bricht das Herz. Mitzuerleben, wie Faschisten ihre alten Geschichten wieder auspacken und über dieses Land stülpen, den Verstand. Lobbyisten bekommen mit einem Fingerschnipp alles an Gefälligkeit (und mehr als sie zu träumen wagten, befürchte ich) vor die Füße gelegt, während anderen Grundlegendes verwehrt wird – Teilhabe und Zugang zu Kultur, Recht auf menschenwürdiges, selbstbestimmtes Wohnen und Arbeiten. In diesem Land regiert die Schamlosigkeit, mehr fällt mir dazu nicht mehr ein, außer: dank an alle, die bleiben, die aufstehen, die sich gegenseitig stärken und Kraft geben! Und passt verdammt nochmal auf eure große Liebe auf! Einmal verschissen, findet ihr sie ein Leben lang nicht mehr.

Da Rechte keinen Sinn für Zwischentöne, Anspielungen und Witz haben, halte ich fest, dass der Ausdruck „alles anzünden“ bitte schön nicht wortwörtlich zu nehmen ist. Niemand hier will irgendwas und schon gar nicht alles anzünden. Es ist ein in feministischen Kreisen gebräuchliches Wortspiel, das die empfundene reale Machtlosigkeit gegenüber den Zu- und Umständen gedanklich in etwas verwandelt, das von Erneuerung und Veränderung erzählt (Phönix, Asche, aus der). Bitte ggf. in einem Duden nachschlagen. Danke. (Anm. WH)

Song singt, was Sache ist …

Hinweis auf zwei Nummern von Notton: „Schlaft ein“ mit der Zeile „Würde ist antastbar, Leistung lohnt sich wieder …“ oder „Da Schnid“, einer Hommage an die Nine Inch Nails und ihr „Hurt“. In der Version von Notton heißt es: „Wos is aus mir worn, die große Freiheit und a miada König. I hobs Spüh valorn, doch eiche Regln san so gewöhnlich“. Direkter Dialekt, Herzensangelegenheit.

notton.at

Anarchie in Kuba

„Freiheit ohne Gleichheit ist ein Dschungel, Gleichheit ohne Freiheit ein Gefängnis“, so eine anarchistische Grundaussage, die wohl besonders in Kuba Wirkung entfaltet. Eva Schörkhuber und Andreas Pavlic haben auf ihrer Reise nach Kuba die Gruppe Taller Libertario Alfredo López besucht. Erkenntnis 1: Auch Anarchist_innen betreiben Crowdfunding. Erkenntnis 2: Besonders mit ihrem Engagement für Bildung und Autonomie erinnert die Gruppe an einen frühen Anarchismus, der auf der ganzen Welt gegen das Elend der Arbeiter_innen auftrat und die ersten sozialen Errungenschaften ermöglichte.

Es ist ein warmer Tag im Januar. Ein strahlend blauer Himmel spannt sich über Havanna. Wir machen uns auf den Weg, gehen die prächtige Steintreppe hinauf, die zum Haupteingang der Universität führt. Wir halten inne, sehen uns um. Von keiner der Personen, die hier sitzen, nehmen wir an, dass sie unsere Kontaktperson ist. Eine Gruppe in Militäruniformen geht an uns vorbei, zwei Männer und zwei Frauen. Am Ende der Treppe wartet ein Auto, sie steigen ein. In diesem Moment biegt ein Mann in gelbem T-Shirt um die Ecke und steigt die Treppen hoch. Kein Zweifel, das ist Mario. Wir begrüßen uns herzlich. Dann nimmt das Gespräch seinen Lauf, wir unterhalten uns über die anarchistische Gruppe, deren Mitglied Mario ist, über die Geschichte des Anarchismus auf Kuba und auch darüber, dass Marios Tochter, die in die erste Klasse geht, Fidel Castro für ihren Großvater hält: Im Fernsehen sei eine Archiv-Aufnahme von einer der Reden Castros ausgestrahlt worden und seine Tochter habe gerufen: „Schau Papa, das ist Opa!“ Er habe nicht sofort verstanden, aber dann habe seine Tochter erzählt, dass in der Schule stets von Fidel Castro als dem großen Vater Kubas die Rede gewesen sei. Einiger Zeit habe es bedurft, um seiner Tochter klar zu machen, dass Castro nicht ihr richtiger Opa sei. Wir lachen, alle drei, dann wird Mario ernst: „Ein Schulsystem, das vorwiegend Staatspropaganda vermittelt, ist untragbar.“ Schließlich fragen wir ihn, ob es wirklich Zufall gewesen sei, dass die Militärgruppe verschwunden und er aufgetaucht sei. Mario winkt ab. Zurzeit sei es nicht so gefährlich, „wir können in Ruhe arbeiten – momentan.“

„We do not feel shame to be anarchists“
Und zu tun gibt es genug. Über eine Crowdfundig-Kampagne haben wir von der anarchistischen Gruppe erfahren. Taller Libertario Alfredo López (Libertärer Workshop Alfredo López) hat einen internationalen Spendenaufruf gestartet, um Geld für die Errichtung eines Sozialen Zentrums in Havanna zu sammeln. „Unser Aktivismus ist nicht so, wie ihr es euch vielleicht vorstellt und wie es in Europa oder in den USA gehandhabt wird“, erzählt Mario, „wir wollen uns nicht als die Bad Guys in schwarzer Kleidung präsentieren.“ Es gehe nicht darum, in direkte Konfrontation mit dem Staat zu gehen, da würde die Repression sofort zuschlagen. Wesentlich für die Gruppe sei es, Kontakt zu den Menschen aufzubauen und zu zeigen, dass es in ihrer Hand liegt, die Wirklichkeit zu transformieren.

Hervorgegangen ist Taller Libertario Alfredo López (TLAL) aus dem Netzwerk Observatorio Critico. Von 2003 an wurden seitens des kubanischen Kulturministeriums jährlich Treffen initiiert, bei denen Künstler_innen, Wissenschafter_innen und Aktivist_innen über die gegenwärtige Situation im Land diskutierten. Die Themen waren Bildung, Umweltverschmutzung, Gender. Jahr für Jahr wurden kritischere Positionen eingenommen. Die Leute hatten das Gefühl, frei sprechen zu können, obwohl die Organisation unter der Kontrolle des Kulturministeriums stand. 2010 stellte es die Koordination ein, die Mitglieder des Netzwerkes mussten nun allein weiterzumachen. Am 1. Mai 2010 fand das erste Treffen des TLAL statt. „Wir haben beschlossen, uns als Anarchist_innen zu organisieren – we do not feel shame to be anarchists.“ Von da an wurden regelmäßig Präsentationen und Diskussionen organisiert, Infomaterialien zusammengestellt, die Zeitschrift Tierra Nueva herausgegeben und an der Realisierung eines Sozialen Zentrums in Havanna gearbeitet.

„… das ist die Idee von Autonomie“
Das nächste Treffen mit Mario findet eine Woche später statt. Gemeinsam machen wir uns auf den Weg zu dem Haus, in dem das Soziale Zentrum entstehen soll. Wir durchqueren die Höfe der Universität und steigen in einen Bus. 45 Minuten lang fahren wir weg vom Zentrum hinauf in die Hügel von Havanna. Lawton heißt das Barrio, das von ehemaligen Zuckerbaronen gegründet und im typischen Kolonialstil errichtet wurde. Wir sehen Häuser mit vorgelagerten kleinen Terrassen, einige in kräftigen Farben gestrichen, viele jedoch grau und ramponiert. Im Bus treffen wir zufällig Isbel, der ebenfalls bei TLAL aktiv ist. Zu viert steigen wir die Straße hinunter, Isbel erzählt, dass die Crowdfunding-Kampagne rasch erfolgreich gewesen sei, dass sie das Haus mittlerweile gekauft hätten und sich darauf freuten, das Zentrum zu eröffnen: „Allerdings steht uns noch viel Arbeit bevor, wir müssen das Haus einrichten und Kontakte zur Nachbar_innenschaft knüpfen. Wir wollen soziales Vertrauen aufbauen, das es für eine Gemeinschaft braucht, das ist die Idee von Autonomie.“ Wichtig sei es, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen und nicht darauf zu warten, dass der Staat alles für eine_n erledige. „Das tut er sowieso nicht“, Mario grinst und zeigt auf die überbordenden Mülltonnen am Straßeneck, „das könnte mit vereinten Kräften ganz schnell beseitig werden.“ „Und hier zum Beispiel ließe sich wunderbar Gemüse anbauen“, meint Isbel und deutet auf die Grünfläche zwischen den Treppen, auf denen wir das schmale Gässchen hinabsteigen. Vor dem Haus warten David und Antonio auf uns und schließen das Gartentor auf. Ein schmaler Gang führt zur Tür ins Erdgeschoss, eine Betontreppe auf die Terrasse, über die eine_r ins Obergeschoss gelangt. Wir steigen hinauf. „Hier soll ein Versammlungsort sein und hier drinnen – “, Mario öffnet die Tür, „wollen wir eine Bibliothek einrichten.“ Bevor wir eintreten und uns auf den Boden der zukünftigen Bibliothek setzen, zeigt David auf eines der angrenzenden Häuser: „Dort drinnen befindet sich das CDR (Comité de la Defensa de la Revolución, das Komitee zur Verteidigung der Revolution), das ist schräg, dass wir direkt neben diesen Überwachungsorganen unser Zentrum eröffnen.“ „Ja“, seufzt Isbel, „der Anarchismus hat es auf Kuba nie leicht gehabt …“

Von Alfredo López bis zur Kubanischen Revolution
Wie in den meisten Ländern des amerikanischen Kontinents existierte um die Jahrhundertwende eine Arbeiter_innenbewegung, die stark von anarchistischen und syndikalistischen Ideen geprägt war. Der Fokus lag nicht auf Parteiwesen und Wahlen, sondern auf Aufklärung, Bildungs- und Erziehungswesen und vor allem auf der gewerkschaftlichen Organisation in den Betrieben. So auch in Kuba. Dort kam es 1924 zur Gründung der „Federación de Grupos Anarquistas de Cuba“, ihr wichtigstes Organ war die Zeitung Tierra!, die bis in die späten 30er Jahre erschien und Vorbild für die aktuelle Tierra Nueva ist. Im gleichen Jahr wurde auch die „Confederación Nacional Obrera de Cuba“ (CNOC) gegründet, eine Arbeiter_innenföderation, die 128 Organisationen mit insgesamt 200.000 Menschen vereinigte. Sie forderte den Acht-Stunden-Tag und lehnte den Parlamentarismus ab. Generalsekretär der CNOC wurde der Schriftsetzer und Anarchist Alfredo López. Wegen wirtschaftlicher Not und hoher Arbeitslosigkeit kam es immer wieder zu Streiks und Protesten, der seit 1925 amtierende Präsident General Machado reagierte mit verstärkter Repression gegen die organisierte Arbeiter_innenschaft. Korruption und die koloniale Abhängigkeit gegenüber der USA verstärkten das soziale Elend. Im Herbst 1926 verschwand Alfredo López. Zuvor hatte er einen Regierungsposten abgelehnt, um unabhängig im Kampf für Arbeiter_innenrechte zu bleiben. Die Überreste seiner Leiche wurden erst nach dem Sturz Machados 1933 gefunden. Kaum hatte sich die Bevölkerung den einen Diktator vom Hals geschafft, kam der nächste – Sergeant Fulgenico Batista: ein Armeeangehöriger aus der zweiten Reihe, der zunächst das Kommando im Militär übernahm, bis er sich 1940 mit Hilfe der Kommunistischen Partei an die Macht wählen ließ. 1944 wurde er abgewählt, acht Jahre später kam er mit Hilfe der USA wieder an die Macht. In den 50er Jahren wuchs mit dem charismatischen Studenten Fidel Castro sein gefährlichster Gegenspieler heran. Vieles, was sich in dieser Zeit ereignete, wurde zur Legende: Der gescheiterte Angriff auf die Moncada-Kaserne am 26. Juli 1953 (deswegen M-26 bzw. Bewegung 26. Juli); Fidels Verhaftung und seine Verteidigungsrede, in der er den Satz „Die Geschichte wird mich freisprechen“ formulierte; sein Exil in Mexiko und das Zusammentreffen mit Che Guevara; die gewagte Überfahrt mit der Yacht „Granma“; die katastrophale Landung, bei der die Batista-Armee einen Großteil der Gueriller@s tötete; die Flucht in die Wälder der „Sierra Maestra“; der Beginn des Guerillakampfes bis zu dem triumphalen Einzug in Havanna Ende 1959.

Kaum bekannt ist, dass die revolutionäre Bewegung 26. Juli (M-26-7) zwar von Fidel Castro ins Leben gerufen, aber von verschiedenen Fraktionen unterstützt und getragen wurde. Darunter waren katholische Organisationen, liberal-demokratische, sozialrevolutionäre und auch anarchistische. Geeint wurden sie in der Ablehnung der Batista-Diktatur und dem Programm, das neben einer Landreform, eine Sozialreform und eine liberale Verfassung vorsah. Die Revolution selbst wurde anfangs von vielen als Befreiung gesehen. Castro verkündete noch im April 1959: „Wenn auch nur eine Zeitung verboten wird, wird sich bald keine Zeitung mehr sicher fühlen – und wenn auch nur ein einziger Mensch wegen seiner politischen Ideen verfolgt wird, wird sich niemand mehr sicher fühlen.“ Doch die Zeit für Widersprüche und Kritik war bald vorbei. Der Einfluss der Kommunistischen Partei wurde zusehends stärker. Einige hochrangige Gueriller@s, wie auch die anarchistischen Gruppen zahlten für ihre Ablehnung und die Bekämpfung des neuen Regimes einen hohen Preis. Viele wurden inhaftiert, gefoltert und ermordet. Wer konnte, ging ins Exil.

„Auch von unseren Genoss_innen haben viele das Land verlassen“, meint Mario. „Sie wollen andere Länder kennen lernen und sich woanders ein Leben aufbauen.“ Isbel fügt hinzu: „Schon das alltägliche Leben hier ist schwierig. Aber wir wollen die aktuellen Veränderungen hier von einer antikapitalistischen Perspektive aus kritisieren. Wir machen weiter.“ Am 05. Mai 2018, acht Jahre nach der Gründung der TLAL, wurde das Soziale Zentrum in Havanna eröffnet.

 

Hinweis auf die 2-teilige Fernseh-Dokumentation: Kein Gott, kein Herr! Eine kleine Geschichte der Anarchie Textauszug der Doku: „Vom Aufstand der Pariser Kommune 1871 bis zur Gründung der ersten großen Gewerkschaften, von der Entstehung libertärer Milieus mit alternativen Lebensentwürfen bis hin zur Einrichtung freier Schulen: Die anarchistische Bewegung hat die ersten Revolutionen angestoßen und gehört zu den entscheidenden Triebkräften großer sozialer Errungenschaften. Trotz dieser positiven Aspekte, hat der Anarchismus zweifelsohne seine Schattenseiten: Viele seiner Anhänger rechtfertigen den Einsatz von Waffen und Gewalt. Die zweiteilige Dokumentation beleuchtet von Frankreich über Japan bis nach Chicago und Buenos Aires die Ursprünge dieser politischen Philosophie und porträtiert die geistigen Väter der anarchistischen Bewegung wie etwa Pierre-Joseph Proudhon oder Michail Bakunin.“