Walter Pilar: Shortcuts
Am Neujahrstag 2018 verunglückte der Schriftsteller, Zeichner, KunstWandWerker & Rauminstallatör Walter Pilar. Robert Stähr mit einem kursorischen Beitrag.
Linz-Urfahr, Ecke Kaarstraße/Landgutstraße. Hinter mir auf der Straße höre ich ein Moped „tuckern“. Der Fahrer, ein bärtiger Mann von – wie ich meine – Ende vierzig, überholt und stellt sich mir auf dem Gehsteig in den Weg. Es ist der Schriftsteller Walter Pilar; wir kennen uns bis jetzt nur vom Sehen auf einschlägigen Veranstaltungen. Du bist der Stähr fragt er im Tonfall zwischen Behauptung und … Vorwurf. Ich bejahe, unsicher, aber doch erfreut über die Frage des Kollegen. Obwohl Walter anschließend mehrmals betont, es eilig zu haben, gleich nach Hause zu müssen, entwickelt sich ein erstes längeres Gespräch zwischen uns beiden, auf dem Gehsteig Ecke Kaar und Landgut.
Walter feiert den 50. Geburtstag in Ebensee, seinem … Heimatort, der Industriegemeinde am Südende des Traunsees, die ihm mitsamt der Umgebung und dem Salzkammergut nicht nur als biographischer Reibebaum, an denen er seine „Funken“ entzünden konnte, diente; als „Traunseher“ (so der Name einer von WP in den siebziger Jahren mitbegründeten Künstlergruppe) fand er in seiner engeren Heimat so etwas wie den Minimundus der „großen“ Welt und ihrer Verwerfungen. Am Morgen nach dem Fest in einem Gasthaus im Ort findet die Annahme der Geschenke im Hof hinter dem alten Bauernhaus in der Langwies, dem von den Eltern geerbten Zweitwohnsitz der Familie Pilar, statt. Die Inszenierung sieht vor, dass Walter, verkatert, nach durchzechter Nacht den Hof betritt und die in dessen Mitte aufgehäuften „Präsente“ begutachtet. Sein Verhalten ist eine Mischung aus Dank, Brüskierung und Provokation der Anwesenden. Ein Disput dreht sich um Qualität und Status des Verlags eines der Buchgeschenke; der „Schenker“ verteidigt den Verlag als renommiert, Walter zieht das in Zweifel. Das im Halbkreis um den Jubilar stehende und sitzende Publikum reagiert mit einer Mischung aus Lachen und Kopfschütteln.
Während des Lesens läuft Walter zur Hochform auf. Er liest zwanzig Minuten lang. Ich komme in den Genuss einer privaten Vorab-Lesung aus den Geraden Regenbögen, nach der Skurrealen Entwicklungsromanesque (1996) – einem „autoautopsischem Biografföweak“ (WP) – die zweite Welle von Lebenssee, dem (hätte er dieses Wort gehasst?) Opus Magnum von Walter Pilar. Die Regenbögen sind 2002 erschienen, es muss in diesem Jahr gewesen sein, als wir in seinem Gartenatelier zusammensitzen; die Frühlingssonne scheint durch die großen Glasfenster, es ist sehr warm. Ich erinnere mich an die Atmosphäre, die Intensität von Walters Vortrag, bruchstückhaft an die gelesenen Passagen, in denen es um eine „Dichterlesung“ seines Freundes Erich Wolfgang Skwara an der Linzer Kepler-Uni und um einen Besuch bei Thomas Bernhard auf seinem Bauernhof in Ohlsdorf („Hea Bernhart, wia wahn jetzt da!“), beides in den späten Sechzigern, geht. Noch während Walter liest, biege ich mich vor Lachen über seine mit Wortschöpfungen und beißendem Humor gespickten Schilderungen. Dann schauen wir einander an, lachen gemeinsam.
Ich müsse zuerst die Abfallkübel in die Mülltonnen entleeren, sage ich zu Walter Pilar, als er mich überraschend zu Hause besucht. Walter geht mir, pausenlos redend, hinterher, hinunter in den Hof hinter dem Wohnhaus. Die Tonnen stehen neben einer Gartenhütte, einem Hitl, wie Walter anmerkt – um augenblicklich Hitler damit zu assoziieren. Wortassoziationen wie diese, die sich in seinen collageartigen Texten in hochdeutscher und dialektaler Schriftsprache oft zu Wortkreationen – „Neologismen“ stimmt zwar, passt aber trotzdem nicht – entwickeln, sind typisch für Pilar. Irgendwo zwischen originell und absurd, erkenntnistief und bisweilen auch trivial: „Pilarismen“.
„Pilarismen“: Shortest Cuts (kleine willkürliche Auswahl) Kuhlenkrampf Unterkapital Kotelettrismen Alkoholfahnigkeit Thomas-Bernhardisten Schnarchotrotzkisten Rauminstallatör Blechbunkel Wixenschaften stupidiert Kleinquerbetreibender Kunstwandwerker Reisgangreisen gegenrund Lebensblumenbüschelkraut Lebensfleckerl hochkarametrig Hausmeisterfeldabfahrtslauf Knabenhau- und Reißschule Dampfsträhne Knackwurschtschläge PaRadieschen dumpfdunkel Dreckamöbenexistenz vaterlandsunwert
Mittagstisch bei Gerti Pilar, Walters Ehefrau, in ihrer Wohnung des gemeinsamen Hauses in Linz. Alle Gäste sitzen am Tisch, nur Walter fehlt noch. Schon von weitem hören wir ihn, „geistliche Gesänge“ anstimmend, kommen. Mit großer Geste betritt er den Raum und erzählt von der Messe in der Pfarrkirche, die er eben besucht und in deren Rahmen er nach der Predigt mit dem Pfarrer diskutieren wollte. Es sei keine Diskussion möglich gewesen. Vor der Messe sei er – in der Hoffnung, linken Freunden zu begegnen – demonstrativ auf dem Pfarrplatz auf und ab gegangen.
Über Jahre hinweg dasselbe Frage- und Antwortspiel: Wann kommt Lebenssee drei? – Ja … ja bitte, das braucht Zeit, ich kann doch nicht, bitte, ich schreibe daran … Walter wirkt aufgeregt und geradezu indigniert, wenn ich ihn bei zufälligen Zusammentreffen nach dem Fortgang der Arbeit am nächsten Band von Lebenssee frage. Mit der Zeit wird meine Frage zu einer Art Running Gag – zumindest für mich. Zwischen der Veröffentlichung von zweiter und dritter Welle (Titel: Wandelaltar) vergehen schließlich mehr als zehn Jahre.
Wer zählt den Herbst nach Spreißlholz?
Den Sommer nach den Beerenstacheln,
Den grünen Frühling nach versprühten Eimern Wiesensüling,
Den Winter nach den Abendstunden
Im Wirbel sanften Flockenflugs um Eiszapf. Eisack. Prost!
Am Neujahrstag 2018 stürzt Schriftsteller, Zeichner, KunstWandWerker & Rauminstallatör Walter Pilar über die Kellerstiege seines Hauses. Er müsse, nach ärztlicher Auskunft, mit dem Kopf auf die Steinkante einer Stufe geschlagen und sofort tot gewesen sein. Kurz zuvor hat er die vierte Welle von Lebenssee fertiggestellt. Sie ist, wie die ersten drei, im Ritter Verlag erschienen.
(„Pilarismen“ und Gedicht sind zitiert aus: Lebenssee. Eine skurreale Entwicklungsromanesque. Klagenfurt 1996
Lebenssee. Gerade Regenbögen. Klagenfurt 2002)
Walter Pilar war Schriftsteller, Zeichner und bildender Künstler. Seit 1968 trat er mit Performances, Aktionen, Ausstellungen und Publikationen auf. Am Beginn der schriftstellerischen Laufbahn standen die Gedichtbände klupperln & duesenjaeger, Jederland, An sanften Samstagen. Zu erwähnen sind außerdem vor allem Augen auf Linz (gem. mit H. Vorbach, 1990) und Eingelegte Kalkeier (1993). Das erste größere Prosawerk folgte 1996 unter dem Titel Lebenssee – eine skurreale Entwicklungsromanesque. Charakteristische Stilmerkmale Walter Pilars sind Collagetechnik und Wortschöpfungen, in denen hochsprachliche und dialektale Elemente in Kontrast gebracht werden. Pilar hat für die österreichische Literaturgeschichte das Genre der Heimatromanesque erfunden. Sein Lebenssee präsentiert sich als eine literarische Chronik des Provinziellen, die, vom „autoautopsischen Biograffäweak“ ausschweifend und auf umfassende Ton-, Bild- und Geruchsmaterialien zurückgreifend, zu einer Art fröhlichen Landesgeschichte des Voralpenländischen mutiert. Tatsächlich reiht sich hier der Chronist in die vorderste Linie der Hinterwäldler ein und sein Eintauchen in die Tiefen der verdammten Herkunft (Ebensee) ist vordergründig lustvoll angelegt, dass der Zeigefinger des distanzierten Satirikers oder das Ressentiment des heimatbeschädigt Gequälten ohnehin auf der Strecke bleiben. Walter Pilar lebte in Linz. Im Jahr 1990 erhielt er den oberösterreichischen Landespreis für Literatur.
(Zitiert u. a. aus: Ritter Verlag, Wikipedia)
Ein Text von Christian Pichler zu Walter Pilars Wandelaltar ist auch in der Referentin #1 erschienen.