Ein bunter Hund oder unsichtbar

Unter anderem über „niemals angestrengte, niemals aufgelöste, stets glattrasierte Gesichter der Macht“ schreibt Otto Tremetzberger in seinem neuen Buch „Die Unsichtbaren“, das im November erschienen ist. Ines Schütz hat es gelesen.

Das Cover von Otto Tremetzbergers Roman „Die Unsichtbaren“ weckt Erinnerungen: Ein Kind in den Siebzigerjahren (darauf deuten jedenfalls die beigefarbene Cordhose mit Hosenträgern, das rot-weiß karierte Hemd und die roten Sandalen) hält sich die Augen zu – „einschauen“ hat man früher bei uns dazu gesagt. Vielleicht murmelt es noch die letzten Zahlen ganz schnell, um dann loszustürmen und die anderen zu suchen. Vielleicht möchte es aber auch selbst nicht gesehen werden – also Augen zu und weg. Daran haben wir doch alle einmal geglaubt, zumindest kurz, genauso wie der Ich-Erzähler im Roman. „Unsichtbarsein. Ein Bubentraum, denke ich. Als Kind habe ich mir vorgestellt, man könnte durch Wände gehen, einfach so, wenn man nur wollte, aber aus Angst, in der Mauer steckenzubleiben, habe ich es nie getan.“

Unsichtbarsein heißt in diesem Roman aber auch, zu wenig Bedeutung haben. Wer keine Spuren hinterlässt, wird auch leicht übersehen, wer schwach ist, zählt nicht. Zumindest nicht in der Welt, in der sich der Ich-Erzähler im ersten Teil des Buches bewegt: ein Büro im dreizehnten Stock der ACIM Technical Solution GmbH, einen Stock unter der Chefetage, die der Ich-Erzähler und sein Kollege wie zu Schulzeiten „Direktorium“ nennen. Ein Zuviel an Bedeutung macht offensichtlich auch unsichtbar, auf alle Fälle ununterscheidbar hinter dem gleichen Äußeren: „Immer aufs Neue staune ich über dieselbe graue, wie auf die Haut gemalte Tönung in ihren niemals angestrengten, niemals aufgelösten, stets glattrasierten Gesichtern der Macht. Oder ist es Make-up, oder sind es Masken aus Elfenbein?“

Bei Besprechungen in der vierzehnten Etage hat der Erzähler oft den Eindruck, er sehe und höre alles wie durch einen Filter hindurch und fühlt sich zurückversetzt in seine Kindheit: Schon damals hatte er die Welt wie durch ein Wasserglas gesehen, aber dafür gab es einen Grund: die Unverträglichkeit von künstlichem Licht.

Auf „seiner“ Etage geht es nicht viel besser. Hier scheinen zwar viele wichtig, aber ob das auch alles echt ist? „Was ich mir denke, was ich niemals ausspreche: Hier ist keiner er selbst. […] Wir tragen Bezeichnungen, Titel. Facility Manager. Senior Sales Manager … Rollenbeschreibungen. Rollen, das ist wahr, aber wir haben es nicht nötig, einen Text zu lernen. Eines Tages um acht sitzt man an seinem Schreibtisch. Man beginnt mit seiner Arbeit so selbstverständlich, wie man nachts schläft – und wie im Schlaf wacht man manchmal auf, für einen Augenblick verwirrt und orientierungslos.“

Der Ich-Erzähler ist Teil in diesem Spiel der Wichtigkeiten, auch wenn er ab und an gern ein wenig ausbrechen möchte. Herumblödeln im Aufzug zum Beispiel, allein vor dem Spiegel Grimassen schneiden und den Clown spielen. „Aber in der Kabinenwand sind Mikrofone, in den Deckenpaneelen ist eine Kamera eingebaut. Die Aufzüge werden seit dem Auffliegen einer Betriebsspionage überwacht.“ Manchmal kippt der Ich-Erzähler aus dieser eingespielten Maschinerie heraus. Dann scheinen die anderen über Menschen wie über Film- oder Romanfiguren zu reden, kommen ihm ihre Stimmen wie ein fernes Rauschen vor, dann spielt sich alles wie durch einen Schleier hindurch ab – und er steht daneben.

Zuhause wird Paella mit Kaninchen und französischer Rotwein aufgetischt, und plötzlich erscheint dem Erzähler auch seine Freundin, die Schauspielerin Anna, völlig fremd: „Unser Leben kam mir vor wie eine Erfindung; eines dieser Stücke, die jemand […] inszenierte, Abklatsche, Reste von Wirklichkeiten, Kulissen.“ Dabei hatte er selbst die Arbeit am Theater aufgegeben, um genau dem zu entgehen: „Mein Leben war mir schließlich wie eine Fälschung vorgekommen. Was ich erlebte, waren Kopien von Einbildungen und Fantasien, Ereignisse, von denen ich gelesen, von denen ich bloß geträumt hatte, eigene und fremde Vorstellungen, die sich eines Tages als wahr herausstellen würden. Wenn ich ins Theater ging, meist gegen Mittag, war ich nie sicher, wäre ich nachts noch derselbe?“

Trotz dieser gelegentlichen „Aussetzer“ spult sich der Alltag immer gleich ab. Doch dann ist da plötzlich diese Notiz auf dem Schreibtisch des Erzählers, er solle K. anrufen. Den Jugendfreund, der zu jenen gehört, die einem nicht im Gedächtnis bleiben. Wären da nicht immer wieder Zufälle, die den Erzähler an ihn denken lassen, er würde ihn glatt vergessen, er wäre für ihn nicht existent. Der Freund, mit dem er sich in Kindertagen Namenszettel mit „Ivan Lendl“ oder „Boris Becker“ an die Tennis-Tasche gehängt hatte – „Ein Stolz war in uns, wenn wir auf den Platz gingen, siegessicher, die Taschen geschultert, das Racket im Arm, die Büchse mit den gelben Filzbällen … Mit diesen Schildern, fanden wir, hatten wir das Recht, uns wie Lendl oder Becker zu fühlen, Lendl oder Becker zu sein.“ In der Erwachsenenwelt ist K. ganz eindeutig nicht zu den Siegern zu zählen: Er demonstriert „Gegen Staat und Kapital“, lebt in einem desolaten, verlassenen Haus – und liegt nach einem „Handgemenge“ im Krankenhaus. „Du sollst K. anrufen!“ – diese Worte bringen etwas zum Kippen im Leben des Erzählers und auch in der Erzählung selbst. Die Entscheidung, K. im Krankenhaus zu besuchen (in dem er selbst als Kind eine Zeit lang war), wirft ihn heraus aus seinem Alltag, aus dem, was er für seinen Alltag gehalten hatte, und erschließt ihm eine neue Welt. Vielleicht lässt sie ihn aber nur wieder eintauchen in ein Leben, das für ihn verschüttet war: „Später wurde mir klar, bei dieser Begegnung geschah etwas mit mir, als wäre eine Art Schalter betätigt worden; ein Weckruf wie für einen Schläfer. Nach und nach verstand ich dann: Nach zwanzig Jahren habe ich wieder damit begonnen, zu beobachten. Als hätte ich nach langer Zeit die Augen geöffnet. Augen, die nicht bloß in meinem Kopf, sondern auch an den Beinen, den Schultern, den Fingern säßen, mit denen ich alles um mich aufnähme, haufenweise späterer Erinnerungen sammelte, die ich schließlich aus mir herauspressen würde.“

Welches Leben ist das „echtere“? Gibt es hinter den Masken und Kulissen so etwas wie ein „wahres“ Leben oder konstruieren wir uns das auch immer nur selbst? Kann man der eigenen Wahrnehmung trauen oder geht nichts „ungefiltert“? Der Roman beantwortet keine Fragen, aber er wirft sie auf. Und er zeigt, dass wir die Grenzen, die wir um unser Konstrukt von Identität ziehen, nicht zu ernst nehmen sollten, weil sie auch fließend sein könnten: „Mir fällt ein, dass es egal ist, unter welchen Umständen man lebt oder nicht. Dass man in jedem Augenblick ebenso der eine wie ein anderer sein könnte.“ In seinem Roman „Die Unsichtbaren“ spielt Otto Tremetzberger diese Idee konsequent durch, so entsteht ein Text der Vielstimmigkeit, der Mehrgesichtigkeit. Klar umrissene Charaktere haben hier genauso wenig etwas verloren wie eine geradlinige, vorhersehbare Handlung. „Die Unsichtbaren“ erzählt von einer Fülle an Leben, von all dem, was sein könnte: „Man könnte ein bunter Hund sein oder unsichtbar.“ Und wer weiß, vielleicht funktioniert das mit dem Einschauen ja doch? n

 

Otto Tremetzberger, Die Unsichtbaren, 224 Seiten, Limbus Verlag, 2016

Schutzbefohlene performen Jelineks Schutzbefohlene.

Nach einem Nestroy-Spezialpreis im letzten Jahr und vielen Aufführungen im deutschsprachigen Raum hat das Künstlerkollektiv „Die Schweigende Mehrheit sagt Ja“ im Herbst auch am Leondinger dreier_Hof seine Produktion „Schutzbefohlene performen Jelineks Schutzbefohlene“ gezeigt. Ein Interview mit Tina Leisch und Bernhard Dechant.

Die Ausgangssituation des Stücks: Ein Angestellter von ORS, also derjenigen GmbH, die in Traiskirchen Flüchtlinge betreut, spricht mit einem Chor von Flüchtlingen Elfriede Jelineks Text „Die Schutzbefohlenen“. Ziel im Stück ist, aus den Traiskirchner Flüchtlingen „Vorzeigeflüchtlinge“ zu machen. Den Kriegsflüchtlingen des Jahres 2015, alias Schutzbefohlenen, die mitfühlende Wortgewalt Jelineks in die Münder zu legen, wie: „Vor den Toren Traiskirchens schenken wir euch Menschlichkeit“, oder: „Wir geben euch das Recht zurück, das ihr längst vergessen habt“ hat sich als bemerkenswert erwiesen. Am Schluss des „Projekts Vorzeigeflüchtling“ wird den Schutzbefohlenen der gute Rat gegeben, dass der wichtigste Satz für Flüchtlinge sei: „Wir sind gar nicht da“. Der Satz wird vom Chor nachgesprochen und das Stück endet in einer Sprechschleife des Chors: „Wir sind gekommen, aber wir sind gar nicht da“. Der wohl allergrößte, unmenschliche Widerspruch überhaupt. Es beantworten die Fragen: Tina Leisch, die Regisseurin des Stücks, und Bernhard Dechant, der im Stück den Bediensteten von ORS spielt.

Flüchtlinge deklinieren den Text einer Nobelpreisträgerin: Hier wird das Projekt Vorzeigeflüchtling quasi zu Deutschkurs und Wertevermittlung in einem. Das Ganze wendet sich allerdings zu einer Anklage, wird zu einer Erinnerung an Menschlichkeit. Mit welchen Mitteln haben Sie denn zwischen Textvorgabe und Inszenierung, also in gewisser Weise auch zwischen Hochkultur, Theater und dem realen Drama gearbeitet? Was war/ist Ihnen wichtig?

Erstens mal mit gar keinen Mitteln, wenn man vom Finanziellen redet, respektive: nur mit unserem privaten Geld. Ein wichtiges Mittel war der Raum: Ein kleiner Lehrsaal in der Musikschule Traiskirchen, den uns die Musikschule auf Vermittlung von Karin Blum, der Frau des Bürgermeisters Babler, zu Verfügung gestellt hatte. Also mit den Mitteln der Solidarität. Ein weiteres Mittel war die Realität der Probe: Es ist einfach, Leute für zweimal in der Woche drei Stunden Reden, Spielen, Singen zu begeistern, wenn diese Proben in sauberen Räumen mit höchst gepflegten Sanitäranlagen, Klavier und kleiner Verpflegung stattfinden und die Leute seit Wochen in Zelten am Boden schlafen und völlig verdreckte Klos und Duschen benützen müssen und den ganzen Tag keinen anderen Aufenthaltsraum haben als die Traiskirchner Parks. Da fanden sich Menschen mit unterschiedlichsten Sprachen aus verschiedensten Regionen mit verschiedensten Bedürfnissen, mit verschiedensten Bildungsgeschichten in diesem Raum zusammen und über das Projekt „Wir spielen Jelinek“ begann die willkürlich zusammengewürfelte Gruppe sich als Ensemble durch den Sommer 2015 zu bewegen, im Gefühl, das, was wir da tun, gemeinsam, sei eine angemessene Bewegung durch diese Zeit, die sich auf nicht ganz durchschaute Weise historisch anfühlte. Also sozusagen: Das Mittel einer unaufgeregten Menschlichkeit.

Die Frage nach den Spalten zwischen Hochkultur, Theater und realem Drama hat sich nicht gestellt. Der Text beruht auf der selbstermächtigenden Flüchtlingsbewegung, die 2012 die Votivkirche besetzt hatte, also auf denselben realen Dramen, die die Menschen im Sommer 2015 nach Österreich trieben und sie seit Jahren Menschen im Mittelmeer ertrinken lassen. Die Frage ist doch, ob die Kunst es schafft, die Dramen sichtbar und begreifbar zu machen und vielleicht zu Lösungen oder zumindest Lösungsvorschlägen beizutragen, oder ob sie die realen Dramen ignoriert oder ob sie sie selbstgefällig als Material benützt, um daraus ästhetischen Mehrwert und kulturelles Kapital zu schlagen. All das passiert in allen Segmenten des Kulturbetriebes. Der Unterschied zwischen sogenannter Hochkultur und sogenannter Subkultur ist einer der finanziellen Ausstattung. Warum ein ästhetisch, sozial und politisch nur Bedeutungslosigkeiten produzierender Matthias Hartmann zusätzlich zum Direktorensalär sich Regiegagen überweisen durfte, mit denen man ein halbes Dutzend Projekte der Freien Szene finanzieren könnte, ist eine Frage, die mehr Leute öfters laut stellen sollten. Denn die ästhetische und politische Qualität dessen, was an Wiener Theatern zu sehen ist, ist erstaunlicherweise völlig unabhängig von der jeweiligen finanziellen Ausstattung.

Die spannende Frage für uns war die der kulturellen Übersetzung. Wir haben bei den Proben die verwendeten Textpassagen aus den Schutzbefohlenen ins Englische, Arabische und Farsi übersetzt. Aber natürlich heißt das nicht, dass alle Mitwirkenden verstanden haben, was welcher Satz bedeutet oder bedeuten könnte, worauf er sich beziehen könnte, welche Bilder und Ereignisse die Sätze aufrufen, die die Verhältnisse in Österreich unter die Sprachlupe zerren. Jede Aufführung ist sozusagen Weiterarbeit an der kulturellen Übersetzung des Textes und dazu trägt natürlich das Publikum einen entscheidenden Teil bei.

Der Chor, der im Stück auftritt, besteht aus Flüchtlingen aus Traiskirchen. Im zweiten Teil des Abends, im Gespräch mit dem Publikum, hat ein Mann gesagt, dass das Spielen „nicht wirklich Theater ist, denn es geht ums eigene Leben“. Dennoch sind sie beide TheatermacherInnen, es geht bei einem Stück um Form, Ästhetik, Anspruch. Vielleicht können Sie kurz überhaupt zur „Schweigenden Mehrheit“, die sich politisch und künstlerischen positioniert hat, ein paar Worte sagen, in Bezug auf Politik und Kunst: Wie geht das aus Ihrer Sicht gut, wo liegen hier die Möglichkeiten?

Jelineks Text bietet einen Schutzraum an. Denn auch, wenn viele Geflüchtete ihre Erfahrungen und Gefühle in diesem Text wiederfanden, sich identifizierten, sind es doch die Worte einer Österreicherin und nicht die ihren. Je mehr ich mich mit der politischen Situation 2016 befasse, umso mehr erkenne ich in Passagen, denen ich die Gedankenwelt der Flüchtlinge zugordnet habe, immer mehr auch Sätze, die man auch von österreichischen so genannten „Globalisierungsverlierern“ hören kann. Nicht umsonst wählen so viele Leute Trump, Hofer und Le Pen. „Wo werden sie uns wieder rauswerfen?“, „Wo werde ich mir ein Bett erzwingen können?“, „Den Wohlstand, wenn er gemeinsam ist, müssten doch auch wir haben?“. Es haben sich auch in Europa viele Leute auf eine Art innere Flucht weg aus dem System der alten, sie ausbeutenden Eliten begeben. Diese Flucht endet aber nicht im Massenasylheim in der Siemensstrasse, sondern zwei Gassen weiter im Gemeindebau auf Straches oder islamofaschistischen oder verschwörungstheoretischen Internetseiten.

Wenn man sagt, dass wir politisches Theater machen, heißt das, dass wir Ästhetik und Form dem Anspruch unterwerfen und der Anspruch nach außen kann nur sein, die größtmögliche politische Wirkung zu entfachen. Das heißt: Wut, Zorn, Empathie, Mitgefühl in Menschen zu erzeugen um mit diesen Gefühlen vielleicht an eingefrorenen Denkmustern zu kratzen und Bereitschaft zu neuem Nachdenken auszulösen. Leute in ein Dilemma zu führen, weil dann müssen sie anfangen nachzudenken, wie sie da wieder herauskommen. Eine andere Funktion ist die nach innen. Da versuchen wir eine solidarische Gruppe zu bilden von Leuten, die sich stützen und verstehen, dass das Theater nur funktioniert, wenn sich alle zusammen dem Projekt unterordnen und ihre Egos zurückstecken. Praktisch versuchen wir, dass jeder die Zeit des anderen wertschätzt. Wir versuchen gleiche Arbeitszeit aller Mitwirkenden gleich zu bezahlen und unser kulturelles Kapital, unser Knowhow, unsere beruflichen und privaten Netzwerke den MitspielerInnen zur Verfügung zu stellen.

Ich möchte Sie kurz zur „ästhetischen Intervention“ befragen. Ich meine, das war für sehr viele Menschen ein enormer Schock, dass so etwas passieren konnte und dann so benannt wird. Die Frage stellt sich auch, warum gerade dieses Projekt für so einen Einmarsch auserkoren wurde. Und wie konntet ihr als Kollektiv damit umgehen, das verarbeiten?

Die Bezeichnung „Ästhetische Intervention“ ist eine Frechheit. Wenn Sie die Retraumatisierung von geflüchteten Menschen meinen, in dem man eine Bühne in SA-Manier stürmt und Frauen und Kinder mit Blut beschüttet, dann benützen Sie bitte auch die richtigen Worte dafür: Neofaschistischer Angriff. Retraumatisierung von traumatisierten Flüchtlingen. Kompensation von Minderwertigkeitskomplexen durch Hintreten auf die Schwächeren. Das Erbärmlichste war die Reaktion mancher Medien, die den Pöbel vor die Kamera luden, und diese Gemeinheit mit Hauptsendezeit belohnten.

Diesen Schock dieser Benennung meinte ich auch. Gehen wir weiter in der Realität: Das Stück wurde oft gezeigt, hat außerdem letztes Jahr einen Nestroy-Preis bekommen, jetzt den Preis der Freien Szene Wien. Es gab enorme Solidarität mit den Flüchtlingen. Sie erleben aber mit, dass Menschen, die hier beim Projekt mitgewirkt haben, zurückgeschickt werden. Die Grenzen wurden außerdem dichtgemacht. Dass eine schweigende Mehrheit Ja sagt: Ist das ein paradox formulierter Wunsch? Oder anders gefragt: Wie nehmen Sie die aktuelle Situation wahr?

Die Schweigende Mehrheit der Menschen in Österreich sagt Ja zur Solidarität mit Menschen in Not. Das ist nicht paradox, sondern wahr. Unter Berücksichtigung der NichtwählerInnen sind es keine 35%, die Hofer wählen. Die anderen wollen keinen rechtsextremen Burschenschafter, keine rassistische Hetze, keinen Bürgerkrieg. Öffentliche Meinungsäußerungen würden nicht dermaßen unfassbar entgleisen, wenn nicht Facebooks Echokammern regelrecht verbale Amokläufer hochzüchten würden. Überall, wo reale ÖsterreicherInnen auf reale NewcomerInnen treffen, lassen sich die realen Konflikte lösen. Aber die irrealen Bedrohungs- und Gewaltszenarien sind herrschafts- und profitsichernd. Die FPÖ schürt ja den Hass nicht, weil die Funktionäre wirklich MigrantInnen hassen würden, sondern weil das ein Weg ist, wieder an die Futtertröge zu kommen, an denen sie sich unter BlauSchwarz und in Kärnten so hemmungslos und teilweise schwerkriminell angefressen hatten. Und auch der reale Krieg ist ein fettes Geschäft. Syrien ist doch eine Goldgrube für die Rüstungsindustrie. Die Flüchtlinge sind eine Goldgrube für die Schlepper- und Versorgungsindustrie. Die das Lager Traiskirchen betreibende Firma ORS hat 2,5 Millionen Euro Extraverdienst aus der humanitären Katastrophe der Überfüllung im Sommer 2015 generiert.

Wer Frieden und Menschlichkeit vorlebt, ist ein Geschäftsverderber.

Sie haben nun ein weiteres Projekt in Planung, wie ich gelesen habe: „Traiskirchen. Das Musical“. Sie scheinen große SpezialistInnen in der Arbeit mit Widersprüchen zu sein, auch mit denen, dass das Theater Gesellschaft verhandelt und dann oft auch vor seinen eigenen Grenzen und Konventionen zum Stehen kommt. Die Frage: Was haben sie mit „Traiskirchen – Das Musical“ vor? Raus aus dem „Elfenbeinturm“ Hochkultur, und dafür dann gleich rein in den Hort der allgemeinsten Unterhaltung schlechthin, ins Musical? Was spielt sich denn hinter dem „Schmäh“, das so aufeinanderprallen zu lassen, ab?

Das werden Sie am 9. Juni im Volkstheater Wien sehen.

Ja, das werden wir. Vielen Dank für das Interview.

Brauchbares Klischee!

Christoph Boxhofer hat sich Vodoo Jürgens in der gfk angeschaut und berichtet unter anderem über fehlende Idelatypen von gestern.

Foto Reinhard Winkler

Foto Reinhard Winkler

Schön ist sie schon, diese g’scherte Sprache vom Voodoo Jürgens. Der redet so, wie man als Provinzösterreicher gern hätte, dass die Wiener reden. Weil früher einmal, da war Wien halt schon besonders. Elegant, weil schirch. Und heute reden die Wiener eben anders als früher. Würde es nicht unzählige Leute aus unzähligen Kleinstädten in die große Metropole ziehen, die das G’scherte ein bisschen hochhalten, weil sie eh nicht anders können, dann wäre diesem Wienerischen, dem vom Wein und vom Tod, der Untergang ganz nahe.

„Ansa Woar“ nennt der Voodoo sein heuer erschienenes Album. Es handelt von tausendfach besungenen Beziehungssachen, vom Erwachsenwerden, vom Leben halt. Nichts Neues großteils, doch höchst charmant vorgetragen. So ist es unmöglich über Texte und Musik zu schreiben, weil die Freude darüber, dass sich jemand dieser Sprache bedient, dem Autor das Erwähnenswerte ist.

Mit einer klitzekleinen Ausnahme: Die erste Single „Heite grob ma Tote aus“ berührt, weil sie einen erinnert, wie sehr heute die Idealtypen von gestern fehlen. Weil halt ein jeder hier bei uns die Spitze von Maslows Pyramide entweder erklommen hat, oder halt meint, sie erreicht zu haben. Da seziert man sich dann selbst wie Sau, und bastelt an sich und dem Potential. Daraus entsteht dann in Summe ein Fassaden generierendes, gleich zurecht gemachtes Pack, dem man eben die Pest an den Hals wünscht, oder Zombies, auch wenn man selbst dazugehört. Um heutige Idealtypen zu entdecken fehlen uns zu oft Perspektive und Empathie. Da ist es wichtig, erinnert zu werden.

Das Klischee kann helfen. Der einfache, trunksüchtige, aus der Bahn geschmissene, Tschick fressende Espressostammgast hat nichts zu sagen, wenn er redet. Doch er redet in einer solch gleichgültigen Verachtung von allem und allen und sich selbst, dass man ihm stets entwaffnet entgegentritt. Schnell schimmert einem, dass nichts so ernst gegessen wird, wie gedacht.

Der Voodoo ist vom Vorwurf der Egozentrik sicherlich nicht freizusprechen, aber das ganze Gehabe mit der Frisur, den Fetzen und alldem Rundherum passt dann doch zu gut zu dieser inszenierten, verstorbenen Sprache. Eine gelungene Reanimation könnte man sagen. Oder aber die Zombieversion des Austropop. Den Autor hinterlässt das Musikstück mit der Sehnsucht nach etwas, das er erfahren hat, ohne dass es je existierte.

Der Klang soll aus den Poren der Wände kommen.

Von Macbeth über Soundinstallationen bis hin zu Modern Dance: Der in Linz lebende Musiker, Produzent und Komponist Wolfgang Fadi Dorninger kennt keine Berührungsängste. Seit mehr als 25 Jahren komponiert Dorninger auch fürs Theater, seine bisher letzte Produktion ist Felix Mitterers Schauspiel Jägerstätter in der Inszenierung von Markus Völlenklee.

Fadi Dorninger vor der Jägerstätter-Kulisse. Foto Gabriele Kling-Dorninger

Fadi Dorninger vor der Jägerstätter-Kulisse. Foto Gabriele Kling-Dorninger

Es ist die Herausforderung, die Wolfgang Fadi Dorninger zu seinen vielen Produktionen und Projekten führt, denn der bereits erprobte Weg fasziniert ihn nicht. So lehrt er neben seiner künstlerischen Arbeit seit fast 20 Jahren an der Kunstuniversität Linz und betreibt das Label base records mit dem Hauptgewicht auf elektronischer Musik.

Trotz seines unterschiedlichen künstlerischen Arbeitens ist Wolfgang Fadi Dorninger sofort einverstanden, dass wir uns diesmal ausschließlich über seine Theaterkompositionen unterhalten, und dabei gibt es genug zu besprechen, denn sowohl auf den Bühnen der Off-Theater als auch auf Landesbühnen hat Wolfgang Fadi Dorninger fast 45 Stücke in Klang „gehüllt“.

Ich besuche ihn auf der Kunstuniversität Linz, Wolfgang Fadi Dorninger schaltet die Geräte der Audio-Workstation aus. Für einen Moment, bevor wir mit dem Interview beginnen, glaube ich die absolute Stille im Raum zu spüren, doch im Laufe unseres Gespräches wird Dorninger mir erzählen, dass ein Raum ohne Geräusche gar nicht vorstellbar ist, und schärft damit meine Sinne, nach und nach höre auch ich ein nicht zuordenbares Surren, die Bewegung meiner Lederjacke, sogar den Raum an sich.

Zu Beginn unseres Gesprächs über Komposition, Klang und akustische Wahrnehmung hat mir Dorninger erzählt, wie er den Zugang zu Felix Mitterers Schauspiel Jägerstätter fand. Das Stück basiert auf der realen Geschichte des gleichnamigen oberösterreichischen Bauern, der aus religiösen Gründen den Kriegsdienst verweigerte und aus diesem Grund zum Tod verurteilt wurde.

Wolfgang Fadi Dorninger, bevor wir detaillierter über Ihre Theaterarbeit und den Prozess, der einer Komposition vorangeht, sprechen, möchte ich mit einem Statement von Ihnen beginnen, das mir gut gefallen hat. Es lautet: „Ich muss den Kern des Stückes suchen.“ Wann wissen Sie, dass Sie ihn gefunden haben?

Ich hab mich, um es an einem Beispiel zu schildern, mit Gerhard Willert, mit dem ich viel und gern gearbeitet habe, immer vor dem Probenbeginn getroffen, wir haben uns ausgetauscht und waren ohnehin bald auf einer Linie. Da schält sich dann einiges heraus, auch bei den Proben mit den Schauspielern. Ob ich den Kern wirklich gefunden habe, merke ich erst während des Arbeitens am Sound im Theater.

Sie arbeiten nicht vorwiegend allein im Studio, sondern vor Ort im Theater.

Ich bin näher dran am Geschehen, ich sitze im Zuschauerraum und lasse die Probe auf mich wirken. Ich arbeite mit Laptop und meiner portablen Festplatte, hab alles drauf, was ich brauche und experimentiere zunächst einmal. Mit demselben Programm arbeite ich dann zu Hause. Ob ich musikalisch den Kern tatsächlich getroffen habe, entscheidet sich erst bei den Hauptproben, weil dann zum ersten Mal alles zusammenspielt. Möglicherweise verkleinert das Licht den Raum, verändert sich durch die Kostüme die Haltung und vieles mehr, das sind alles Faktoren, die den Klang-Raum verändern. In der Woche vor der Premiere ändert sich noch recht viel im Detail.

Ich will mir bei meiner Arbeit Zeit lassen, natürlich halte ich Termine ein, aber Effizienz ist für mich nicht der antreibende Faktor. So bleibt die nötige Hingabe erhalten, mich voll in den Entstehungsprozess einzubringen. Ich könnte auch skypen, und dann quetscht man halt eine Komposition in ein Stück, aber so will ich nicht arbeiten.

Ich möchte zunächst über Ihr aktuelles Stück, Felix Mitterers Schauspiel Jägerstätter, sprechen, das noch bis 11. 1. 2017 in den Linzer Kammerspielen zu sehen ist. Wie haben Sie bei diesem Stück den Kern gefunden?

Der Kern ist die Genauigkeit des Autors, das hat mich an diesem Stück besonders fasziniert. Mitterer nimmt Kommentare zurück, verzichtet auf Bewertung. Es werden Fakten in das Stück hineingetragen, ich hab direkt gespürt, wie er in Archiven gestöbert hat. Diese Genauigkeit fehlt ja häufig im politischen Diskurs.

Ich habe meine Aufgabe darin gesehen, nicht zu kommentieren, keine Gefühlswelten mit der Musik zu bedienen oder zu verstärken, sondern eine Nachvollziehbarkeit von Zeit und Ort anzubieten und natürlich akustische Räume zur Steigerung der Aufmerksamkeit zu schaffen. Wichtig war mir auch, dass die Sprache freiliegt, damit kein Klang Subtext erzeugt.

Das Publikum sollte sich idealerweise nach dem Stück von der Musik unverfälscht die Frage stellen können, wie es sich verhalten hätte. Aus diesem Grund wollte ich kein „Gefühlskino“ anbieten, unnötige Ablenkung vermeiden.

Sie vermeiden ganz offensichtlich jegliche Authentizität der Klänge, das ist mir bei Jägerstätter in einer Szene, die von einem Bombenangriff handelt, aufgefallen. Ihre Klänge erinnern zwar an Bomben, sind aber deutlich verfremdet.

Ja, ich mag eher das Hybride. Nachdem Sie die Bomben ansprechen, in diesem Fall fand ich es reizvoller, dicke Bücher auf den Boden zu knallen – meist entstehen so meine Klänge und Geräusche. Eine angenommene Wirklichkeit nachzubauen, fände ich lächerlich, das hat für mich in diesem Kontext nichts zu suchen.

Ein Statement von Ihnen, das mir besonders gefallen hat, lautet: „Ich will das Stück nicht verraten, kein Posierer, kein Blender sein.“

Ja, im Stück zu sein, das ist mir sehr wichtig. Wenn das Publikum aus dem Theater geht und die Musik bewusst wenig oder nicht als alleinstehendes Medium empfunden hat, bin ich zufrieden, denn dann war ich im Stück. Jeder Klang muss für mich im Text verankert sein, laut oder leise, als Soundfläche oder Melodie.

Es gibt beispielsweise eine Szene bei Jägerstätter, als er mit seiner Frau Franziska auf die Mutter seines ersten Kindes wartet; das ist ein sehr schöner poetischer Moment, fein und liebevoll. Dem wollte ich kompositorisch mit einer zarten positiven Melodie eine Betonung verleihen, bevor die „Heil Hitler“-Rufe wieder zu hören sind.

Ich bin mir aber immer der Verantwortung bewusst, dass ich durch den Klang ein Stück leicht zum Kippen bringen könnte. Deshalb habe ich mich sehr gefreut, als Felix Mitterer nach der Premiere zu mir „mein Komponist“ gesagt hat.

Stoßen Sie nicht manchmal auch an technische Grenzen?

Die Gefahr besteht natürlich. Gott sei Dank sind aber die Tontechniker im Landestheater diesbezüglich sehr gut und kooperativ, beispielsweise wenn ich die Lautsprecher anders positioniert oder geroutet haben möchte, denn für mich stellt sich immer die Frage, wie bringe ich den Klang aus den Lautsprechern, ohne dass das Publikum bemerkt, dass er aus den Lautsprechern kommt. Der Klang soll aus den Poren der Wände kommen.

Welche Theaterproduktionen, bei denen Sie die Musik gemacht haben, erfordert denn Ihrer Meinung nach die Einheit zwischen Wort und Klang?

Da würde ich in erster Linie Joël Pommerat nennen. (Anm.: französischer Autor und Regisseur, geboren 1963). Ich habe bei drei Produktionen mitgewirkt (Kreise/Visionen, 2011, Die Wiedervereinigung der beiden Koreas, 2014, Mein Kühlraum, 2015; Regie bei allen drei Stücken: Gerhard Willert). Bei Pommerat kommt man ohne Klang und Musik nicht weit, seine Stücke sind ohne vehementen Klang nicht vorstellbar. Pommerat war eine super Erfahrung für mich, ich habe dem Gerhard Willert auch gesagt, wenn er irgendwo wieder einen Pommerat inszeniert, würde ich sogar weit fahren, um wieder mit ihm zu arbeiten.

Bei Ihren Soundtracks fürs Theater ist mir Ihre Vielfalt aufgefallen, hinsichtlich der Arbeiten, von Macbeth bis hin zur Theaterperformance Morgen Hysterisch Theater, eine Theaterperformance mit Raum-Installationen an einer Fachhochschule in Düsseldorf. Haben Sie diese Vielfalt angestrebt?

Die Vielfalt hat sich vielleicht deswegen ergeben, weil mich neue Fragestellungen interessieren. Natürlich liebe ich das Theater, aber ich arbeite auch gerne als akustischer Gestalter für Ausstellungen, entwickle Sound-Installationen für den öffentlichen Raum, weil jeder Raum neue Situationen schafft.

Was ich aber zur Vielfalt noch sagen möchte, ich habe bei meinem Bildungsweg immer den Umweg gesucht und auch eingeplant. Natürlich hätte ich es mir viel einfacher machen können, so nach dem Motto: Ich erkenne ein Muster, gehe in den Kern, stelle eine Blaupause her und verändere sie von Fall zu Fall ein bisschen. Aber was bringt mir das? Viel Geld in kurzer Zeit, künstlerisch aber nichts, das hat mich nie gereizt. Luxus interessiert mich glücklicherweise nicht, außerdem hab ich ihn ja, meine Arbeit vermittelt mir sehr oft große Glücksgefühle, das ist Superluxus!

Wenn ich zwanzig bis dreißig Jahre zurückdenke, so kann ich mich kaum erinnern, Schauspielinszenierungen gesehen zu haben, bei denen die Musik, der Klang eine relevante Rolle gespielt hätte, meist fehlte beides völlig.

Ja, das stimmt, ich finde aber Theater ohne Sound und Musik sehr problematisch. Wenn ein Stück ernsthaft verhandelt wird, darf man den Klang im Theaterraum nicht ausblenden, sonst entzieht sich das Stück der Lebensrealität, denn es gibt keine klangfreien Räume.

Wie sehen Sie das Phänomen, das schon seit ein paar Jahren bis Jahrzehnten zu beobachten ist, dass unsere Gesellschaft, so scheint es mir, die Stille nicht mehr aushält. Ich habe auch den Eindruck, dass sich dieses Phänomen verstärkt, Gespräche im öffentlichen Raum werden in zunehmender Lautstärke geführt. Wie wirkt es für Sie als Komponist, dass wir ständig zugedröhnt werden?

Ich find’s natürlich furchtbar, dass die Medien zu einer Apparatur verkommen sind, die trotz Lärm und hautnaher Präsenz am jeweiligen Geschehen nur Gleichgültigkeit und Apathie erzeugen. Die Städte klingen mittlerweile fast überall gleich, sie haben sich dem rollenden Verkehr ergeben. Das zwingt uns das Maul zu halten, uns unter Kopfhörern zu verstecken. Der Tiefpunkt scheint erreicht, aber ich bin zuversichtlich, dass es nicht so bleibt.

Sie haben anfangs von den Glücksgefühlen, die Ihnen Ihre Arbeit im besten Fall vermittelt, gesprochen. Kennen Sie auch Gefühle der Ekstase durch die Musik?

Ja, nicht nur bei meiner Theaterarbeit. Es ist elektrisierend, Menschen durch Klang zum Tanzen zu bringen, aber auch selbst stundenlang zu tanzen. Ekstatische Momente finde ich bei meiner Soundarbeit genug, ich brauch’ glücklicherweise keine Drogen.

 

Dorningers Arbeitscredo: Sound Art before midnight, and Techno after midnight. Das und mehr unter dorninger.servus.at

www.base.at

 

Die Produktion „Jägerstätter“ ist noch bis Samstag, 14. Jänner zu sehen (letzte Vorstellung).

www.landestheater-linz.at

Poesie sagt, was Sache ist

SteinbacherKorr6[1]-9

Von einem der vielseitigsten und wichtigsten Schreiber von Poesie, Neuen Texten und Prosa, zudem Veranstalter, Herausgeber und Verfasser von Texten zur Literaturwissenschaft, von Christian Steinbacher ist aktuell eine RAMPE erschienen. Der Band umfasst dieses Schaffen und ist zudem mit zahlreichen Abbildungen bestückt, die unter anderem auf Zusammenarbeiten mit Kunstschaffenden referieren.

Am Bild: Longboard von Arno Jungreithmeier mit Textstelle von Christian Steinbacher aus „HOFFEN AUF VERFRANSUNG“ (1997, in: der wandel motzt, 2000), Longboard-Experiment MKH Fabrik, Wels, Januar 2012

Bring the Ultranoise!

Entwickelt sich in Linz ein kleines Epizentrum der Sound Arts? Wenn ja, dann ist daran sicher auch der eben hier lebende Künstler Enrique Tomás beteiligt. Über einen der Umtriebigsten in diesem Feld schreibt Andre Zogholy.

Enrique Tomás heterogener Schaffensbereich reicht von Live-Performances und Kompositionen über Installationen bis hin zu Arbeiten, die an den Schnittstellen von Wissenschaft und Kunst operieren. Den in Madrid aufgewachsenen Enrique Tomás hat es vor rund 10 Jahren nach Linz verschlagen.

Wieso Linz?

„Du wachst in der Früh auf und fragst dich, was machst du hier? Denn es kann ja ebenso auch New York, Berlin oder irgendwo sein,“ so Enrique Tomás, der mit seinem Wuschelkopf durchaus optisch keine Vergleiche mit Melvins King Buzzo zu scheuen braucht. Es waren die Ars Electronica Festivals in den Jahren 2005 und vor allem 2006, die für ihn eine Schiene von Madrid in die Stahlstadt gelegt haben. Sein erstes größeres Projekt über das Future Lab realisierte er in Folge gemeinsam mit Rupert Huber mit einer sowohl generativen wie auch interaktiven Mehrkanal-Soundinstallation am Flughafen in Wien Schwechat. Die Arbeit „Airport Soundscapes“ zapfte die Daten des Flugverkehrs an, übersetzte diese in Klang und versuchte so, Raum und Zeit via Algorithmen neu zu strukturieren. „Airport Soundscapes“ – mittlerweile von den Betreibern des Flughafens eingestellt, denn diese seien mehr „an einer Shopping Mall, als an Medienkunst interessiert“ – referenziert hier ganz klar auf „Ambient 1: Music for Airports“ aus den späten 1970ern von Brian Eno und stellt die Frage, wie und was eine Komposition für einen Flughafen heutzutage formal wie auch technisch sein könnte. Dieser oft durchaus übliche Referenzdschungel im Rahmen gegenwärtiger Sound Arts mit Namen wie Alvin Lucier, Karl Heinz Stockhausen oder eben Brian Eno wird bei Enrique Tomás mit den Pet Shop Boys verbunden – und zwar „alle auf einer selben Stufe“, wie er meint. Und dann kam noch der Zeitpunkt, als er Dub entdeckte und alle Sounds ineinander mischte. „Du mixt Stockhausen mit den Pet Shop Boys. Und alles macht auf einmal Sinn.“ George Gershwin, Komponist der Oper „Porgy and Bess“, fand im Noise unzählige, nie enden wollende Melodien. Dieser Umstand verweist auf zentrale Aspekte in den Arbeiten von Enrique Tomás und auch auf die Ambivalenzen im Zusammenhang mit Ästhetik, Rezeptions- und Einsatzweisen im Zusammenhang von mittlerweile inflationären Konzepten von Noise. Es handelt sich für ihn um sonisches Material, das im Gegensatz zu konkreten Sounds unglaubliche Freiheiten bietet und ganz andere Texturen ermöglicht. Enrique Tomás berichtet von Konzertbesucher_innen, die erzählen, dass es extrem laut und lärmend gewesen sei, sie aber nachher besser hören würden. Es handelt sich offenbar um ein Phänomen des Durchputzens der Gehörgänge, um ein Freilegen von Synapsen, um das Gegenteil von Tinnitus. Heavy Listening ist immer auch Easy Listening. Breitbandnoise auf höchstmöglicher Amplitude als Konzept von Wellness oder auch Disco.

Die Verhältnisse zum Tanzen bringen

Als Anfang September 2016 das spanische Duo Magmadam ein arhythmisches Noisegewitter bei einem Auftritt in Linz lostritt, finden sich im Auditorium zwei tanzende Personen. Es ist Enrique Tomás gemeinsam mit seiner sechsjährigen Tochter Elsa, die einen überdimensionalen Gehörschutz trägt, wie andere pelzige Ohrenschützer im Winter. „Mit meiner Tochter habe ich schon zu den Wellen des Ozeans getanzt, etwas sehr Leisem. Wir tanzen aber auch zu Frequenzen, teilweise mit extremen Amplituden.“ Elsa war bereits im Alter von sechs Monaten auf Performances ihres Vaters und experimentiert zuhause wild an ihrer Bontempi-Orgel, um dieser beispielsweise mittels Ein- und Ausschalten Fade-Ins und -Offs zu entlocken. Kinder mögen es, in Musik einzutauchen, gerade auch, wenn diese sehr brutal und roh sei, meint Enrique Tomás.

Diese Aussage verweist auf eine Geschichte über Pan Sonic, ein finnisches Elektronik-Noise-Duo, welches mittels Netzbrummen, minimalistischen Beats und selbstgebauten Synthesizern an ihren Klangwelten aus subsonaren Sinuswellen und hochfrequenten Rauschen arbeitete. Stewart Home wurde 1999 im Bizarre Magazine interviewt. Frage: „Sie haben jetzt einen Sohn bekommen. Wie kann man sich den Home-Haushalt vorstellen?“ Home: „Ich spiele ihm eine Menge Pan Sonic vor. Al Ackerman hat umfangreiche Studien darüber erarbeitet, welche Auswirkungen Musik auf die Entwicklung eines Kindes hat. Die traditionelle Ansicht ist, dass Mozart die Intelligenz des Kindes verbessert, aber, soweit ich Dr. Ackerman folgen konnte, wird das Kind dadurch konformistisch. Minimaler Techno wie der von Pan Sonic scheint eine nonkonformistische Wirkung zu haben.“

Februar 1934

Als jemand, der sich mit Medienkunst auseinandersetzt, ist der Finger auf der Landkarte schnell auf Linz gesetzt. Für Enrique Tomás taucht die Stadt aber früher in einem anderen Kontext auf: durch die Beschäftigung mit den Februarkämpfen 1934, die in Linz ihren Anfang nahmen. Sein Interesse an anarchistischen und linken Bewegungen führt zwangsweise zu Fragen nach dem Politischen, natürlich auch in der eigenen künstlerischen Arbeit. „Ich bin kein Aktivist durch oder mittels Kunst. Es gibt Leute, die beides unglaublich gut kombinieren und verbinden. Ich nehme den Begriff Aktivist_in sehr ernst. Kann ich mit meiner künstlerischen Arbeit die Situation von Refugees tatsächlich verbessern? Ich denke nicht!“ Konkret geht es Enrique Tomás um eine radikale Mikropolitik, die sich auch in seinen Arbeiten manifestiert. Dies beginnt ganz allgemein bei den Zugängen, bei den Netzwerken und Kooperationen, die Enrique Tomás eingeht, bei der Bearbeitung des sonischen Materials – das auch als Informationskanal gelesen werden kann – und wird am besten dann deutlich, wenn er über seine mannigfaltigen Arbeiten reflektiert.

Das Kunst/Wissenschaft/Hybrid

Das Œuvre reicht von seiner Augmented-Reality-Soundscape Arbeit noTours, die in Kooperation mit Martin Kaltenbrunner im Linzer Musiktheater zu erlebende Schallmauer, hin zu Performances in Multichannel-Setups mit bis zu 192 Speakern oder einer mehr als beindruckenden Performance mit der Flamenco-Tänzerin Ana Morales. Gemeinsam mit der interdisziplinären Künstlerin Daniela de Paulis „schießt“ er Sounds auf den Mond, um die darauf folgenden Echoes zu hören. Oder das Projekt Tangible Scores, das zunächst in einem Musikinterfacedesign-Kontext verortet ist, aber weit darüber hinaus verweist. Die Entwicklung von solchen Instrumenten steht als praktischer Teil seiner PhD-Arbeit an der Linzer Kunstuniversität einerseits im Vordergrund, andererseits entwickelt Enrique Tomás aus der Reflexion über neue taktile Instrumente eine Theorie des Zugangs, die traditionell linguistische Konzepte in die Schranken weist und Fragen der Repräsentation in den Vordergrund rückt, sowie neue methodische Settings in der Analyse der Zugänge zu Musikinstrumenten und der Notation zur Anwendung bringt. All diesen Arbeiten liegen immer erfrischend experimentelle Herangehensweisen zugrunde, die Enrique Tomás mit seinen Arbeiten an den vielfältigen Schnittstellen zu Sound Art verhandelt.

 

Enrique Tomás weilt außerdem den ganzen Februar 2017 in Berlin – im Rahmen einer Residency auf der Transmediale.

Und am 7. April wird im Laboral (Spanien) eine Ausstellung mit dem Namen „De lo íntimo a lo global“ eröffnet. Tomás präsentiert dort gemeinsam mit Martin Kaltenbrunner eine Version von Schallmauer, eine Arbeit, die die beiden für das Musiktheater Linz entwickelt haben.

Enrique Tomás wird am 7. Dezember sein jährliches Konzert „Sankt Interface“ veranstalten – mit Studenten und Studentinnen der Interface Culture.

Am 17. Jänner 2017 wird Art’s Birthday zelebriert, auch mit Studenten und Studentinnen der Interface Culture.

Interface Culture Musikkapelle, 24. Jänner, Stadtwerkstatt

The “Interface Culture Musikkapelle” is an unusual electronic music ensemble where each performer has to build an unique and novel musical interface for musical expression. Without the need of a conductor, smaller groups of musicians propose musical improvisations involving any kind of musical aesthetic.

Gravity plays

„Architektur und Tanz“ treffen sich noch bis Mitte Dezember im afo. Von Theresa Gindlstrasser und Tanja Brandmayr.

Architektur und Tanz. Auf den ersten Blick eröffnen sich Unterschiede: Auf der einen Seite etwa die Statik, also die unbewegliche Zuverlässigkeit von Tragwerken. Und die der Bewegung, des Schwunges, des Federns, ja, manchmal sogar des Schwebens auf der anderen Seite. Sogleich verrät der zweite Blick, dass solcherlei Gegensätze auch immer etwas miteinander zu tun haben. Gestaltung, Materialien, das Atmen eines Raumes, das Umleiten von Kräften; das sind alles Dinge, mit denen die Architektur etwas zu schaffen hat. Selbst dann, wenn Architektur einfach nur Haus wäre und noch nicht einmal spezielles ästhetisches Konstrukt. Und so auch andersherum der Tanz. Gerade die Rede vom zeitgenössischen Tanz, ein viele Variablen umfassender Begriff für den Tanz der Gegenwart seit etwa 1970, zeichnet sich durch ein Bemühen aus, real vorhandene Gegebenheiten nicht zu ignorieren. Dabei geht es um Bewegung als auch Stillstand, um die Beschaffenheit des Raumes, der Körper, sowie um eine differenzierte Beziehung zum Boden.

Das Architekturforum Oberösterreich hat nun eine Ausstellung programmiert, die noch bis 17. Dezember läuft. Gleich zu Beginn sei angemerkt, dass „Architektur und Tanz“, wie der Titel vielleicht nahelegen könnte, keine Ausstellung ist, die eine wie auch immer geartete Historizität von Projekten, Konzepten oder KünstlerInnen hervorkehrt, die sich in diesem Spannungsfeld bereits betätigt haben. Die Ausstellung besteht vielmehr aus Objekten, die durch eingeladene junge ArchitektInnen, KünstlerInnen und TänzerInnen quasi unbeschwert hergestellt und „bespielt“ scheinen. Was meint, dass diese Objekte – durchaus in eklektisch spielerisch anmutender Auswahl – auch zuvor mit und durch Tanz entstanden sind. Dass dieser Zugang mit Diskurs durchtränkt wurde, ist State of the Art und selbstredend. Davon berichten auch Videos, die den Herstellungs- und Konzeptionsprozess in Interviews erläutern. In diesen Videos haben die für die Ausstellungskonzeption verantwortlichen Personen (Tänzer Hygin Delimat, Architektin Anna Firak und der afo-Leiter Franz Koppelstätter) und weitere mitwirkende KünstlerInnen über ihre Ideen und Ansichten zur Verbindung von Architektur und Tanz gesprochen. Zum Beispiel darüber, dass Architektur einen Raum schafft, Tanz aber einen Raum bespielt. Und dass sich daraus vielleicht Wechselwirkungen im künstlerischen Schaffensprozess bergen lassen könnten. Ja, dass vielleicht die Körper der Tanzenden, als exquisites Beispiel für die Nutzung von Raum, die möglichen Benutzungsweisen des Raums eigentlich erst mitbauen. Dass dies in diversen Aspekten auch der Fall sein und tatsächlich erfahren werden kann, davon zeugt besonders eine Arbeit, die als Eröffnungsperformance gezeigt wurde und um das größere, pyramidal anmutende Konstrukt von Stefan Brandmayr arrangiert wurde: Drei Tänzer machten das Agieren mit einem (sehr sperrig zu bewegenden) Pyramiden-Objekt zu einer Aussage zwischen Balance, schwerer Statik und Schwanken. Das Objekt wurde zur körperlichen Erfahrung, indem die Tänzer (zuerst längere Zeit mit dem Objekt agierend) dieses am Ende wegließen und sich selbst in eine Art schwankende Balance versetzten. Und wenn vor Jahren das Vienna International Dance Festival ImPulsTanz einen besonders prägnanten Slogan auf seine Merchandise T-Shirts gedruckt hatte, nämlich „Gravity sucks“, dann treffen sich Architektur und Tanz hier vielleicht in einem „Gravity plays“ – oder zumindest in einer spielerischen Statik. Dass so ein Spielen auf der tänzerischen Seite nur durch langjährige körperlich disziplinierende und ästhetisierende Schulung passieren kann, sei jedoch gleich angemerkt, um denjenigen Irrtümern vorzubauen, die als Aussage auch in einem der erwähnten Dokumentationsvideos vorgetragen wurde – nämlich etwa jene, dass der Tanz „freier“ sei als die Architektur. Solche Aussagen bezeichnen wohl auch kleinere Romantizismen, wenn sich Sparten treffen. Der Blick von außen, das Wundern und auch zu einem gewissen Grad die Unkenntnis der fremden Materie will hier allerdings anders, und vielleicht sogar tatsächlich befreiend, fruchtbar gemacht werden. Insofern hat, quasi in einem zeitgenössischen Spartentreffen, „der Tanz“ einen derzeit hippen Ansatz von anderer Materialität gewählt (konkret hier: Baumaterialien, Architekturfragen). Andererseits scheint „die Architektur“ einen starken Fokus auf die ebenso hippe Prozessorientierung gelegt zu haben, was sich besonders in den ausgestellten Objekten manifestiert, die lediglich durch ein Experimentieren von Körpern und Konzepten bearbeitet wurden – also Materialien, die ganz grundsätzlich von Körpern befragt scheinen. Hinsichtlich der Frage, inwieweit derartige Prozesse tatsächlich sichtbar gemacht werden können, hinsichtlich eines schlichtweg vorhandenem und eventuell doch auseinanderdriftenden ästhetischen Unter- und Überbaus der jeweiligen Sparten, und auch hinsichtlich der Sinnlichkeit des Mediums Video innerhalb einer solchen Ausstellung, gibt es zwischen den beiden Autorinnen im Übrigen unterschiedliche Meinungen und Argumente; auch hinsichtlich tatsächlicher Effekte, die sich innerhalb einer derartig fragilen Zusammenarbeit schlussendlich überhaupt einstellen können. Was allerdings generelle und spannende Fragestellungen abbildet. Eine Bewertung in dem Sinn täte auch insofern nicht gleich etwas zur Sache, als dass die weit geöffnete Thematisierung von Nutzung ganz offensichtlich die grundsätzliche Fragestellung dieser Arbeiten abbildet. Innerhalb von Material, Form und Raum haben sich hier jedenfalls verschiedene Positionen manifestiert, die sich zwischen den Sparten gewissermaßen neu schauend und probierend getroffen haben. Es zeigt sich weiteres Potential zwischen Architektur und Tanz. Selbst hingehen und anschauen.

 

Theresa Gindlstrasser schreibt u. a. auch für nachtkritik.de, die Internetplattform für Bühnenkunst im deutschsprachigen Raum.

Tanja Brandmayr (übrigens nicht mit Stefan Brandmayr verwandt oder sonst wie verschwägert) schreibt unter anderem für tanz.at – eine mindestens österreichweite Internetplattform für Tanz, Kritik und Diskurs. Dort wird dieser Text auch zu lesen sein. www.tanz.at

 

„Architektur und Tanz“ im afo noch bis 17. Dezember.

Doku der Performance dorftv.at/video/25910

Alle Videos der Ausstellung dorftv.at/channel/afo

Öffentlicher Raum

Foto Reinhard Haider Gütesiegel Die Referentin

Foto Reinhard Haider Gütesiegel Die Referentin

Gottfried Bechtold, Unser Mann, 2008/16, LENTOS Kunstmuseum Linz

Herbal Life – der große Kräutercheck.

Slowdude, Originalfoto von Tim Reckmann (CC BY-SA 3.0)

Slowdude, Originalfoto von Tim Reckmann (CC BY-SA 3.0)

Hipster-Bobo-Kochbücher, Kochsendungen im TV und allerlei ExpertInnentipps in den verschiedensten Kanälen schwärmen von der Kraft der Kräuter, versprechen Vitalität und den ultimativen Geschmack. Saisonalität, Verfügbarkeit und Ursprung der Kräuter sind hier selten erwähnte Kriterien. Dies nimmt der Slowdude zum Anlass für eine Bestandsaufnahme über unser aller Herbal-Life – sowohl in der Gastronomie als auch in der privaten Küche.

Die 1-KG-Dose mit getrocknetem Majoran von Kotanyi im Regal der Wirtshausküche ist ein wohlbekanntes Bild. Diese hat oft schon Jahre am Buckel und beherbergt eine Mischung aus Kräuterstaub und flugtauglichen Lebewesen. Geschmack kommt da keiner mehr raus. Braucht es auch nicht. Denn der Geschmack kommt aus dem Fleisch – meistens jedenfalls – und so auch die Intention des Kochs oder der Köchin. Hingegen die unzähligen Lederlounge-Nussfurnier-Restaurants, die wie Pilze aus dem Boden schießen (man möge hier dem Slowdude den botanischen Vergleich verzeihen), mit Produkten wie Dry-Aged-Beef oder „Seafood“ im Angebot, bieten beim Großteil der Gerichte eine wahre Kräuteropulenz.

In Zubereitung und Dekoration. Da kommen Gerichte an „Waldmeister“, auf dem „Kräuterbett“ oder mit „grünem Koriandertopping“ auf den Tisch. Die ganz Mutigen machen auch vielleicht noch ein Eis – aus Basilikum – wow. Die gastronomische Mittelmäßigkeit hingegen wandelt in bewährter Weise mit Petersilie und Schnittlauch auf vermeintlich sicheren Pfaden. Doch Wirtshaus, Restaurant oder gastronomisches Tiefparterre eint eine seltsame Unfähigkeit: Kräuter vernünftig auf den Tisch zu bringen. Beispiel: Als liebloses Blatt auf der Zitrone zum Schnitzel, als krause Variante auf den Preiselbeeren, die wiederum auf die Dosenbirne gepatzt wurden, zum Wild oder als getrocknetes Etwas in der Suppe fristet die Petersilie ein armseliges Dasein. Vergeblich sucht man die raffinierte Verwendung in Salaten oder – wie in der nordafrikanischen Küche – als Hauptdarstellerin im Couscous-Salat. Und die Petersilie als Atemfrisch nach dem Essen kennt soundso niemand. Die chilligen Vorstadtrestaurants mit Beef und Hillinger Wein im Angebot haben zwar durch den weltweiten Gastrovertrieb immer Zugriff auf Kräuter, die schon über ein eigenes Vielfliegerkonto verfügen könnten, schaffen es aber auch nicht, die Weitgereisten frisch und adäquat aufs Teller zu packen. Fertig ist fertig – da hilft auch kein Eiswasser. Der Slowdude mäkelt – er weiß es. Aber wo nichts ist, ist nichts. Und weniger wäre mehr.

Im Privaten ist es auch nicht einfach. Die guten Märkte bieten natürlich nur passend zur Saison frische Ware an, das Fensterbrett liefert auch nicht immer das Benötigte und die Supermärkte verkaufen Plastikgebinde mit (Bio)Müll. Frische – zumindest in der kalten Jahreszeit – Fehlanzeige. Hier hilft: Sammeln. Am Wegesrand beim spätherbstlichen Spaziergang noch ein paar Büschel wilden Oregano gepflückt, beim Griff in den fremden Garten ein paar Salbeiblätter stibitzt und beim Besuch in Omas Garten Rosmarin „mitgehen lassen“ und das alles anschließend akkurat getrocknet. So einfach kommt man schon gut über den Winter. Als Tipp vom Slowdude zum Schluss. Ziemlich 80er. Aber ist ja privat und sieht ja keine/r: Sprossen. Selber ziehen. Sprossen vom scharfen Radieschen, von der guten Kresse, von Senfsaat, Rucola oder Bockshornklee sind idealer Ersatz für frische Kräuter im Herbst und Winter. Sprout it out loud!

Spektakulo: Drohnen, Urfahrmarkt, Kunst!

Spektakelgespräch Numero Uno im Cafe Strom: Rückschau Ars Electronica Festival, beziehungsweise Spaxels alias Drohnenshow, mit Intel-Logo am Himmel. Reden darüber, dass das Investment Beachtung fordert, mehr als manchen lieb ist, vielleicht auch der Futurekunst im Futuremuseum nebenan. Eh klar. Kann man sich schon vorstellen, wie das geht: Zuerst nettes Anklopfen und zuletzt der kommerzielle rush in – wir wissen das eh alle alles. Das sind die Bewegungen unserer Zeit, die manche als Problem, andere als Chance bezeichnen. Die Straße der Sehnsucht und der Angst wird am Wegrand mit Staunen und Lobpreisen begleitet. Der unangenehme Rest, der anders nicht zu verarbeiten ist, wird mit guten Absichten kommentiert: So höre ich, an diesem netten Abend im Strom, dass das negative Image von Drohnen in manchen Regionen mit Hilfe von so genannter Drohnenkunst etwas hintan gerückt werden konnte, um Drohnen, quasi mit einem positiveren Image versehen, flächendeckend für Dinge wie Rettungseinsätze verwenden zu können. Ich höre, dass im diesem Zusammenhang die Kunst hier ein Argument war, um positive gesellschaftliche Veränderungen einzuleiten – quasi durch Imageverbesserung einer problematisch wahrgenommenen Überwachungs- und Kriegstechnologie. Ich weiß nicht: Hat nicht sowas wie die Eduscho-Werbung schon letztes Jahr zu Weihnachten mit Sprüchen wie „Für die Kinder Drohnen unterm Weihnachtsbaum“ geworben? Ich halte das Argument hinten an, weil ich nicht imstande bin, das Kaffeeimperium und sein temporäres vorweihnachtliches Drohnengeschäft in einen beisltauglichen englischen Satz zu übersetzen (international talk an diesem Abend). Und sehe kurz vor meinem geistigen Auge eine Drohne inmitten einer familiären Weihnachtsfeier hochsteigen, die abgehackt sprechen kann: „So wahr uns das Christkind helfe!“ Aber gut, zurück zum Thema: Art as an Argument – für Rettungseinsätze. Ich kontere ironisch: But where is the Art? Zumindest kurzes Nicken. Ich erzähle von meiner Beobachtung während einer Eröffnung vor Jahren – Tabakfabrik, ein anderer Spaxels-Drohnenflug: Hier hat sich in einem paradoxen Moment die Situation ergeben, dass, während die Drohen am Himmel zum Sternbild Großer Wagen zusammengesurrt sind, das Publikum ziemlich zu lachen begonnen hat, zumindest in meinem Areal … war wohl ein bisschen zu viel der Hybris. Aber darum geht’s natürlich letzten Endes sowieso nicht. Denn vielmehr geht es an diesem Abend um die Liebe, ist eh viel besser. Der eine erzählt, dass er ungeduldig die Begegnung mit der einen Frau erwartet, die er vor Monaten an einem einzigen Tag kennengelernt hat und mit der er seitdem mehrmals täglich per Handy kommuniziert. Die Begeisterung für die Frau, für ihre überbordende Ausstrahlung und Intelligenz, die um einiges größer sei als seine eigene, sogar unvergleichbar größer, so eine kluge Frau, kommentiert der andere Mann mit einem schlichten „Thats good“. Ich muss lachen. Und gehe. Denn ich bin noch zu einem kleinen nächtlichen Spaziergang übers Urfahrmarktgelände verabredet, mit meiner Freundin. Beide waren wir schon Jahre nicht mehr dort und schauen die glitzernden Fahrgestelle an, wie sie die Menschen in den Himmel drehen. Wir finden, dass es gut ist, dass in Zukunft in den Bierzelten keine politischen Veranstaltungen mehr abgehalten werden dürfen. Wenn das aber nicht mal zu spät ist. Wir beobachten einen Local Artist, der, wie wir scharfsinnig schlussfolgern, wahrscheinlich schon Fotos für die Urfahrmarktausstellung im Frühjahr macht, die wir uns sicher ansehen werden. Also Spektakel Nummer zwei nach der Ars an diesem Abend: der Urfahrmarkt als Stadtgeschichte und Jahrmarktsgeschichte. Als ich dann heimgehe, fällt mir eine Geschichte ein, die mir meine Freundin früher schon erzählt hat. Also, angeblich war es so, dass zu Zeiten, als ihr Vater Kind war, in Kleinmünchen des Öfteren fahrendes Volk unterwegs war, das einen kleinen Jahrmarkt aufgebaut hat. Die Sensation, die den Kindern am meisten gefallen hat, war ein für mehrere Tage etwa zwei Meter tief in der Erde vergrabener Mann, dessen Gesicht man durch ein Rohr betrachten konnte. Ich zweifle ja manchmal daran, dass meine Freundin die Wahrheit sagt oder überhaupt eine reale Person ist. Sie hat so unglaublich viele erzählerische Miniaturen in sich angesammelt. Eine andere Geschichte, die mir später auch noch eingefallen ist und die mich richtig zum Lachen gebracht hat, ist die: Im Rahmen der Ars Electronica, bzw. eigentlich im Rahmen der Stadtwerkstatt-Veranstaltungen zu dieser Zeit, war ein britischer Künstler zugegen, den meine Freundin als Sleaford-Mod-styled-Arbeiterklassekind bezeichnet hat. Er hat sich bei ihr vorgestellt, im weißen Hemd mit den schüchternen Worten: „Hi, I’m Ryan“. Ryan hat dann im Saal der Stadtwerkstatt eine Show abgeliefert, in der man vor lauter Stakkato-Höllensound, Stroboskopinferno und Nebel kaum mehr stehen konnte. Später hat man sich erzählt, dass er nach dieser Nacht am Vormittag volltrunken zur Ars gegangen ist und lauthals gerufen hat: „Where is the Art!“. Er wurde sofort hinausgeworfen. Manchmal habe ich das Gefühl, dass einen von weit unten ständig andere Gesichter anschauen, als die Tagesgesichter, die wir uns gegenseitig präsentieren.