Damit der Faden nicht reißt …

Feministische Wegbereiterinnen werden von Autorinnen jüngerer Generationen portraitiert. Was sie zugleich verbindet und trennt: ihr Alter, ihre Blickwinkel, ihre Erfahrungen, ihr Feminismus. Über das Buch Kämpferinnen und seinen lebensgeschichtlich orientierten Zugang schreibt Tanja Brandmayr.

 

„Die Texte sind hochpolitisch, überraschend, nachdenklich und poetisch. Ihre Überzeugung: Es muss weitergehen!“ ist auf der Rückseite des Buches zu lesen und man möchte dem uneingeschränkt zustimmen. Was die Zugänge selbstverständlich eint, lässt sich auf den ersten Blick mit den auf den Buchdeckeln ersichtlichen Ansagen „Fight Patriarchy“ (vorne) und „Smash Sexism“ (hinten) zusammenfassen. Dies veranschaulicht die ebenso kräftige wie fragile Geschichte in einem Kampf, der weitergeführt werden muss. Und ein kleines Detail zur Gestaltung: Neben dem Buchtitel „Kämpferinnen“ und den drei Herausgeberinnen-Namen Birgit Buchinger, Renate Böhm und Ela Großmann, sind die zwölf interviewten Wegbereiterinnen und zehn portraitierenden Autorinnen der jüngeren Generation gemeinsam und ununterschieden am Buchdeckel genannt – was man, über das vermeintlich Trennende der Generationen und Feminismen wohl als Zeichen für die Notwendigkeit von immer wieder neu zu bildenden Kollektiven für die übergeordnete Sache lesen kann. In diesem Sinn wären das hier: Marlies Hesse, Helma Sick, Sissi Banos, Christina Thürmer-Rohr, Mira Turber, Frigga Haug, pimp ois, Erica Fischer, Katherina Braschel, Christina von Braun, Gabi Reinstadler, Susanne Feigl, Elisabeth Stiefel, Theresa Lechner, Maria Mies, Nicole Schaffer, Irene Stoehr, Katharina Krawagna-Pfeifer, Ute Remus, Maria-Amancay Jenny, Heide Göttner-Abendroth und Gudrun Seidenauer.

Bei den Kämpferinnen handelt es sich um zwölf Frauen und um lebensgeschichtlich orientierte Interviews/Gespräche, die zuerst vorwiegend von den Herausgeberinnen mit den feministischen Wegbereiterinnen geführt wurden. Diese kommen größtenteils aus dem deutschsprachigen Raum, aus unterschiedlichen aktivistischen, politischen, kulturellen, ökonomischen etc. Feldern und sind – als eine der wenigen wirklichen gemeinsamen Vorgaben – spätestens 1945 geboren. Dieses Material wurde, um die Texte zu verfassen, an Feministinnen der jüngeren Generation weitergegeben. Was wiederum zu einer Vergrößerung und Vermehrung von Beschäftigung führte, alles in allem zu einem fruchtbaren Prozess. Dazu ist seitens der Herausgeberinnen im O-Ton zu lesen: „Der ursprüngliche Plan für dieses Buch war, die Porträts selbst zu verfassen. Verschiedene Hürden auf diesem Weg mündeten schließlich in das Vorhaben, den Stab bereits im Tun weiterzureichen. So wurde aus einem Solo ein kollektiver Produktionsprozess, was unserem feministischen Bewusstsein umfänglich entspricht. Indem sich jetzt junge und jüngere Frauen mit diesen Geschichten auseinandersetzen, passiert ein Transferprozess. Um den Faden nicht reißen zu lassen.“

Dieser Transferprozess gelingt insofern auf besondere Weise, als dass die lebensgeschichtlich orientierte Auseinandersetzung sich neben dem feministischen Kampf auch immer auf ein Eintauchen in die fremde und eigene Biographie stützt („Bei diesen Überlegungen tauchte ich in meine eigene Biographie“). Dieses Eintauchen findet diejenigen Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede vor, die sich nicht nur durch andere Arbeitsfelder und Haltungen auszeichnen, sondern sich auf grundlegende Weise durch die Gesamtheit von Schicht, Hintergrund, Status, Milieu, Zeit, Zeitgeist unterscheidet und speist – was bis heute im Diskurs zu einer Erweiterung des feministischen Bewusstseins, als auch zumindest teilweise zu heftigen Kämpfen führt. Gerade in der Offenlegung dieser lebensgeschichtlichen Unterschiede lässt sich aber die Gesamtheit von höchst kollektiven, wie individuellen Vorgaben kennzeichnen, die die feministischen Leben zwischen Persönlichem, Privatem und Politischem prägen. Manche Frau wurde im Selbstverständnis der 1950er und ff-Jahre etwa rundum derartig runtergemacht, dass man schreien möchte. In einem anderen Text findet man wiederum die (zumindest, was die Schule betrifft) tröstliche Zeile: „Entgegen eines oft bemühten Klischees der 1950er Jahre ist das Klima an ihrer Schule eher liberal. So ist es selbstverständlich, dass alle Mädchen studieren, ihr eigenes Geld verdienen wollen und darin, sowie in ihren Anstrengungen, die klaustrophobischen Verhältnisse zu verlassen, von ihren Lehrer:innen unterstützt werden“. Also zumindest punktuell Unterstützung gegen die gesellschaftliche Enge, die Frauen systematisch von eigenständigen Entscheidungen fernzuhalten verstand. An diversen Stellen finden sich Verweise auf NS-Erfahrung, familiäre Verstrickungen und die autoritären gesellschaftlichen Strukturen gesamt.

Christina von Braun etwa, 1944 geborene Kulturtheoretikerin, Autorin und Filmemacherin, hat gegen diese Verstrickungen von vielen Seiten angearbeitet: Deren Portraitistin Mira Turba beschreibt zum Beispiel ihren Ansatz, sich zur eigenen Kultur in Distanz zu setzen, um im kulturellen Vergleich zu sehen, woraus die eigene Kultur besteht. Wichtige Faktoren in Brauns Verständnis sind die Psychoanalyse als größerer kultureller Schlüssel oder eine Natura als kulturelle Konstruktion („Man hält das für Natur“). Es geht im Text um Christina von Brauns Nähe zu Frankreich, die Liberation von 1968, die Sehnsucht nach dieser Situation („Denn bald ist von der revolutionären Situation des Vorjahres in der Stadt nur noch die veränderte Wahrnehmung von Hierarchien, Denkweisen, dem Verhältnis zwischen den Geschlechtern und eine fortdauernde latente Sehnsucht nach dieser Situation zu spüren“). Braun wird in Frankreich Zeugin einer frühen Aufarbeitung der französischen Kollaboration mit den Nazis. Ihr Streben nach Aufklärung, Wahrheit, die Thematisierung von Unterdrückung führt zu einem umfangreichen Werk von Büchern und Filmen, die sich auch mit historischen (NS-)Aufarbeitungen oder mit der Konstruktion von (Frauen-)Rollen auseinandersetzen, auch im eigenen familiären Zusammenhang (das Buch „Stille Post“, über: „die Botschaften und Erbschaften ihrer Familie, mit der Mutter als Mittlerin“). Sie benannte als biographischen Einschnitt ein „Erkennen des Nicht-Ich“ oder musste sich mit den Widersprüchen ihrer eigenen Rolle als Ehefrau beschäftigen. So hatte sie zwar das Privileg, Bücher und Filme machen zu können. Aber als sie, wie in Frankreich gängig, eine Kinderfrau engagierte, um arbeiten zu können, führte das in Deutschland zu heftigen Anfeindungen. Später wurde sie zu einer Quereinsteigerin im akademischen Betrieb, wo sie die Gender Studies mit aufbaute.

Selbstverständlich beleuchten einige Texte im Buch auf starkem feministischem Fundament die ökonomischen Zusammenhänge als Generalschlüssel für Unterdrückung, etwa die Analyse über die Alleinrelevanz des „ökonomischen Mannes“ und das Paradigma, auf dem die kapitalistische Maschine beruht: Diese ökonomische Perspektive findet sich unter anderem bei Elisabeth Stiefel (Text: Birgit Buchinger und Ela Großmann). Insgesamt belegen gut geschriebene Texte und zahlreiche Aha-Erlebnisse die allumfassende Tragweite von Ökonomie und Geschichte. Und das facettenreich: Mit ihrem Porträt über Irene Stoehr streift Autorin Maria-Amancay Jenny ein Phänomen, das heute in freier Wildbahn nicht mehr ganz so häufig anzutreffen ist, nämlich das der „Hausfrau“: An der Debatte „Lohn für Hausarbeit“ entsponnen sich in den 1970ern vehement ausgetragene Haltungskonflikte zwischen den feministischen Lagern. Und Irene Stoehr besticht in ihrem feministischen Ansatz durch Komplexität, Genauigkeit und einer gewissen Liebe zum gewitzten Widerspruch. „Gerade wir Feministinnen gingen doch davon aus, dass die Frauen ‚seit ewigen Zeiten‘ unterdrückt wurden und die meisten Frauen ‚schon immer‘ Hausfrauen gewesen seien. Stattdessen erfuhr man: Das ist ziemlich neu. Der private Haushalt und mit ihm die Hausfrauenrolle kamen erst mit der Industrialisierung (…)“. Dieser Zusammenhang zwischen Kapitalismus und unbezahlter Arbeit der Frauen im geschichtlich-ideologischen Kontext der Industrialisierung faszinierte Stoehr: Dementsprechend war nicht der Lohnarbeiter die wichtigste Säule im Kapitalismus, sondern die Hausfrau. („Das gefiel mir besonders, weil es eine marxistische Kritik am Marxismus war“). Selbstredend ist dies nur eine unter mehreren Thematiken bei Stoehr, die später unter anderem die Frauenzeitschrift UNTERSCHIEDE mit herausgegeben hatte. Besonders mit dem Untertitel sollte eine breite Leserinnenschaft angesprochen werden: „Auf diesen Untertitel waren wir ein bisschen stolz (…): ‚Für Lehrerinnen und Gelehrte, Mütter und Töchter, Gleich- und Weichenstellerinnen; Freundinnen, Tanten und Gouvernanten aller Art‘“. Und mit der großen Bedeutung, die dieses Projekt UNTERSCHIEDE für sie hatte, geht auch hier ein Sinn für denjenigen Widerspruch einher, in dem man selber lebt: „Die wenig spezialisierte gemeinsame Arbeit an der Herstellung und Gestaltung eines originellen ‚Produktes‘ gehört zu meinen besten Erfahrungen feministischer Berufsarbeit, was sie natürlich – weil unbezahlt und nebenbei – gar nicht war.“ An vielen Stellen im Buch gibt es neben theoretischen und zeitgeschichtlichen Raffinessen (z. B. bei Stoehr auch die Debatte um einen abzulehnenden „Staatsfeminismus“) auch Verweise auf Kontinuitäten in ein Jetzt, etwa wenn Stoehr auf die Weiterentwicklung des Themas der Hausarbeit und der damals so genannten „reproduktiven Arbeit“ in Richtung heutiger Care-Arbeit verweist. Oder wenn sich Elisabeth Stiefels Forderung nach „lebensdienlichem Wirtschaften“ und die von ihr heftig kritisierte „Dominanz der Produktion“ in heutiger Anwendung durchaus als Vollversagen des Kapitalismus in Richtung Umwelt und Ökologie lesen lässt.

Hier können nur wenige Aspekte von Kämpferinnen angesprochen werden. Insgesamt bedeutet ein Eintauchen in feministische Grundlagen und Biographien der heute mindestens 77-jährigen Feministinnen auch, diejenigen Komplexitäten und Widersprüche zu streifen, die sich in einem Leben schlichtweg zusammenmischen. Manches Mal konnten sie überwunden oder bewältigt werden, ein anderes Mal mussten sie auch nur ausgehalten werden – und das ist widerständig gemeint: „Der Kampf um die eigene Selbständigkeit, die Existenz ist für viele raumgreifend und belohnt sie oft erst in späten Jahren damit, endlich tun zu können, worauf sie sich immer schon vorbereitet haben“, so die Herausgeberinnen. Über Gedanken der Macherinnen des Buches gibt das Schlusskapitel „Schön und bitter“ Auskunft. Es beginnt mit der kritischen Reflexion des biografischen Selbstes sowie mit Vermerken, dass, sinngemäß zitiert, „keine der Portraitierten zuerst aus ihrem Leben erzählte“. Es zollt der gemeinsamen Sache, den Portraitierten und ihrem Lebensweg Anerkennung. Es bietet Einblicke in das Making-of des Buches und bündelt Eindrücke, die man während des Lesens selbst recht farbenreich gewinnen konnte: Etwa, dass es innerhalb der feministischen Strömungen und auch zwischen den Aktivistinnen schon immer große Unterstützung, aber auch Gefechte gab (wenig überraschend). Es stellt die feministischen Wellen punktuell in Relation, benennt Hauptlinien und bemerkt bei den Feministinnen der älteren Generation, beispielhaft genannt, stärkere Reibungsflächen mit den Müttern, oder auch die relative Absenz bei den Gesprächspartnerinnen hinsichtlich des Themas Sexualität, zweifelsohne Unterschiede zu einem heutigen Feminismus. Außerdem stellen die Herausgeberinnen neben der vorgestellten Vielheit die „selbstkritische Frage nach (fehlender) Diversität und Intersektionalität“. Dennoch formuliert das Buch Grundlagen, auf denen sich in viele Richtungen weiterargumentieren lässt. Es zeugt von beeindruckender Kraft und Klarheit, die sich in den Texttiteln und Zwischenüberschriften spiegelt („Die Würde und das Geld“, „Auf der Suche nach dem guten Leben“, „Kein Ort, nirgends“, „Nein“, …) Damit kommen wir zum Anfang und Klappentext zurück: Yes, indeed, hochpolitisch, überraschend, nachdenklich und poetisch. Absolut gelungen, auch im Sinne einer Leser:innenschaft, die ihrerseits in ihre eigene Biographie einzutauchen vermag. Und hinter all dem feministischen Kampf, der wegen diverser Umstände auch heute gerne ins Abgekämpfte driftet, was auch ok ist, strahlt Kämpferinnen Ruhe, Stärke und Selbstsicherheit aus.

 

Birgit Buchinger, Renate Böhm, Ela Großmann (Hg.)
Kämpferinnen
Mandelbaum Verlag, 2021

Wandel unter weiblichen Werten

Auch wenn diese Kolumne nichts lieber möchte, als sich in Gleichwürdigkeit und in gelebter Vielfalt gleichen Rechts und gleicher gesellschaftlicher, politischer und sozialer Ausgestaltung von Chancen, Rollen und Positionen zu sonnen, wird frau sich doch häufig sowohl mit Windstille also auch den Sturmböen der zeitgenössischen Frauenbewegung, dem ruhigen Vor-sich-Hin-Gedeihen im bereits Erreichten oder dem abgelegenen Dunkel von Armutsgefährdung, von Prekariat, von Mental Overload oder von der Unvereinbarkeit von Beruf(-ung) und Familie konfrontiert sehen. Obschon gleichzeitig und andererseits auch viele neue Frauengruppierungen sprießen und wachsen, bleibt zu wünschen, dass sowohl Ruhe als auch die Stürme der Zeit genutzt werden, um echte Transformation im Sinne von Herrschaftsfreiheit, Gleichwürdigkeit und Würde voranzutreiben.

„Kapitalismus tötet ohne Notwendigkeit“, meint Jean Ziegler in einem Artikel des Magazins Kontrast vom 18. April 2019 und: „Unsere Welt quillt über vor Reichtum“. Doch die UNO-Pressekonferenz 2010 verlautbart: „Frauen verrichten 66 % der Arbeitsstunden der Welt und produzieren 50 % der Nahrung. Aber sie erhalten 10 % des Welteinkommens, besitzen 1 % des Eigentums, und sie stellen 60 % der ärmsten Menschen der Welt dar.“ Während Jean Ziegler anführt, dass es sich bei Armut und Hunger primär um eine globale Verteilungsproblematik handelt, führt der Pressebericht der UNO, der sich bis dato inhaltlich nicht substantiell geändert hat, vor Augen, dass gerade Frauen von dieser Ungleichheit der Verteilung des Volksvermögens und der damit einhergehenden Armut, einer Grunderfahrung von Gewalt, betroffen sind. Ein sehr breites und schlüssiges Erklärungsspektrum für diese frappierende Vulnerabilität von Frauen bietet die italienische Autorin, politische Aktivistin und emeritierte Professorin für politische Philosophie und internationale Politik Silvia Federici. Wie sehr die Unterwerfung der Frau, die Hexenverbrennung, die Kolonialisierung, der Niedergang des Feudalismus, der Beginn der Industrialisierung und der erstarkende Kapitalismus im Eigentlichen miteinander verwoben sind, zeigen ihre Forschungserkenntnisse und demgemäß die Grundthesen. Laut ihrer Synthese war die Hexenjagd sowohl in Europa als auch in den amerikanischen Kolonien nicht nur eine Herrschaftsstrategie, sondern von Anfang an eine recht bewusste Herangehensweise, um den kollektiven Widerstand zu brechen und die Bevölkerung zu spalten. Die Hexenverbrennung ist also gleichermaßen bedeutsam für die Entwicklung des Kapitalismus wie die Strategien der Kolonialisierung und der Enteignung der Bauern in Europa. Denn Kapitalismus war nach Federici nicht die einzig mögliche Reaktion auf die Krise der Feudalmacht, sondern das Ergebnis einer Konterrevolution gegen die sozialen Bewegungen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, die sich nicht zuletzt des Instrumentariums der Hexenverfolgung zur Durchsetzung ihrer Macht bediente.

Aus meiner Sicht gilt es heutzutage die Potentiale des Umbruchs der Zeit für die Anliegen der Frauen, im Geiste weiblicher Werte zu gestalten: eine Lebensweise zu forcieren, die nicht eine der Fortschreibung von Ungleichheit und machtpolitischer Hierarchisierung ist, sondern den Bedürfnissen der Menschen und der Natur in ihrer Ebenbürtigkeit entspricht. Das kommt der am meisten von Armut betroffenen Bevölkerungsgruppe, nämlich den Frauen, zugute, und bedeutet letztlich strukturelle Befreiung vom spätkapitalistischen Patriarchat und von Ausbeutung, Unterdrückung, Knechtschaft und Zerstörung letztendlich auch der Natur. Lehrt uns die Geschichte der Umbrüche seit Jahrhunderten, dass die Revolution ihre Kinder frisst, so wissen wir doch, dass trotz der Stürme, die auf uns zukommen, Veränderungen im Kleinen, im Verhalten, im Alltag, in unseren Lebens- und Beziehungsformen, in unserem Miteinander mit Bestimmtheit das sein werden, was bleibt.

In der nicaraguanischen Revolutionslyrik galt der Wind, der Sturm als zentrale Metapher für den Umbruch, für den gerechten Wandel. Viele Stürme, nicht nur eine Böe, charakterisieren auch die Frauengeschichte unserer Zeit. Nicht nur im Iran, in Belarus, in Syrien oder in Nicaragua. Das Rascheln der Blätter, der Wind in den Bäumen und das behände Rauschen seines Klangs mache uns gewahr für den langen Atem. Wir werden ihn brauchen.

 

Die Autorin wurde vermittelt von Female Positions.
www.femalepositions.at

Stadtblick

Foto Die Referentin

Eine Idee reist durch Zeit und Raum

Die Referentin bringt seit längerer Zeit eine Serie über frühe soziale Bewegungen und emanzipatorische Entwicklungen. Andreas Gautsch über den kommunistischen Anarchismus als Idee zwischen „dem Besten aus beiden Welten“ und einer „Horrorvorstellung zum Quadrat“.

Lucy Parson, eine afro-amerikanische Organizerin und Anarcho-Kommunistin, anno 1886. Foto Luis Gogler, Wikimedia Commons / Univeristy of Michigan Library

Für manche bedeutet kommunistischer Anarchismus das Beste aus beiden Welten. Für andere ist er eine Horrorvorstellung zum Quadrat. Objektiv betrachtet kommt diese Gesellschaftsvorstellung der aufklärerischen Trias von Freiheit, Gerechtigkeit/Solidarität und Gleichheit wohl am nächsten.

Eine Idee liegt in der Luft
Die Entstehungsgeschichte dieser Idee oder Konzeption geht zurück ins 19. Jahrhundert. Max Nettlau, der in dieser Serie bereits vorgestellte anarchistische Historiker und Chronist, berichtet, dass die Bezeichnung kommunistischer Anarchismus erstmals in einer Broschüre von François Dumartheray im Jahre 1876 auftauchte. Der Autor war in der Genfer Sektion L’Avenir aktiv und stand dem russischen Anarchisten Peter Kropotkin nahe, der sich in mehreren Schriften dieser neuen Anarchismuskonzeption widmete und heute als der bekannteste Vertreter bzw. Theoretiker dieser Richtung gilt. Zur Zeit der Entstehung war die anarchistische Bewegung aus der von Karl Marx, Friedrich Engels und anderen autoritären Sozialisten übernommenen Internationalen Arbeiterassoziation bereits ausgeschlossen. Sie hatte den Kampf gegen Vertreter des Zentralismus verloren. Der Sozialismus und die Verbesserung der sozialen Lage der Arbeiter:innen sollte ganz im Sinne sozialdemokratischer bzw. sozialistischer Parteien, die sich auf Wahlkämpfe und den Parlamentarismus konzentrierten, erreicht werden. Im Anarchismus setzte eine Neuorientierung ein. Bakunin, als wortmächtiger Propagandist des antiautoritären Flügels und Vertreter des kollektivistischen Anarchismus, hatte sich bereits zurückgezogen. Eine neue Generation war nun an der Reihe und mit ihr entstand nun eine Symbiose aus Kommunismus und Anarchismus.

Kommunismus und Anarchismus
Was bedeutet dies nun? Während im kollektivistischen Anarchismus Eigentum in einer kollektiven Form weiterbestehen konnte, wurde im kommunistischen Anarchismus jegliche Eigentumsform negiert. Statt Eigentümer:innen sollte es nur mehr Nutzer:innen geben. Die Verteilung der gesellschaftlich produzierten Güter erfolgt nicht nach Arbeitsleistung (Arbeitszeit), sondern nach den Bedürfnissen. Kommunismus bedeutet somit: Jeder nach seinen Bedürfnissen und Möglichkeiten. Für Kropotkin ist der kommunistische Anarchismus „ein Sprössling der zwei großen Gedankenbewegungen auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet, die unser Jahrhundert und besonders seine zweite Hälfte charakterisieren. Gemeinsam mit allen Sozialisten vertreten die Anarchisten die Ansicht, daß das Privateigentum an Grund und Boden, am Kapital und an den Maschinen überlebt ist, daß es zum Verschwinden verurteilt ist und daß alle für die Produktion erforderlichen Mittel in den gemeinschaftlichen Besitz der Gesellschaft übergehen müssen und werden und von den Produzenten die Reichtümer gemeinschaftlich zu verwalten sind.“ Kommunismus bezieht sich also auf die Ebene der Ökonomie. Wie ist nun der zweite Teil des Begriffs, der Anarchismus zu verstehen? Für Kropotkin ist er das Ideal einer politischen Gesellschaftsorganisation, „wo die Funktionen der Regierung auf ein Minimum reduziert sind und das Individuum seine volle Freiheit der Initiative und der Handlung wiedergewinnt, um vermittels freier Gruppen und frei gebildeter Föderationen all die unendlich mannigfaltigen Bedürfnisse des menschlichen Wesens zu befriedigen.“ Es geht um eine Regierungsform ohne staatliches Herrschaftsprinzip.

Eine Idee unter Kritik
Die Frage, die sofort auftaucht, ist, kann das überhaupt funktionieren? Kropotkin dachte – ja! Sein Ausgangspunkt war menschliche Kooperation, die gegenseitige Hilfe und der gesellschaftliche Reichtum, nicht der Mangel. In den verschiedenen Abhandlungen verweist er auf die fördernde Wirkung von föderativer und dezentraler Produktion, von freier Assoziation, sowie darauf, dass aufgrund des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts die industrielle und landwirtschaftliche Produktion alle Menschen ausreichend versorgen könnte.
Nach Kropotkin wären bereits vor gut 150 Jahren die Voraussetzungen gegeben, mit einem Bruchteil an Arbeitsaufwand, alle Menschen zu versorgen. Das würde heute noch mehr zutreffen, jedoch mit Sicherheit wissen wir es nicht. Von Anbeginn gab es auch kritische Stimmen zu Kropotkin und seiner Vorstellung vom kommunistischen Anarchismus. Nettlau berichtet in seinem Geschichtskompendium über Anarchismus von der Kritik des spanischen Anarchisten Richardo Mella, der die „kommunistische Lösung“ für „simplistisch und den Verwicklungen des sozialen Lebens nicht entsprechend“ hielt, aber er glaubte auch, dass die Idee den Massen gefallen wird. Jedoch geben Ideen höchstens Tendenzen an und zeigen nicht, wie es Kropotkin ausformulierte, wie zukünftige anarchistische Gesellschaften Produktion und Distribution organisieren werden. Mella richtete sich gegen die „Unifizierung“ der Ideen und Vereinheitlichung der Methoden. Was auf jeden Fall notwendig ist, ist für ihn eindeutig: „die Gleichheit der Mittel zum Leben“. Während die neue Richtung in anarchistischen Kreisen in ganz Europa diskutiert und unter dem Proletariat und den Deklassierten agitiert wurde, ging die Idee auf Reisen.

Lucy Parson in Chicago
Wir verlassen Europa und setzen über den Atlantik. Im späten 19. Jahrhundert gibt es dort eine radikale und organisierte Arbeiter:innenbewegung, geprägt von den unterschiedlichsten Einwander:innengruppen, Religionen und Hautfarben, oft war sie anarchistisch. Eine ihrer Akteur:innen war Lucy Parson, eine afro-amerikanische Organizerin und Anarcho-Kommunistin. Sie schrieb Artikel, hielt Reden, organisierte Genoss:innen, setzte sich für den 8-Stunden-(Arbeits)Tag ein und war Mitbegründerin der berühmten syndikalistischen Gewerkschaft in der USA, den Industrial Workers of the World, kurz: Wobblis. Sie lebte die meiste Zeit ihres Lebens in Chicago, starb dort 1942 fast 90jährig. Die städtische Polizei hielt sie für „more dangerous than a thousand rioters“, selbst nach ihrem Tod muss das FBI noch voll Sorgen gewesen sein, vergriff es sich doch vorsorglich an ihrem gesamten Nachlass, der bis heute verschwunden ist. Im Jahr 1886 kam es, auch für Parson, zu einem folgenreichen Ereignis. Am 1. Mai protestierten streikende Arbeiter:innen, diese wurden von der Polizei angegriffen, ein Bombe explodierte in der Menge und es gab viele Dutzende Verletzte und Tote. Die Polizei verhaftete daraufhin sieben Männer, alle aktive Gewerkschafter und Anarchisten und verurteilte sie zu Tode, obwohl keine Verbindungen zum Bombenattentat nachgewiesen werden konnten. Einer davon war ihr Mann Albert Parson. Der 1. Mai gilt seitdem, in Erinnerung an Haymarket, als Kampftag der Arbeiter:innenklasse. Lucy Parson setzte sich ein Leben lang für die Rehabilitierung der Verurteilten ein. Im Oktober 1886 wurde sie zu den Aussichten des Anarchismus in den USA interviewt. Auf die Frage, wie der gesellschaftliche Wandel herbeigeführt werden kann, meinte sie, dass es eine revolutionäre Phase geben wird, in der der „letzte große Kampf der Massen gegen die Geldmächte“ stattfinden werde. „Geld und die Löhne, die sich jetzt im Besitz der Lohnklasse befinden, stellen das Nötigste zum Leben dar; nichts bleibt übrig, wenn die Rechnungen von einer Woche zur anderen bezahlt sind. Der Rest geht an die profitgierigen Klassen, und deshalb nennen wir das System Lohnsklaverei.“ Die Frage, ob sie friedlich verlaufen wird, beantwortet Parson: „Ich glaube nicht, denn die Geschichte zeigt, dass jeder Versuch, den Reichen und Mächtigen das zu entreißen, was sie haben, mit Gewalt gemacht wurde.“

Zabalaza in Johannesburg
Anders als beispielsweise Individualanarchist:innen sehen kommunistische Anarchist:innen eine höhere Notwendigkeit darin, sich politisch zu organisieren. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts gründeten sie sogenannte Plattformen. Bis heute werden diese immer wieder aufs Neue gegründet, sowohl auf nationaler als auch internationaler Ebene, um gemeinsam im Sinne des kommunistischen Anarchismus zu wirken. Eine aktuelle plattformistische Gruppe ist die südafrikanische Zabalaza Anarchist Communist Front, kurz ZACF. Sie bekennt sich zur Idee der aktiven Minderheit, was so viel bedeutet, dass es nicht ihr Ziel ist, eine anarchistische Massenbewegungen aufzubauen oder soziale Bewegungen in eine solche zu transformieren, sondern sich als anarchistische Gruppe an sozialen Bewegungen zu beteiligen. So unterstützte die ZACF das Anti-Privatisation Forum oder die Landlosenbewegung (Landless People’s Movement) in Südafrika. Als es 2008 vermehrt zu rassistischen Pogromen kam, bei denen mehr als 60 Menschen getötet wurden, wurde die Coalition Against Xenophobia (CAX) gegründet, bei der ZACF ebenfalls eine wichtige Rolle einnahm. Es geht also nicht nur um die Verbreitung der Idee, sondern um politisches Engagement in sozialen Bewegungen und Arbeitskämpfen. In ihren Berichten und Darstellungen schreibt ZACF, dass es sich um eine kleine Gruppe handelt und es schwierig ist, Menschen für die Idee zu gewinnen. Die anarchistische Tradition ist in Südafrika vergessen. Begonnen hatte sie einst in den 1880er Jahren, als englische Emigrant:innen die Idee mitbrachten, beeinflusst von Kropotkin und dem kommunistischen Anarchismus. Und so reist eine Idee durch Zeit und Raum.

Literatur:
Kropotkin, Peter: Der anarchistische Kommunismus. Seine Grundlagen und seine Prinzipien, Berlin, 1922
Nettlau, Max: Die erste Blütezeit der Anarchie 1886 – 1894. Geschichte der Anarchie. Band IV.
Rosenthal, Keith: Lucy Parson. „More Dangerous Than a Thousand Rioters“, joanofmark.blogspot.com/2011/09/lucy-parsons-more-dangerous-than.html?m=1#_edn61
An Interview with Lucy Parsons on the Prospects for Anarchism in America, Published in St. Louis Post-Dispatch, Oct. 21, 1886, pzacad.pitzer.edu/Anarchist_Archives////////bright/lparsons/LParsonsInterviewStL.pdf
zabalaza.net

Die Serie in der Referentin ist auf Anregung von Andreas Gautsch bzw. der Gruppe Anarchismusforschung entstanden, siehe auch: anarchismusforschung.org

Die Referentin tippt

Die IG feministische Autorinnen versteht sich als Labor sowie Interessensgemeinschaft von und für feministische und gesellschaftskritische Autorinnen. Derzeit werden Online-Veranstaltungen für Autorinnen und Literaturinteressierte aus ganz Österreich angeboten.

Feministische Theoriegruppe, Online: Wer die Welt verändern will, muss sie verstehen! Deshalb befassen wir uns in unserer Theoriegruppe mit aktuellen feministischen Ansätzen, Themen und Strömungen und setzen uns mit feministischer Sprach- und Literaturwissenschaft auseinander.

Unsere Treffen finden jeden dritten Mittwoch im Monat von 12:00 bis 14:00 via JitsiMeet statt. Die Teilnahme am feministischen Lesekreis und der feministischen Theoriegruppe ist kostenlos.

Nächste Termine: 18. Jänner, 15. Februar
Anmeldung und Zugangslink zum Jitsi-Meet: support@igfem.at

www.igfem.at

Die Referentin tippt

Die IG feministische Autorinnen versteht sich als Labor sowie Interessensgemeinschaft von und für feministische und gesellschaftskritische Autorinnen. Derzeit werden Online-Veranstaltungen für Autorinnen und Literaturinteressierte aus ganz Österreich angeboten.

Feministischer Lesekreis, Online: Wie viele Autorinnen kannst du auf Anhieb nennen? Der Schulunterricht, Rezensionszeitschriften und die Liste der Literaturnobel­preisträge­r_innen etc. suggerieren uns, Frauen hätten kaum bzw. lediglich qualitativ minderwertige Texte verfasst und enthalten uns vor, dass die ersten überlieferten Werke von Frauen bereits 4000 Jahre alt sind, dass schon im Mittelalter erste feministische Schriften verfasst wurden und dass schreibende Frauen immer schon von gesellschaftskonformen Rollenbildern abgewichen sind.

Wir haben einen feministischen Lesekreis ins Leben gerufen, der sich an jedem ersten Mittwoch im Monat von 16:00 bis 18:00 via Jitsi-Meet trifft. Komm vorbei, um mit uns über die Werke von Autorinnen aus aller Welt zu diskutieren.

Nächste Termine: 7. Dezember, 4. Jänner, 1. Februar
Anmeldung zum Jitsi-Meet: support@igfem.at

www.igfem.at

Das Professionelle Publikum

Gegen die Kälte! Sigrid Blauensteiner, Stefan Eibelwimmer, Pia Mayrwöger, Jasmin Mersmann, Klara Pötscher, Magdalena Schlesinger und Birgit Schweiger geben dieses Mal in unserem redaktionellen Veranstaltungskalender ihre persönlichen Empfehlungen aus Kunst und Kultur.

© Sirgrid Blauensteiner

Sigrid Blauensteiner
ist langjährige Dramaturgin am Theater Phönix.

Weltuntergang oder die Welt steht auf kein’ Fall mehr lang
What the Fem*? Feministische Perspektiven 1950 bis heute

 

 

© Martin Bruner

Stefan Eibelwimmer
ist selbständiger Grafik-Designer und Illustrator, er lebt und arbeitet in Linz. www.sege.at

Weltuntergang oder die Welt steht auf kein’ Fall mehr lang
Performance „Written Portraits by Adrian Dozetas“

 

© Kerstin Kieslinger

Pia Mayrwöger
lebt und arbeitet als freischaffende Künstlerin in Linz. Seit 2014 beteiligt an der Entwicklung des Kulturverein Schlots. www.piamayrwoeger.at

Der Täubling
Matthias Göttfert, fine leather goods

 

Jasmin Mersmann
ist Professorin für Kunstgeschichte an der Kunstuniversität Linz. Aktuell arbeitet sie an einem Buch über Teufelspakte und an einem Projekt zu Körpermodifikationen.

unBinding Bodies. Lotosschuhe und Korsett
Bodies of Work. Katharina Gruzei

Klara Pötscher,
32, DJ & Veranstalterin aus Linz.

CHRISTMAS CAORLI
qujOchÖ presents: fck666

 

Magdalena „Maggy“ Schlesinger
ist Tänzerin, Performerin und Videogestalterin. Sie führt Projekte durch, hält Kurse und Workshops. Maggy arbeitet meist in Präsenz, zuletzt hat es sich ergeben, dass sie einiges aus ihrer Arbeit auch filmisch umgesetzt hat.

Performance-Kurzfilm „MyNature“
Breakdance Abschlusspräsentation
B-Girl Circle

© Matthias Dorninger

Birgit Schweiger
lebt als freischaffende Künstlerin (Malerei, Grafik, Installation, Video) in Neulichtenberg/Linz.

Graffiti am Studentenwohnheim ÖJAB
Barbara Lindmayr „Kumulationen“

 

„Zum rostigen Esel“
Fahrradmechaniker*innenkollektiv

Critical Mass

 

Tipps von Die Referentin

 

 

Frauenpreis 2023
Gabriele Heidecker Preis 2023
Filmeinreichung CROSSING EUROPE LOCAL ARTISTS
Kapu Jam Session
Wilder Fisch
artacts’23

Editorial

Alles ist vulnerabel. Das Material schreit. Zu den Worten, die sich zuletzt viral verbreitet haben, gehört vulnerabel. Ursprünglich hatte der Begriff seinen Ausgangspunkt in der Medizin – mittlerweile ist er zum Multifunktionswort geworden, das von verletzlich über gefährdet bis hin zu benachteiligt bedeuten kann.   

Wir finden den Gebrauch dieses Wortes im Grunde viel zu paternalistisch und ausgrenzend, denn sind wir nicht alle vulnerabel im Sinne von verletzlich? Schließlich ist der Mensch ein Mängelwesen. Und was seine Natur nicht an seiner Verletzlichkeit mitbringt, das tun sich Menschen noch gegenseitig an, von wegen: Die Hölle, das sind die anderen.  

Dass auch ganze Systeme oder Infrastrukturen verletzlich sein können, zeigt sich aktuell an den vielen offenbar gewordenen Problemen wie Pflegenotstand, Alterseinsamkeit, Anstieg psychischer Krankheiten, soziale und materielle Benachteiligung, Gewalt gegen Frauen oder die erschütternd hohe Zahl an Femiziden, die politisch und zivilgesellschaftlich bearbeitet, bewältigt und in Zukunft verhindert werden müssen.  

Der seit Februar von Putin geführte Angriffskrieg auf die Ukraine bringt neben unfassbarem menschlichem Leid nun auch eine Energiekrise, deren Folgen gegenwärtig noch gar nicht abschätzbar sind. Und da ist dann noch die menschengemachte Klimakrise, die durch Treibhausgase, die beim Verbrennen von fossilen Stoffen in die Atmosphäre geblasen werden, den Planeten aufheizen. Die Folgen dieser Klimakrise waren in diesem Sommer 2022 auch auf lokaler Ebene, vor unser aller Augen, sichtbarer denn je: Vielerorts führten Dürre und Hitze zu Waldbränden, Ernteausfällen und Niedrigwasser. Zudem wird für Ältere, Kinder und Vorerkrankte die zunehmende Hitze zum Gesundheitsrisiko. Und wenn plötzlich auch Versicherungen anfangen, diese Dinge ernst zu nehmen, dann weiß man, was Sache ist. Viele Expert:innen mahnen: Jetzt ist Alarmstufe Rot.  

Wir finden uns in unruhigen Zeiten, in aufgewirbelten Zeiten, in trüben und verstörenden Zeiten – oder wie es schon 2019 bei der Biennale in Venedig hieß: May you live in interesting times – entsprechend einem chinesischen Sprichwort respektive Fluch. Viele der bei dieser Biennale ausgestellten Arbeiten haben die Verwerfungen, die Auswirkungen eines superausbeuterischen globalen Kapitalismus, eines jahrhundertelang praktizierten Kolonialismus, einer Geschichte der Unterdrückung oder auch einer hegemonialen Monokultur ins Zentrum ihrer Auseinandersetzung genommen. Und selbstredend ist der Kunst zu jeder Zeit die Kritik immanent eingeschrieben. Aber was heute und jetzt diesbezüglich als Material der Auseinandersetzung für eine jüngere Künstler:innengeneration zur Verfügung steht, zeigt in aller Brüchigkeit recht eindrücklich: In diesen interessanten Zeiten ist beinahe alles fragil geworden und in der Lage, verletzt werden zu können.

Vulnerabel. In der Referentin-Redaktion haben wir zuletzt über eine Arbeit von Gesine Grundmann gesprochen, die im Juli 2022 auf Residency im Salzamt war – und die an dieser Stelle exemplarisch erwähnt sein soll. Sie hat für die Referentin über zwei ihrer Arbeiten berichtet: Von GEN UGG EKR IEGT, im Zentrum von Linz als nach außen gerichtete Botschaft auf die Fassade des Salzamtes gehängt, und weiter östlich, auf Höhe des Winterhafens, am Donaustrand aufgestellt, von der Arbeit OI, einem Beton-Ei, das in ein Kunststoff-Netz eingehüllt wurde. Wir haben länger über diese Fragen des Textes, des Kontextes und der Materialitäten gesprochen. Von Botschaften, die sich zwischen Genug Krieg und Nicht-genug-kriegen-können, geradezu in alle Materialien einschreiben und weiterschreiben lassen, auch in den Beton des Eis. Vom Umstand, dass heute viele Künstler:innen die Frage des Materials und der Materialität primär aufgreifen. Oft findet sich ein künstlerischer Ansatz, der das Material nicht unbedingt (nur) in ästhetischer Revolte darstellt, sondern in seiner Verbundenheit und Verbindlichkeit, im Kontext, durchaus auch in einer Art widersprüchlichen Empfindsamkeit, in Vulnerabilität, in Verbindung tretend. Abschließend haben wir dann noch über eine kurze Textstelle gesprochen, die in Michel Houllebecqs Poetologie Lebendig bleiben gleich zu Beginn abgedruckt ist. Diese soll hier – auch gegen einen rein anthropozentrischen Blick – zitiert werden: „Das Universum schreit. Im Beton drückt sich die Gewalt ab, mit der er zur Mauer geprügelt wurde. Der Beton schreit. Das Gras wehklagt unter den Zähnen des Tieres. Und der Mensch? Was werden wir über den Menschen sagen?“

Viele Künstler:innen – speziell einer jüngeren Generation – arbeiten mit diesem Ansatz der Verbundenheit bzw. einer weiter gefassten Empathie. Es steht zu hoffen, dass ihnen Gehör verschafft wird. Es steht aber zunächst auch zu hoffen, dass die Künstler:innen-Ateliers – Künstler:innen als ebenso vulnerable Gruppe der Gesellschaft – im Herbst und Winter nicht kalt bleiben. Denn es geht um größere Umbrüche. Es geht um Solidarisierung. Und wir müssen diese Solidarisierung – wie es aussieht – größer und perspektivisch umfangreicher denken, als das eigentlich vorstellbar ist. Denn metaphorisch gemeint: Wenn an einer Stelle der Sauerstoff entzogen wird, bricht anderswo ein Feuer aus.

Wir möchten an dieser Stelle darauf hinweisen, dass dieses Editorial auch als Vorwort des Salzamt-Kataloges EXPOrt, IMpORT, imPULS 2022 abgedruckt wird – und empfehlen den Katalog und die Arbeiten der darin präsentierten Künstler:innen. Watch out!

Über die interessanten Texte in dieser Referentin mögen sich die Leser:innen selbst ein Bild machen.

We live in fucking interesting times.

Die Referentinnen, Tanja Brandmayr und Olivia Schütz

ahoi joella!

Herbert Bayer (1900–1985) gilt als Inbegriff des modernen, universellen Künstlertyps. Mit der Schau Herbert & Joella Bayer rückt das Lentos sein Bayer-Archiv in den Mittelpunkt, das zu den größten Sammlungen dieses aus Oberösterreich stammenden Universalkünstlers in Europa zählt – und beleuchtet das gemeinsame Wirken mit seiner Frau Joella. Florian Huber gibt eine Vorschau auf die Ausstellung, die Ende September eröffnet.

1932 fertigt der 1900 in Haag am Hausruck und 1985 im kalifornischen Montecito verstorbene Herbert Bayer ein Selbstporträt, das heute zu den Ikonen der Fotogeschichte zählt. „Der Künstler reflektiert ganz selbstverständlich sowohl das Sichtbare als auch das Unsichtbare, er ist der Spiegel, in dem man sieht, was ohne ihn unsichtbar bliebe. Er dient als ein Medium, das mit großer Sensibilität eine Umwelt wahrnimmt und durch sein Talent Gesehenes und Erlebtes auszudrücken und zu übermitteln vermag“, bemerkt Bayer 1967. Das zerstückelte Porträt des Künstlers als junger Mann verkörpert exemplarisch den mit der Moderne verbundenen Orientierungsverlust und seine Herausforderungen für den künstlerischen Schaffensprozess: „Das Mosaik unserer Bildaussagen setzt sich heute aus vielen fragmentarischen Behauptungen von großer Vielfalt und Gegensätzlichkeit zusammen. Eine umfassende Konzeption bei der Suche nach Wahrheit und Ordnung lässt sich in der Kunst insgesamt nicht feststellen, die Erprobung aller visuellen Möglichkeiten könnte aber zu einer neuen Synthese und damit zur Entwicklung sinnvoller bildnerischer Ausdrucksformen führen.“ Dementsprechend zeichnet sich Bayers Werk seit jeher durch eine enorme Diversität der künstlerischen Mittel aus, „denn der Antrieb des Künstlers liegt nicht in seinen früheren Leistungen, sondern im Gedanken des ,Werdens‘ und im schöpferischen Akt selbst.“

Von diesem Anspruch zeugt auch eine aktuelle Ausstellung im Lentos Kunstmuseum Linz, das mit über 200 Werken über eine der international bedeutendsten Bayer-Sammlungen verfügt. Dieser Umstand verdankt sich nicht zuletzt dem Engagement des früheren Museumsdirektors Peter Baum (*1939) und mehrerer Stiftungen Herbert Bayers und seiner zweiten Ehefrau Joella (1907–2004), die in der von Elisabeth Nowak-Thaller kuratierten Retrospektive bereits im Titel adressiert wird. Während die letzte, umfassende Bayer-Schau des Lentos (ahoi herbert!; 2009) sein Werk vor allem im Kontext einer Kultur- und Kunstgeschichte der Moderne verortete, verdeutlicht die aktuelle Präsentation die herausragende Bedeutung von Bayers familiärem Umfeld und seiner Liebesbeziehungen für das berufliches Fortkommen und seinen Nachruhm. Joella Bayer erschloss dem Universalkünstler durch ihre vorangegangene Ehe mit dem prominenten, amerikanischen Galeristen und Kunsthändler Julien Levy (1906–1981) ein neues, auch zahlungskräftiges Publikum und wirkte zudem als Managerin, Promoterin und wichtige Beraterin des Künstlers. Darüber hinaus widmet sich die von Nicole Six und Paul Petritsch gestaltete Schau auch seiner ersten Ehe mit der Fotografin Irene Bayer-Hecht (1898–1991), die Bayer zu eigenen Arbeiten inspirierte und zugleich als Dokumentaristin seines umfängliches Oeuvres fungierte, sowie seiner Beziehung zum Weimarer Bauhaus in Gestalt seiner mehrere Jahre andauernden Liaison mit Ise Gropius (1897–1983).

Die Ausstellung zeigt dabei nicht nur Gemälde, Fotografien und Skulpturen aus allen Schaffensphasen Bayers, sondern führt anhand neuer Materialien auch seine Tätigkeit als Typograph, Designer, Architekt und Landschaftsgestalter vor Augen. Ein besonderer Schwerpunkt gilt dabei Bayers Pionierarbeiten auf dem Gebiet der Ausstellungsgestaltung sowie Werbe- und Gebrauchsgrafik, denen er ab 1925 als Leiter der Werkstatt für Druck und Reklame des Bauhaus Dessau und ab 1928 als künstlerischer Leiter der Werbeagentur Studio Dorland in Berlin nachging. Ab 1933 gestaltete Bayer auch mehrere Ausstellungen für das NS-Regime wie „Deutsches Volk – Deutsche Arbeit“ oder „Das Wunder des Lebens“, deren modernes Erscheinungsbild zentrale Inhalte nationalsozialistischer Ideologie wie Volksgemeinschaft, Rassenhygiene oder Antisemitismus vermitteln und popularisieren half. Trotzdem wurden 1937 mindestens zwei Werke Bayers für die Ausstellung „Entartete Kunst“ beschlagnahmt, was ihn gemeinsam mit dem so genannten Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich 1938 zur Ausreise in die USA bewog. Auch in der neuen Umgebung konnte Bayer seine bereits zum damaligen Zeitpunkt beachtliche Karriere als international gefragter Designer fortsetzen, was sich nicht zuletzt den Bemühungen von Joella verdankte. Angesichts der vorangegangenen Kollaboration mit dem NS-Regime irritieren besonders offizielle Aufträge für Ausstellungen für das US Office of War in den Jahren 1942 und 1943 oder der Umstand, dass Bayers sein ästhetisches Programm offenbar weitgehend unabhängig von seinen jeweiligen Auftraggeber*innen oder politisch-ideologischen Erwägungen verfolgte, wie die neue Ausstellung durch die Gegenüberstellung der Arbeiten der Zwischenkriegszeit und der amerikanischen Jahre sichtbar werden lässt. Obwohl Bayer etwa mit seinen Architekturarbeiten im kalifornischen Aspen auch Prominenz als Landschaftsplaner und innovativer Gestalter des öffentlichen Raums erlangte, mangelte es ihm, der sich „in erster Linie als Maler“ verstanden wissen wollte, womöglich an kritischem Bewusstsein für die gesellschaftspolitische Dimension seiner künstlerischen Arbeit. Auch andere Arbeiten für den öffentlichen Raum, wie etwa der 1977 für das Forum Metall in Linz entstandene Brunnen vor dem Brucknerhaus stehen in merkwürdigem Gegensatz zu seiner weitgehenden Indifferenz gegenüber den revolutionären Ansprüchen und pädagogischen Visionen, die etwa seine engen Weggefährt*innen aus Bauhaus-Tagen wie Ise und Walter Gropius (1883–1969) oder Annie (1899–1994) und Josef Albers (1888–1976) in Theorie und Praxis verfolgten.

Nicht zuletzt in diesem Zusammenhang lohnt der genaue Blick auf Joella Bayer, den die Ausstellung ermöglicht. Schließlich war ihre Mutter Mina Loy (1882–1966) nicht nur eine von Gertrude Stein (1874–1946) oder T. S. Eliot (1888–1965) geschätzte Dichterin, die mit ihrem 1914 entstandenen und zu Lebzeiten unveröffentlichten Feminist Manifesto einen Schlüsseltext der Frauenbewegung hinterließ. Welchen konkreten Einfluss die als Künstlerin und Intellektuelle mit dem italienischen Futurismus und dem französischen Surrealismus eng verbundene ausübte, zählt zu den möglichen Fragestellungen künftiger Bayer-Forschung, die das Lentos nicht nur mit der aktuellen Retrospektive anregt. Anlässlich der Ausstellung wurde der Bayer-Bestand des Museums digital erschlossen und steht nun auch auf der Website allen Interessierten zu Recherchezwecken zur Verfügung. Darüber hinaus bietet eine internationale besetzte, wissenschaftliche Konferenz im Oktober auch Anlass zur Diskussion neuer Forschungsansätze, was den mit Bayers Kunst verbundenen Akteur*innen und Werken hoffentlich auch in Oberösterreich zu nachhaltiger Sichtbarkeit verhelfen wird.

Lentos Kunstmuseum
Herbert & Joella Bayer
Eröffnung: Do, 29. Sept, 19 h
Von 30. Sept 2022 bis 8. Jänner 2023

Bayer-Symposium:
Freitag, 07. Okt, 10:00–13:00 h
Mit Vorträgen u. a. von Gwen Chanzit, James Merle Thomas, Lynda Resnick, Patrick Rössler, Nicole Six und Paul Petritsch, Bernhard Widder, Irene Wögerer.
www.lentos.at

Zur Ausstellung 2009 ist ein Katalog erschienen:
ahoi herbert! – bayer und die moderne
Lentos Kunstmuseum Linz
ISBN: 978-3-900000-06-6
Verlag Bibliothek der Provinz

Museum under de/construction.

Die Ausstellung What the fem? Feministische Interventionen & Positionen 1950 –2022 lässt sich auf ein kuratorisches Experiment ein und fragt: Was, wenn eine Ausstellung nicht zur Vernissage, sondern zur Finissage fertiggestellt ist? Kuratorin Klaudia Kreslehner und Karin Schneider, Leiterin der Kunstvermittlung, über den Arbeitsprozess an der im November im Nordico eröffnenden Ausstellung What the fem?

Was, wenn eine Ausstellung einen Prozess initiiert und sich dafür interessiert, diesen auch zu zeigen? Und wie geht man damit um, wenn immer neue Fragen und neue Diskussionen auftauchen? Interessant im Fall von What the fem? ist, dass die Idee, Kuratieren auch als partizipativen Prozess zu sehen, nicht wie in anderen Ausstellungen von unserer Seite initiiert wurde. Vielmehr wurde uns erst in der Auseinandersetzung mit feministischen Aktivist*innen und Initiativen klar, wie notwendig dieser ist. Damit zeigt sich hier eine generelle Einsicht: Prozessuales, kollektives, partizipatives oder offenes Arbeiten an konfliktbeladenen Themen ist die Basis dafür, diese Themen überhaupt durchdringen zu können. Wir stehen am Anfang, in diese Richtung zu denken und wir teilen hier diese Gedanken aus der ersten Reflexion der Debatten der letzten Monate heraus. Es könnte sein, dass wir hier Erfahrungen machen, die Auswirkungen auf das Selbstverständnis eines Stadtmuseums und die Vorstellung des Kuratierens haben. Da es sich hier um echte Lernerfahrungen unsererseits handelt, beinhalten diese auch Momente der Erschütterung, Selbstbefragung und des Ver-lernens. Wir halten dies für produktiv, ohne den Ausgang zu kennen. Eine vom Stadtmuseum ausgehende Ausstellung über Feminismus in Linz bedeutet auch, politische Kämpfe, deren Konflikte und Selbstverständnisse zum Thema zu machen, nicht nur deren Geschichte, sondern vor allem deren Gegenwart. Damit ist die Frage, wer die Geschichte(n) und Gegenwart dieser Aktivismen erzählt und wie sie erzählt werden, faktisch bereits Thema der Ausstellung. Als wir die ersten Rechercheanfragen an feministische Aktivist*innen in Linz stellten, fanden wir uns in Gesprächssituationen wieder, die uns in unserer gängigen Museumspraxis herausforderten.
In diesen Auseinandersetzungen verstanden wir immer klarer, wie problematisch es gerade bei diesem Thema ist, dass es eine „Stimme der Kuratorin“ gibt, die über andere erzählt und sich selbst nicht zeigen und definieren muss; während jene, die gezeigt werden, wenig Mitsprache dahingehend haben, wie dies geschieht. Diese Sicht einer Trennung zwischen Forschungs-„Subjekt“ und Forschungs-„Objekt“ steht schon lange zur Diskussion, aber mit „Feminismus“ haben wir uns ein Thema vorgenommen, das die radikale Befragung dieser Trennung in seinem direkten Selbstverständnis eingeschrieben hat1. Ähnliches gilt für Fragen der Parteilichkeit: es kann keine sinnvolle Ausstellung zum Feminismus gemacht werden, ohne klar gegen Sexismen und Rassismen Stellung zu nehmen. Nun können und wollen wir nicht so tun, als wären wir ohne die oft auch konfrontative Auseinandersetzung mit feministischen Aktivist*innen auf den Punkt gekommen, an dem wir jetzt sind. Die Institution Museum, deren Teil wir sind, führt eine Geschichte des Ein- und Ausschlusses mit sich, der sich auch entlang von Race-Class-Gender-Kriterien konstituiert. Dies zeigt sich z. B. in Sammlungspolitiken, die über Jahrzehnte das Schaffen von Frauen z. B. als Künstler*innen ignorierten. Es zeigt sich in den Archiven2 und Ausstellungsprogrammen eines Stadtmuseums, in welche in die Stadt migrierte, geflüchtete sowie aus der Stadt vertriebene Menschen und deren Geschichten oft nicht vorkommen und damit „Stadt“ als einseitig beschrieben wird. Es zeigt sich in hierarchischen Strukturen von Museen, ihrer tendenziellen Schwerfälligkeit und Abgeschlossenheit, der Tatsache, dass kaum Menschen mit Flucht und Migrationserfahrungen sowie ihr Wissen in den wissenschaftlichen und leitenden Bereichen von Museen vertreten sind. Wer in einem Museum arbeitet, ist selbst auch Teil der Struktur und ihrer Geschichte. Gleichzeitig sind Museen auch Orte, die Möglichkeiten der Auseinandersetzungen mit genau diesen Fragen bieten können. Daher war und ist es uns wichtig, die Stimme der Kuratorin, die Stimme der Institution zu zeigen, als eine mit eben spezifischen Interessen, Möglichkeiten, Erblasten und Begrenzungen. An der Reibung zwischen Aktivismus und Institution, an dieser Nahtstelle können interessante Dinge geschehen, so hoffen wir. Wir erzeugen daher ein Ausstellungsdisplay, das versucht, sichtbar zu machen, dass wir sprechen und unterbrochen wurden; dass es uns wichtig war, auch in den Modus des Zuhörens zu kommen; und dass wir uns in diesen Prozessen und ihren Reflexionen immer klarer darüber wurden, dass es für die Geschichte, die erzählt wird, einen Unterschied macht, wer spricht. Für meine kuratorische Position bedeutet dies: eine weiße3 Frau mit einer festen Anstellung im Museum. Wie weit können wir aus dieser Position heraus überhaupt einen Blick auf Ein- und Ausschlüsse, auch im Feminismus selbst, aber auch im eigenen Feld der Kulturarbeit, wahrnehmen?4 Mit diesen Fragen wird noch klarer, dass wir uns – wie alle andern auch – in einer Blase befinden und daraus heraus agieren. Die jeweilige Sozialisierung und topographische Voraussetzung des Individuums prägt die Wahrnehmung, der eigene kleine Wirkungskreis wird zum zentralen Weltgeschehen. Ungleich verteilt bleiben jedoch die Möglichkeiten, diese partikularen Sichtweisen als „Welt“ zu behaupten und ein Museum mit diesen Behauptungen zu bespielen. Lassen wir uns gegenseitig nicht herausfordern, so bleibt dieses Weltwissen falsch und werden (oft auch unsichtbare, als selbstverständlich angenommene) Machtverhältnisse reproduziert.

Interessant ist auch, dass all diese Fragen aufbrechen in einer Zeit, in der auch klassische Frauenpolitik und Feminismus selbst aufgrund ihrer weißen Ausschlüsse von PoC5 kritisiert werden und die zumindest tendenzielle Reduktion von Feminismus auf die biologische Definition von Frau* durch die Kritiken der LGBTQI+ Communities in den Blick kommen. Auch die Kritiken von PoC-Feministinnen an Ausschlussmechanismus des weißen Mittelschichtsfeminismus sind nicht neu6. Daher kann keine (gute) Ausstellung gemacht werden, die hinter deren Setzungen zurückfällt. Das kann ein Museumsteam nicht alleine machen, dafür braucht es Zeit der Auseinandersetzung und Kooperation.

Dass wir dennoch zunächst den üblichen Weg des Recherchierens und Kuratierens versuchten, weil es wirkte, als wäre es der direktere Weg, hat ebenfalls mit unserer Position zu tun, mit unserem Ort, von dem her wir sprechen und auf die Welt schauen, wen wir kennen, wen wir am „Schirm“ haben, welches Wissen wir als relevant erachten – und was eben nicht. Unsere Denk- und Fantasiebegrenzungen wurden und werden befeuert durch die gegebene Begrenzung der zeitlichen, personellen und finanziellen Ressourcen, welche unserer Arbeit heute zur Verfügung stehen. Auch oder gerade mittelgroße Museen wie die der Stadt Linz agieren heute unter dem Druck von Budget- und Personalkürzungen und Besucher*innenzahlen. Dies tut gelassenen, kollektiven, konfliktfreudigen Denk- und Gestaltungsprozessen nicht gerade gut. Wenn es sich während des sehr begrenzten Zeitrahmens der Recherche nun zeigt, dass hier der „alte Weg“ des Ausstellungsmachens einfach nicht mehr angebracht ist und eine Adaptierung notwendig ist, fordert das nicht nur die Kuratorin und die Vermittlung – es betrifft den ganzen Museumsapparat. Es sind intern intensive Gespräche nötig, um Strukturen zu hinterfragen und um neue Möglichkeiten zu schaffen. Das Miteinander-Reden und sich Austauschen über solche Vorgänge öffnet Türen in bisher unbetretene Räume. Community Out­reach bewirkt so in diesem Fall auch Museum Inreach. Und all dies braucht Zeit. Und Geduld. Und Hartnäckigkeit. Nichts, das sich einfach „bis zur Eröffnung“ bewerkstelligen lässt.

Lehrstellen, Interventionen, Nahtstellen, Sollbruchlinien
In diesem Prozess und mit derartigen Überlegungen unterfüttert, wurde nun, sozusagen aus dem Museum heraus, folgendes Konzept erarbeitet: Der Auftakt der Ausstellung, der Stand zur Eröffnung am 10. November 2022, wird von der Stimme der Kuratorin bestimmt sein, ihrem Wissen, ihrer Recherche, ihrem Netzwerk, ihrem Blick und von ihrem Kernteam. So wie immer. Aber es werden die diesem Blick inhärenten Leerstellen sichtbar gemacht, wie blinde Flecken und unbeackerte Felder auf der Landkarte – als Symbol für eine neu gewonnene Erkenntnis des Nicht-Wissens, der Offenheit für jene Stimmen, Aktionen, Gruppen, Themen, die sich mit der Stimme der Institution in Reibung begeben oder Fragen und Statements einbringen, die gezeigt werden müssen. Andere Haltungen, Ergänzungen und/ oder Richtigstellungen. Es ist eben nicht fertig, da dies auch aktuell gelebte Geschichte und unmittelbar stattfindender Diskurs ist. Es ist eine Zeit, in der die komfortablen Bubbles, in denen wir leben, aufplatzen. Damit sehen wir uns mit neuen Realitäten und manchmal unbequemen Tatsachen, Ansichten, Meinungen, Haltungen, Gesprächsgepflogenheiten konfrontiert. Genau dies wollen wir zeigen, gehen damit in Kontakt.

Damit hoffen wir, auch Feminismus als permanenten Auseinandersetzungsprozess zeigen zu können. Zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses, also während des Schreibens dieses Textes und noch während der Ausstellungsvorbereitungen im Sommer, ist noch nicht klar, in welcher konkreten Form genau mit den unterschiedlichen Initiativen und Aktivist*innen, die den Prozess angestoßen haben, dieser stattfindet.
Etwa im Monatsrhythmus wird sich die Ausstellung jedenfalls verändern, soll wachsen, wird die Konfliktlinien pointieren. Es ist den Ausstellungsbesucher:innen daher anzuraten, regelmäßig ins Museum zu kommen und zu sehen, was sich verändert hat, und was What the Fem? auch im Austausch einer Museums-Institution mit aktivistischen feministischen Initiativen bedeuten kann.

1 Vergl. dazu als eines der Gründungsdokumente deutschen akademischen Feminismus der zweiten Frauenbewegung die „Postulate“ von Maria Mies “ www.frauen-forum.biz/wp-content/uploads/2019/08/Methodische-Postulate-zur-Frauenforschung.pdf

2 Vergl. www.migrationsammeln.info/inhalt/migrationsgeschichten-erz%C3%A4hlen (Angesehen am 19. 08. 2022)

3 Wir verwenden weiß hier kursiv geschrieben, da es nicht (zwingend) auf eine Hautfarbe verweist, sondern auf eine privilegierte Position.

4 Es handelt sich in diesem Fall übrigens um die erste angestellte, weibliche Kuratorin in der Geschichte des Nordico Stadtmuseums.

5 People of Colour ist eine Selbstbezeichnung für Menschen, die diesen privilegierten Status nicht einnehmen, dazu zählen auch z. B. Migrant*innen, Minderheiten, Menschen aus dem Globalen Süden.

6 Hill Collins, Patricia (1991) Black Feminist Thought: Knowledge, Consciousness and the Politics of Empowerment. New York. hooks, bell (1996/ Orig. 1990) Sehnsucht und Widerstand. Kultur, Ethnie und Geschlecht (Orig. „Yearning“). Berlin Lorde, Audre (1984) Sister Outsider. Trumansburg/New York. Meulenbelt, Anja (1988) Scheidelinien. Über Sexismus, Rassismus, Klassismus. Reinbek.

Ausstellung
„What the fem? Feministische Interventionen & Positionen 1950 –2022“
Nordico Stadtmuseum Linz
Eröffnung: 10. November 2022
Dauer: 11. November 2022 – 28. Mai 2023
Idee, Konzept, Kuration: Klaudia Kreslehner
Vermittlung & Diskurs: Karin Schneider & Gabi Kainberger
Ausstellungsgestaltung: MOOI Design; Letitia Lehner & Sarah Feilmayr
www.nordico.at