Ich suche den Menschen im Internet für die ernsten Beziehungen.
Ich bin mit einer Frau unterwegs. Sie trägt ein schwarzes Kleid. Plötzlich taumelt sie, krümmt sich, und klappt irgendwie zerhackt nach hinten zusammen. Ich stürze hin und sehe, dass alle stumm hersehen, sie tun aber nichts. Die Frau hat merkwürdigerweise die Hände in ihren Kleidertaschen. Ich greife nach der Hand und eine Energie greift mich plötzlich an, strömt mit einem Ruck in mich. Mein Körper wacht auf. Nach dem rebellischen Traum sitze ich mit einem Kaffee vor meinen Mails. Bitterschwarze Bohne, Computersurren. Spammail: Hallo! Wie geht es Ihnen? Wie ist Ihre Stimmung? Ich will Sie besser kennenlernen. Ich suche den Menschen im Internet für die ernsten Beziehungen. Ich habe ernste Absichten. Ich hoffe, dass du nicht bist der Perverse. Ich hoffe, dass du bist der gute Mann. Weggeklickt. Naja, ich bin auch kein Mann.
Die Tage vergehen. Ich bin unterwegs. Projektbesprechungen vor weltpolitischem Hintergrund. Sich über Zusammenhänge Gedanken machen, die global rein in den Abgrund und lokal raus aus der Scheiße tauchen, soviel Horror. Ich laufe an der Straßenecke meiner Freundin in die Arme. Aus entgegengesetzten Richtungen kommend, starren wir im Laufen gebannt auf einen Fast-Zusammenprall, der an der Ecke passiert ist. Ein Auto bremst beim Fußgängerübergang zusammen, eine Frau ist zurückgesprungen und schreit aus Schock. Sie schreit und schreit. Es ist ganz seltsam. Irreal. Die Leute rundum telefonieren und fotografieren ängstlich. Meine Freundin sagt zu mir: Komm, wir gehen weiter. Ich bin fertig, meine Freundin hat feuchte Augen. Wir gehen zum nächstbesten „Kaffeesieder“, „Brüher“ oder „Röster“? Dort machen wir zu unserer Unterhaltung kleine Zungenbrecher-Wortketten über die Öko-Hipster-Society. Etwa: Dinkel, dunkel, Dünkel. Oder: Neo Bio Biedermeier / Sieder Neo Biobieder. Naja. Das erheitert ein wenig und bestärkt uns später in ein Lokal zu wechseln, das nicht biorhythmusmäßig um 18 Uhr zusperrt. Es ist eines, in dem die Leute nicht nur schick sprachlos, sondern richtig einsam an der Bar hocken. Wir landen in der Wiener Straße. Ich gehe zu einem an der Bar, den ich frage, ob er Feuer hätte. Er hat gutmütige Augen und sagt: „Nehmt ihr das Feuer, ihr seid zu zweit.“ Ich bin ehrlich gerührt und sage, wir kommen lieber gern öfter zu ihm um Feuer zu holen. Er meint freundlich, da könne er „wohl nichts dagegen haben“. Ich würde am liebsten sagen: Ja genau, ich suche auch den Menschen im realen Leben für die ernsten Beziehungen. Aber im Fernseher über der Bar läuft eine Analyse über den Münchner Amoklauf. Meine Freundin und ich reden über den verstörenden Dialog zwischen Amokläufer und Anrainer, bevor die Schießerei in München losging. Der Amokläufer: „Ich bin Deutscher“, der Anrainer vom Balkon des Hochhauses: „Du bist ein Wichser, was machst du da?“ Zusammenkrachende, zusammenklappende Menschen.
Mir fällt der Traum der vergangenen Nacht ein. Stattdessen erzähle ich einen anderen, bereits sehr alten Traum, den ich noch nie erzählt habe. Ich sitze an meinem Schreibtisch und sauge an einem Kugelschreiber. Gleichzeitig glaube ich im Traum zu wissen, dass die Tinte giftig ist. Ich weiß letztlich nicht warum, aber ich sauge am Kugelschreiber, warte darauf krank zu werden, zu sterben. Ich warte im Dunklen, warte noch immer, werde aber nicht krank, sterbe nicht. Es passiert nichts. Nach langer Zeit stellt sich in Ruhe ein Satz ein. Der Satz ist dann verschwunden und taucht viel später in der Erinnerung wieder auf. Der Satz hieß: Wenn ich die Tinte essen kann, dann kann ich auch vom Schreiben leben. Wahrscheinlich könnte man viel dazu sagen – von wegen freudianisch oder sich als Schreiberin Texte aus den Fingern saugen. Aber meine Freundin ist plötzlich sehr erheitert und sagt nochmal: „Wenn ich die Tinte essen kann, dann kann ich auch vom Schreiben leben“. Stimmt, der Satz ist gut. Es ist anscheinend doch noch nicht alles giftig. Sie meint aus ihrer umfassend künstlerisch angelegten Haltung heraus – sie, die Künstlerin – dass dieser Traum, diese ganze Paradoxie nicht weniger als einen „urschöpferischen Akt“ darstelle. Mit großen Augen geht sie den Satz noch einmal im Geiste durch und beginnt wieder zu lachen. Man müsse mit diesem Satz, mit dieser Aussage, mit dieser Bildwendung künstlerisch arbeiten, aus dieser komplett rätselhaften Lebensparadoxie nicht weniger als ein ganzes Kunstprojekt machen, sagt sie. Ich sehe sie an und denke: Leute wie wir haben anscheinend eine tief verwurzelte Gewissheit, dass sich die bösen Dinge aus sich, aus einer urschöpferischen Kreativität heraus, zum Guten transformieren können. Diese Hoffnung haben wir, immerhin. Und ein paar echte Menschen rund um uns, das haben wir auch. Meine Freundin meint: echte Träume, echte Menschen. Wir bleiben dann noch sitzen und basteln existenzialistische Zungenbrecher, just for fun. Mit dem, der uns die Streichhölzer schenken wollte, weil wir mehr sind.