Fahrt doch zur Hölle, ihr Fleißigen!

Ja, das war arschknapp und nein, das Land ist nicht gespalten – ideologisch bedingte binäre Verhältnisse haben ja auch niemanden gestört als es noch nicht blau/grün sondern schwarz/rot hieß, oder? Das knappe Ergebnis für Van der Bellen hat mich keineswegs mit diesem Land versöhnt – immerhin wurde deutlich, dass 50 Prozent einen Mann mit deutschnationalem Bekenntnis als Bundespräsident Österreichs sehen wollen. Pervers irgendwie. So knapp und kurz – so wenig gut. Österreich ist sehr eigenartig, und das mittlerweile nicht mehr nur bei näherer Betrachtung: Wie sonst ist zu erklären, dass eine Partei, die längst und in weiten Teilen des Landes Teil des Establishments ist, bei Wahlen mit dem Kampf gegen das Establishment, also gegen sich selbst reüssiert. Und während Anhänger dieser Partei in sozialen Medien sich für Moderatorinnen, die es wagen ihrer Arbeit nachzugehen – also Fragen zu stellen und Interviews zu führen – wünschen, vergewaltigt zu werden, erschießt ein amtsbekannter Neonazi am Wahlwochenende einige Menschen, ohne dass sich groß jemanden darüber erregt, dass amtsbekannte Neonazis ungehinderten Zugang zu Waffen haben. Ein wirklich eigenartiges Land, wobei einem Land ohne Meerzugang ja grundsätzlich zu misstrauen ist, Binnenländerinnen fehlt einfach die Gewissheit, dass die Sonne jeden Abend im Meer versinkt und die Vorstellungskraft, dass sich am Horizont etwas anderes auftun kann als das, was man kennt. Phantasielosigkeit, Fleiß, Strebsamkeit sind die herausstechenden Merkmale vieler Menschen hier, Drögheit und Langweile die selbstgestrickten Mäntel, die in langen Winternächten wärmen. Ein Land, das zunehmend und nicht erst seit Norbert Hofer (der aber die Verkörperung des Begriffs sehr nahe kommt) den talentfreien Fleißigen gehört. Die talentfreien Fleißigen gehen kein Risiko ein, lassen sich nicht gehen und ihr Lächeln erinnert an unsere Katze, wenn sie mit einer Spitzmaus im Maul in die Küche läuft – das fiepende Geräusch der Spitzmaus inklusive. Die talentfreien Fleißigen sind – naturgemäß – gute Beobachter, können fein auswendig lernen, nehmen auf, was und wie andere es tun. Nehmen Strukturen, adaptieren und kopieren sie. Sie sind gute Mitspieler, teamfähig und keine allzu kritischen Geister. Fühlen sich wohl in Seilschaften, weil dort weder ihr geringes Selbstwertgefühl noch ihr Mangel allzu rasch entdeckt werden würde. Sie sind nicht in erster Linie oder gar nur männlich – das täuscht meiner Meinung nur ob des vermehrten Vorkommens von Männern in Führungspositionen und Männern als politische Kommentatoren, und sie sind auch nicht ausschließlich politisch rechts Stehende – wenngleich die in den letzten Jahren viel daran gearbeitet haben – aus der Not heraus – sich mit den Attributen der talentfreien Fleißigen zu schmücken – ordentlich, ruhig, nach außen gelassen, konservativ und fast bürgerlich – die dreckigen Hooligans, Wutbürgerinnen und einfach nur irren Facebookposter zur Mäßigung und Ordnung rufend – wie es nach der BP-Wahl Hofer und Strache geschickt aber höchst unglaubwürdig taten. Davon abgesehen aber sind die talentfreien Fleißigen auf jeder Seite des politischen Spektrums zu finden. Sie sind ebenso austauschbar wie parteipolitisch in Tarnfarben gehüllt, finden sich auch in den shabbyschicken Hipsterbars, gesellschaftspolitische Gespräche führend, stets darauf vorbereitet, ein Zitat in den Vollbart gegenüber zu brummen. Irgendwann wird die Zeit dieser talentfreien Fleißigen auch wieder zu Ende sein, ganz gewiss – und es werden Begriffe wie „anständig“, „ordentlich“ und „fleißig“ in mir wieder weniger Brechreiz hervorrufen. Ein rauchender Bundespräsident ist sogar für eine Nichtraucherin wie mich ein Anfang. Viel Hoffnung habe ich trotzdem nicht, denn viel zu lange hatten die strammen, talentfreien Fleißigen Zeit, dieses Land mit ihrer langweiligen Dumpfheit zu durchziehen. Die Koffer bleiben erstmal und vorsorglich noch gepackt.

Das Professionelle Publikum*

Die Redaktion bedankt sich herzlich für die Veranstaltungstipps des Professionellen Publikums dieser Ausgabe; namentlich bei: Peter Arlt, Paul Fischnaller, Walther Kohl, Heidelinde Leutgöb, Silke Müller, Harald Renner, Dunja Schneider, Boris Schuld, Gabriele Spindler und Marlies Stöger.

* Das Professionelle Publikum ist eine pro Ausgabe wechselnde Gruppe an Personen aus Kunst und Kultur, die von der Redaktion eingeladen wird, für den jeweiligen Geltungszeitraum Veranstaltungsempfehlungen für unsere Leserinnen und Leser zu geben.

Das Professionelle Publikum

Peter Arlt

© Iris Andraschek

Peter Arlt,
freischaffender Soziologe im öffentlichen Raum: Aktionen, Diskurs, Forschung und Quartiersentwicklung.
Näheres und Weiteres unter: www.peterarlt.at
www.friendsoffranckviertel.at

Tipps:
„Linzer Aufbrüche, 1979–1989“
Nachbarschaftsfest

 

PF_Portrait

Paul Fischnaller,
Betreiber der Galerie Hofkabinett und Musiker in der Linzer Rockband „Die Mollies“.
www.hofkabinett.at
www.diemollies.at

Tipps:
„Das Mysterium des Zeitlichen“
„The International Third Crown Project“, Teil 3

 

© Feuersänger

© Feuersänger

Walter Kohl,
Romanautor und Dramatiker, lebt und arbeitet als freiberuflicher Schriftsteller in Eidenberg bei Linz.

Tipps:
„Out Demons Out!“
„Floating Piers“ von Christo

 

© Matthias Horn

© Matthias Horn

Heidelinde Leutgöb,
Regisseurin und Mitbegründerin von theater@work
Überdies ist sie als Supervisorin und Mediatorin tätig.
Infos: www.heidelindeleutgoeb.at

Tipps:
TERROR von Ferdinand von Schirach
Christoph Columbus Superstar

 

KCCC | Klaipeda Culture Communication Center

KCCC | Klaipeda Culture Communication Center

Silke Müller,
Illustratorin, Grafikerin und freie Rundfunkjournalistin.
Infos: www.popilke.de

Tipps:
„kristallin #33“
Beirut (USA)

 

 

© Nicole Bogendorfer

© Nicole Bogendorfer

Harald Renner
alias „Huckey“ ist Gründungsmitglied der Linzer HipHop-Formation Texta, daneben auch bei Bands wie Merker TV, Huckey & Sam sowie Average & Huckey aktiv, langjährige Tätigkeiten im autonomen Kulturbereich (u. a. Kapu/Linz) als Veranstalter, Booker, DJ, Mitautor von „TextA – Z. Die Texta-Chroniken“ (Milena Verlag 2012).
Infos: www.texta.at

Tipps:
Texta Benefizgig bei der Schlusskundgebung des Umbrellamarches
Neue Zeit-Fest – Open House

 

© Matthias Klos

© Matthias Klos

Dunja Schneider
geb. 1972; Kunstvermittlerin und -historikerin und angehende Theaterpädagogin; seit 2010 Leitung Kunstvermittlung im LENTOS Kunstmuseum Linz und im NORDICO Stadtmuseum Linz.

Tipps:
„Ingeborg Strobl“
„Zirkus Pirandello. Ein Verwirrspiel“

 

© Tobiasz Pniewski

© Tobiasz Pniewski

Boris Schuld,
Ko-Leiter des YOUKI – Festivals und arbeitet im Medien Kultur Haus Wels.
Infos: www.youki.at
www.medienkulturhaus.at

Tipps:
Apokalyptische Sommerfestspiele Wels 3000
Schnipo Schranke & Eloui

 

GS_FotoGabriele Spindler,
Leiterin der Landesgalerie Linz des Oberösterreichischen Landesmuseums.

Tipps:
„VI x VI Positionen zur Zukunft der Fotografie“

„Aus der Sammlung: Landschaft“
„Ingeborg Strobl“ und „Béatrice Dreux“

 

Porträtfoto aus dem Automaten; © Marlies Stöger

Porträtfoto aus dem Automaten; © Marlies Stöger

Marlies Stöger
ist Teil des Künstler*innenkollektivs ekw14,90 und Kunstvermittlerin.
Infos: ekw1490. mur.at

Tipps:
„Der vierte Raum“
„Parallaxe 12“

 

 

Tipps von Die Referentin

Die Referentin

 

 

LUNATIC. Geschichten aus der Wirklichkeit
YOUR SELF IS MORE THAN YOURSELF

Editorial

Dass diese Ausgabe garantiert nicht 100% frauenfrei ist: selbstredend! Worauf sich der Satz am Titel bezieht: besonders am Weltfrauentag 8. März allen klar, die nicht in der oberösterreichischen Landesregierung sitzen! Wir verweisen damit auf das Programm von Feminismus & Krawall, das im Heft zu finden ist und meinen: Hingehen im Namen von Freiheit, Gleichheit und Schwesterlichkeit!
Sonst beginnen wir dieses Heft, wie es sich für ein lokal fokussiertes zeitgenössisches Kunst- und Kulturblatt gehört, mit lokaler Produktion, und das in vielerlei Hinsicht: Der Film Supersummativ rückt nicht nur das Kunstschaffen von 39 Galerie-Maerz assoziierten Menschen ins Zentrum, sondern stammt auch aus der Regiefeder von drei hiesigen Kunstschaffenden: Brandl, Dworschak, Rathmayr. Der Film ist zudem im Rahmen der Local-Artist-Schiene bei Crossing Europe zu sehen. Einem Festival, bei dem traditionell auch künstlerische Produktion gezeigt wird, unter anderem auch eine Dokumentation, die Theresa Gindlstrasser für die Referentin besprochen hat: Das Hotel Obscura von den Fabrikanten. Pamela Neuwirth hat außerdem, und gar nicht local, einen Vorab-Einblick in Helena Třeštíkovás Werk gegeben, Tribute Artist des genannten Festivals.

Ein weiteres Festival, das die Referentin durchzieht: Next Comic. Wir Referentinnen haben uns zum einen Joe Kessler ausgewählt, den wir sozusagen als Artist mit seinen Zeichnungen selbst sprechen lassen wollen – von Titelbild bis Innenseiten. Und zum anderen findet Next Comic außerdem Erwähnung bei Peter Schinks „Raumschiff“, in der Kolumne „lokale Lokale“ der Schwarzen Doktorelle und bei Johannes Staudingers Fahrradiversum, wo wiederum auch Crossing Europe Thema ist. Ja! Irgendwie hängt in dieser Ausgabe alles mit allem zusammen.
Auch Deep Gold von Elisabeth Lacher macht, unter anderem mit dem S.C.U.M. Manifest interessante Bezüge in mehrere Richtungen … hm, war da nicht mal was? Aber abgesehen von diesem behaupteten universalen Zusammenhang und den vielen anderen Beiträgen sind uns die Texte zweier erstmalig für die Referentin schreibende AutorInnen eine besondere Freude. So hat Michael Franz Woels mit Andre Zogholy über das nächste qujOchÖ-Projekt [hu:mmmm] gesprochen. Und andererseits, in einem ganz anderen Feld, und besonders an dieser Stelle hervorgehoben: Es ist uns ein absolutes Vergnügen, die große Autorin Anna Mitgutsch in der Referentin präsentieren zu können. Und ebenso, dass Silvana Steinbacher, eine der bekanntesten Journalistinnen des Bundeslandes das Interview geführt hat.
Was gibt’s sonst noch? Ein paar kleine neue „rubrikale“ Einsprengsel und der Hinweis, dass in Urfahr die Dinge anscheinend auf den Punkt gebracht werden: „Für laiwand gegen oasch“. Man finde und sehe selbst. Vielleicht ist es aufmerksamen LeserInnen außerdem beim Durchblättern aufgefallen, dass nicht nur die Fabrikanten, sondern auch Time’s Up schon einmal in der Referentin gebracht wurden – also „schon wieder“. Genau das aber wollen wir: Immer wieder die guten Sachen featuren! Und als Hinweis an dieser Stelle: Es gibt eine Redaktionsadresse, an die man Informationen schicken kann.

Mit diesem Hinweis empfehlen sich
die Referentinnen Tanja Brandmayr und Olivia Schütz

www.diereferentin.at

Die hellen Seiten der Arbeit

Beate Rathmayr, Claudia Dworschak und Gerhard Brandl zeigen ihren Film SUPERSUMMATIV im Rahmen der Local-Artist-Schiene von Crossing Europe. Ein KünstlerInnenfilm, der das Prädikat unspektakulär verdient.

 

Auch wenn im 45-minütigen Werk SUPERSUMMATIV kurz die Selbstvermarktung zur Sprache kommt, also der Fetisch Arbeit kurz angesprochen wird, geht es nicht um die dunklen Seiten der Kunst – Stichwort Prekariat, Selbstausbeutung, Existenzangst –, sondern um den eigentlichen Schaffensprozess, der im Film zur Aussage kondensiert, nach den eigenen Vorstellungen und Möglichkeiten zu handeln. Beate Rathmayr, selbst Künstlerin und eine der Filme-Macherinnen, zum Ansatz, verschiedene künstlerische Positionen und unterschiedliche Arbeitsansätze abzubilden: „Es gibt keine Eindeutigkeiten, was richtig und was falsch ist. Es geht um Entscheidungen – und die sind hier alle richtig“.

SUPERSUMMATIV, eine Arbeit, die 39 Kunstschaffende ansammelt, um sie nicht nur zu dem zu machen, was das sprichwörtliche „Mehr“ als die Summe seiner einzelnen Teile ist, sondern sozusagen zu einem „Supermehr“ werden lässt, greift dabei auf einen Klassiker des zeitgenössischen Diskurswordings zurück: auf das Kollektiv – und die Frage, wie sich Zusammengehörigkeit in einer Zeit und Sparte, die dem Individualismus geradezu obligatorisch frönt, thematisieren lässt. Wiederum konkreter ist der „Haufen“ von 39 Leuten der allergrößte Teil der Neuzugänge der Galerie Maerz der letzten zehn Jahre. Und interessanterweise haben die drei MacherInnen – ebenfalls Maerzmitglieder – eine filmische Sichtbarmachung gewählt, die herzlich wenig mit den üblichen Darstellungen der klassischen Dokumentation zu tun hat. So werden die Personen selbst visuell größtenteils ausgespart, man sieht sie höchst selten frontal, eher schon in der Ferne oder angeschnitten an einem Platz ihrer Wahl. Ebenso großzügig ausgespart die Werke, wobei diese natürlich auch hin und wieder ins Bild rutschen. Die Stimmen sind nicht zuordenbar, die auditive Ebene des Gedankenstroms zieht sich vermischt geschnitten und als eigenständige Ebene durch den Film – unter anderem angeregt durch die gegebenen Begriffe „Raum“ (als Denkraum) und „Haufen“ (als Frage: Was ist Teil der künstlerischen Position, als erlaubte nicht-strenge Ordnung). Claudia Dworschak zum gewählten Format der 1-minütigen visuellen Selbstdarstellung und zu künstlerischen Referenzen: „Es gibt diese Minutenformate, da sind sicher Bezüge möglich. Aber bei uns geht es im Grunde ums miteinander Produzieren, ums Partizipative, Kollektive.“

Erkenntniswert über Person, Werk und Marktwert schiebt der Film ganz lässig beiseite. Anstelle dessen rückt ein Denk- und Bildstrom ins Zentrum, der minimalistisch nach und nach gezeichnet wird; und die Qualität des Gemeinsamen, aber auch des Unspektakulären, Spontanen mit dem Prädikat besonders wertvoll versieht – und so basaler zwischenmenschlicher Eigenschaften wie Austausch, Interesse, Aufmerksamkeit und Empathie. Damit auch der Ausblick auf einen anderen Film, den Claudia Dworschak als Teil eines anderen Kollektivs derzeit gestaltet und noch fertiggestellt: In Zusammenarbeit mit Flüchtlingen entsteht seit mehreren Monaten ein Film, der nun bei Crossing Europe als Eröffnungsfilm gezeigt wird: „Mein Name ist. Ich bin.“
Crossing Europe: 20.–25. April, Watch out for all Details.

Welcome Wellness, Goodbye Wittgenstein!

Braucht es die Unterscheidung zwischen Kunst und Wissenschaft? Waren Künstler und Künstlerinnen nicht immer schon Wissenschafter? Sollte die Wissenschaft nicht als Kunst betrachtet werden?  Anlässlich des im April stattfindenden Projekts [hu:mmmm] hat Michael Franz Woels den Musiker und Künstler Andre Zogholy von qujOchÖ getroffen.

Foto Clemens Bauder

Foto Clemens Bauder

Andre Zogholy ist einer von zehn „nicht pathologischen Schizos“ der Linzer Initiative für experimentelle Kunst- und Kulturarbeit qujOchÖ, die unter der akronym anmutenden Buchstabenfolge seit der Jahrtausendwende mit thaumaturgischem Gespür mittels „undisziplinierter“ Aktivitäten im Soziotop Kunst und Wissenschaft wildern, befeuert durch eine intensive Auseinandersetzung mit Phänomenen wie Wirtschaftskriminalität, Magnetismus, Wellnesszonen oder Verschwörungstheorien. „Mich interessiert weniger die Beantwortung der Frage, was Artistic Research ist, sondern eher die Frage, wie man das, was wir aus einem Selbstverständnis heraus machen, ausstellen, vermitteln und kuratieren kann“, erklärt der Musiker, Künstler und Kurator Andre Zogholy.

Seit 2004 gibt es die eigene qujOchÖ Betriebsstätte quitch, die man nicht wie das Wort Kitsch, sondern eher wie den ersten Teil des Kompositums Quietschente ausspricht. Die Ateliergemeinschaft ist nahe am Wasser, das bei einem der größeren Projekte heuer eine bedeutende Rolle spielen wird, am Palais Zollamt mit gepflegter, desavouierender NIMBY-Attitüde und noch näher am Fuße des Lentosmuseum gelegen, und im Hinterhof übrigens mit einem verwertungsunlogischen Moorbecken als Anti-Urban-Gardening-Statement ausgerüstet. Zur Zeit besteht das 2001 gegründete, als Kulturverein organisierte Kollektiv aus zehn linzbasierten LöterInnen der Nahtstellen zwischen Kunst, Gesellschaft und Politik und beschreibt sich selbst so: „qujOchÖ agiert an den Schnittstellen von Kunst, Politik, Gesellschaft und Wissenschaft. qujOchÖ ist mannigfaltig, heterogen, untaggable und gänzlich undiszipliniert. qujOchÖ verwendet Alles und Nichts, zeigt, installiert, interveniert, lärmt, baut, diskutiert und verbindet.
qujOchÖ macht alles aus Liebe und Überzeugung.“

Wie die Elemente dieses Artist Statements erlebbar gemacht werden können, daran tüftelt zurzeit das 3-Mann Organisations- und Kuratierungscoreteam Clemens Bauder, Andreas Reichl und Andre Zogholy. Mit dem Ein- und Abtauchen, dem Phänomen der Immersion, beschäftigt sich eines der aktuellen Projekte von qujOchÖ mit dem klingenden Namen [hu:mmmm]. Im Englischen bedeutet „to hum“ soviel wie: Mit der menschlichen Stimme einen Drone erzeugen. Die vier m dienen dazu, dem Wortlogo auch ein hinterfragendes Moment (hmmmm?) zu geben. Mit [hu:mmmm] wird Anfang April die Wellnessoase Hummelhof in Linz mit ambienten Beschallungen, Live-Konzerten, Vorträgen und Installationen künstlerisch verfremdet. Als theoretisches Fundament dient der von dem französischen Philosophen Michel Foucault verwendete Begriff der Heterotopien. In der medizinischen Diagnose versteht man darunter ein disloziertes Gewebe. Michel Foucault entdeckte mithilfe seiner gesellschaftstheoretischen Brille aber auch Heterotopien außerhalb des Körpers, er sprach von „De l’espace autres“, von anderen Räumen, und versuchte in den 1960ern dieses Konzept exemplarisch zu verdeutlichen beziehungsweise systematisch – diese Beschreibung nennt er Heterotopologie – zu fassen.

Als Beispiele dienen Foucault neben dem menschlichen Körper noch das Schiff als Heterotop par excellence, dann das Spiegelbild, die Sauna, Klinken, Gefängnisse, Friedhöfe, Theater, Kinos, Gärten, Museen, Bibliotheken, Feriendörfer, Festwiesen, Motels, Bordelle und auf einer größeren Maßstabsebene Kolonien. Er unterscheidet zwischen Krisen-, Abweichungs-, Illusions- und Kompensationsheterotopien, Heterotopien können zeitlich begrenzt existieren (wie die eintägige Veranstaltung von qujOchÖ im Areal des Hummelhofbads), als auch die individuelle Zeitwahrnehmung beeinflussen (Immersionserlebnisse während dieses Events). „Das Heterotopiekonzept ist sehr abstrakt und in der Rezeption werden die Grundsätze oft wie mathematische Axiome behandelt“, bekennt Andre, der unter dem Label „Auditive Heterotopologien“ die Kunst- und Wissenschafts-Obsessionen „spacial turn“ und „acoustic turn“ experimentell beforscht. Das Hummelhofbad fungiert nun sozusagen als Forschungslabor, die Veranstaltung mit dem Arbeitsuntertitel „Auditive Wellness Heterotopologien“ wird weitere empirische Erkenntnisse zur Funktionalität von Sounds im Spannungsfeld von Selbstgouvernementalität, Architektur und bildender Kunst, Neurologie und experimenteller Physik kondensieren.

Seit Monaten wird intensiv vor Ort und mit der Linz AG zusammengearbeitet. Es werden Impuls-Response-Vermessungen mittels Luftballonzerplatzungen in den unterschiedlichen Räumlichkeiten durchgeführt, und die akustischen Messwerte kommen auch wieder den Bäderbetreibern zugute, denn, so Andre: „Ganz wichtig ist es uns, dass man nicht als Invasor auftritt und die Badegäste, die Bademeister und Arbeiterinnen zwangsbeglückt, sondern sie alle sollen von Anfang an mit ins Boot geholt werden.“ Auch machtanalytische Aspekte à la Foucault sind für das Wellness-Architektur-Klang Forschungsprojekt, das am Samstag, den 9. April auf vier Stimulanzebenen – Kompositionen, Vorträge, Konzerte und Installationen – erfahrbar sein wird, relevant.

Denn so wie die Verordnung von Stille eine Machtgeste darstellt, ist auch „kein Sound unschuldig“. Die Selbst-Gouvernementalität, also die Technik des Sich-Selbstregierens und der Selbst-Optimierung sind ein weiterer programmatischer Eckpfeiler von [hu:mmmm]. Und beim Thema der Selbst-Optimierung ist man dann auch schnell im dampfigen Bereich der Wellnesszonen angelangt: „Diese Wellnesszonen haben ja die Funktion, möglichst schnell einen Erholungseffekt zu erzielen, damit du danach wieder fit bist für deinen Job, deine Projekte, deine Selbstausbeutung und die familiären Verpflichtungen.“

Wie ein ayurvedischer Stirnölguss oder eine Binaural-Beats-Berauschung wirkt wiederum der glänzende Namedropping-Schwall dieser ephemeren Sound-Badeveranstaltung der etwas anderen Art: Es wird Schizophones, Kompositionen von Andreas Kurz, Wolfgang Fuchs, Lena Leblhuber, Christina Nemec, Richard Eigner, We Will Fail, Billy Roisz, Julien Ottavi, Ilpo Väisänen, Sam Auinger, Tanja Brüggemann Stepien, Jeff Bridges (Sleeping Tapes) zu hören geben. Live zu begutachten dann die wasserdichten Acts Fennesz und Abby Lee Tee. Vorträge im Bademantel geben David Toop (Leseempfehlung: Ocean of Sound), Karin Harrasser, Thomas Macho und Badeeventmeister Andre Zogholy himself. Installationen in den diversen, akustisch extrem unterschiedlichen Räumlichkeiten werden unter anderem von Sun Obwegeser, Richard Eigner, Julia Tazreiter, die Faxen, Ingo Randolf, Davide Bevilacqua, sowie dem Kuratierungsteam Bauder-Reichl-Zogholy beigesteuert.

Ein weiteres größeres Projekt von qujOchÖ nennt sich „Goodbye Wittgenstein“, ein Austauschprogramm mit Off-Spaces in Birmingham. Nachdem der österreichische Philosoph Ludwig Wittgenstein in seiner Jugendzeit einige Jahre in Linz verbrachte, lebte er auch eine Zeit lang in Birmingham und ebendort hat er auch die Grundlagen für das posthum erschienene „Notes on Logic“ geschrieben. Ludwig Wittgenstein hatte dort einen Liebhaber, und daher wird die interstädtische Linz-Birmingham-Kooperation einerseits eine Verknüpfung auf diskursiver Ebene, andererseits auf künstlerischer Ebene eine mit dem Themenkomplex gay/queer herstellen. Ende Juli, Anfang August wird qujOchÖ vor Ort in Birmingham sein, Interventionen und Präsentationen stehen am Programm. Im November kommen die Birminghamer dann nach Linz. Darunter auch Mike Johnston von Plone. „Diese ursprünglich als Duo agierende Band war einer meiner Lieblingsacts in den 1990er Jahren, Mike Johnston hat danach Philosophie studiert und sich intensiv mit Wittgenstein auseinandergesetzt“, zeigt sich Andre begeistert über diese Synergie.

Übrigens für alle, die sich fragen, ob beziehungsweise wie man das Wort qujOchÖ ausprechen könnte, hier die Lautschrift: [k’u:jo:xø:]. Und für alle, die es noch nicht wissen beziehungsweise glauben wollen, darunter versteht man das Paarungsverhalten von peruanischen Pfeilgiftfröschen.

 

www.zogholy.net/auditive-heterotopias-brief-outline
www.quer-magazin.at/home/12-2014/291
qujochoe.org/about

Gratwanderungen

Anna Mitgutschs neuer Roman „Die Annäherung“ ist, und damit folgt sie der Tradition ihres bisherigen Werkes, ein komplexes Buch mit vielen unterschiedlichen Facetten. In ihrem zehnten Roman thematisiert die in Linz lebende Autorin viele Bereiche, ohne die Homogenität ihrer Geschichte zu gefährden.

Foto: © Bogenberger/autorenfotos.com

Foto: © Bogenberger/autorenfotos.com

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Es ist ein Buch über die nie geglückte Auseinandersetzung zwischen der Kriegsgeneration und den Nachgeborenen, über das Altern eines Mannes, die Liebe zu seiner Pflegerin und die von Hindernissen begleitete Annäherung der Tochter an ihn, den Vater. Sie möchte nicht nur seine Liebe gewinnen, sie will auch das Leben des wortkargen Mannes kennenlernen, ihn verstehen; verstehen bedeutet für sie auch, sich dem „Loch in seiner Biografie“ zu nähern, die Frage zu klären, ob sich ihr Vater als Wehrmachtsangehöriger schuldig gemacht hat.
Einige Autorinnen und Autoren  – unter anderem Peter Henisch, Christoph Meckel, Martin Pollack, Per Leo – haben bereits die NS-Vergangenheit eines fiktiven oder realen Verwandten in den Mittelpunkt eines literarischen Textes gestellt.
Anna Mitgutschs fiktive Protagonistin Frieda, eine Historikerin, kann trotz ihres beruflichen Wissens das „Loch in der Biografie“ ihres Vaters, nie gänzlich ausfüllen, sondern muss sich begnügen es zu umkreisen. Anna Mitgutsch lässt bisweilen, und das ist eine besondere Qualität des mehrperspektivisch erzählten Romans, die Ereignisse in der Schwebe. Und genau dieser Ansatz reizt auch die Autorin: Sie faszinieren die Leerstellen, das Annähern an Fragen, ohne sie auflösen zu können. Silvana Steinbacher hat sich mit Anna Mitgutsch über ihr beeindruckendes Buch unterhalten.

Die Verbrechen des Nationalsozialismus, die Shoah, Schuld, Erinnern und Vergessen sind immer wiederkehrende Motive in deinem Werk.
Viele Autorinnen und Autoren haben sich bereits literarisch an der Vergangenheit ihrer Väter während der NS-Zeit abgearbeitet. War es für dich herausfordernd dich diesem Sujet literarisch zu nähern?
Das ist mein Lebensthema seit meiner Schulzeit. Wenn man meinen literarischen Werdegang betrachtet, so klingt diese Thematik ja bereits in meinem ersten Roman „Die Züchtigung“ an.
In meinem neuen Roman „Die Annäherung“ steht ein Mann mit über neunzig Jahren im Mittelpunkt, sein Leben umfasst also fast ein Jahrhundert. Über dieses Leben zu schreiben, ohne auf den Nationalsozialismus einzugehen, das geht nicht.

Bei der sogenannten Väterliteratur habe ich eine Veränderung des Ansatzes beobachtet. Der Grundtenor der 68-Literaten war hauptsächlich ein anklagender, jetzt, mehrere Jahrzehnte später wird der Wunsch spürbar die Väter oder Großvätergeneration zu verstehen oder zumindest sich in sie hineinversetzen zu können. Ist das deiner Meinung nach hauptsächlich durch die zeitliche Distanz erklärbar?
Ich kenne die Literatur der jüngeren Generation nicht. Was mich betrifft, bringt wohl das Älterwerden die Einsicht mit sich, dass im Leben Schwarz-Weiß-Zeichnungen selten der Realität entsprechen. Grauschattierungen herauszuarbeiten ist viel reizvoller.

Bei einigen Romanen, die ich zu dieser Thematik gelesen habe, beispielsweise Martin Pollacks „Der Tote im Bunker“ steht die reale Figur des Vaters im Mittelpunkt. Bei dieser Figur gibt es keinen Zweifel an seiner Schuld.
In deinem Roman ist der Ausgangspunkt ein anderer. Die fiktive Figur Frieda kann die Frage der Schuld ihres Vaters nicht klären, kann ihre dringliche Frage nie eindeutig beantworten und muss dieses Faktum schließlich akzeptieren.
Ja, das war mir sehr wichtig. Ich kenne viele Väterbücher meiner Generation, darin werden die Väter entweder als Verbrecher und Monster dargestellt, oder es schimmert dieser Beschwichtigungsgestus durch, sie hätten ohnehin keine nennenswerten Verbrechen begangen. Für mich als Schriftstellerin sind beide Ansätze unbefriedigend, denn solche Eindeutigkeiten gibt es ja nur in den ausgewiesenen Fällen der Kriegsverbrecher. Es existieren ganze Bibliotheken historischer Forschung zur NS-Zeit und zu den Verbrechen der Wehrmacht. Mir geht es um die Spurensuche nach der Wahrheit aus unterschiedlichen Blickwinkeln, der Kriegsgeneration und der Nachgeborenen, der Nachkommen der Opfer und der Täter, und wie sich jedes Mal der Wahrheitsanspruch verändert und die Fakten manchmal zur Unkenntlichkeit uminterpretiert wurden. Erinnerung mit Fakten zur Deckung zu bringen ist ein schwieriges Unterfangen und letztlich unmöglich, denn schon in dem Augenblick, in dem etwas passiert, beginnt die Interpretation, man verändert die Fakten, so wie man sie haben möchte, und glaubt schließlich an diese Version. Erinnern ist immer ein Interpretieren, Auswählen, neu Zusammenstellen, auch das Vergessen gehört dazu, das absichtliche und das unbewusste, um eine Fiktion zu schaffen, die man dann für die Wahrheit hält oder sie dafür ausgibt.

Thema deines neuen Romans „Die Annäherung“ ist nicht nur die Recherche der Tochter nach der NS-Vergangenheit des Vaters, dieses Buch schildert auch sehr eindrücklich das letzte Lebensjahr eines alten Mannes, die Strapazen des Alters, die Liebe des greisen Mannes zu seiner Pflegerin und sehr wesentlich eine komplexe Vater-Tochterbeziehung. Der Versuch ihrer Annäherung führt schließlich zu einer Konkurrenz mit einer jungen Krankenpflegerin, deren Anwesenheit es dem über 90jährigen Mann ermöglicht noch einmal Lebendigkeit und einen Funken Erotik in sich zu spüren.
Er erfährt durch die Zuwendung der jungen Ukrainerin ein letztes Glück. Ich glaube, Glück hat immer auch eine erotische Komponente. Diese junge Pflegerin ist zwar eine bezahlte Pflegekraft, aber sie ist großzügig, sie gibt ihm Zuneigung und Zärtlichkeit, sie hört zu und gibt ihm eine Zuwendung, die über das hinausgeht, was er bezahlen könnte. In der kurzen Zeit, die die junge Frau in seinem Haus ist, kommt sie ihm näher, als ihm seine Tochter jemals gekommen ist. Frieda, die sich ihr Leben lang nach der Liebe ihres Vaters sehnte, erkennt, dass sie mit den falschen Mitteln um sie gekämpft hat. Schließlich gibt sie seiner Bitte auch nach, in die Ukraine zu fahren, um die junge Frau zu ihm zurückzubringen, was ja in der unausgesprochenen Konkurrenzsituation zwischen den beiden auch ein Akt der Selbstverleugnung ist.

Sprechen wir noch über die gegenwärtige Situation, ich beobachte seit einigen Jahren in meiner näheren Umwelt vermehrt offenen Antisemitismus. Antisemitismus habe ich atmosphärisch immer wahrgenommen, aber verschämter, eher hinter vorgehaltener Hand. Aufgefallen ist mir, dass dieser offene Antisemitismus mit teils haarsträubenden Theorien, unter anderem jener die Juden wären schuld oder zumindest mitverantwortlich an der Finanzkrise, untermauert wird. Beobachtest du diese fatale Entwicklung auch?
Diesbezügliche Verschwörungstheorien habe ich schon anlässlich von 9/11 gehört, der Mossad stehe dahinter, hieß es da, auch nach den Anschlägen in Paris, an der Finanzkrise sind angeblich auch die Juden schuld. Der neue Antisemitismus erscheint mir besonders gefährlich, denn er ist ein Zusammenfluss zwischen rechts und links. Da ist zunächst der alte christliche Antisemitismus, der, wenn auch schwach, weiterwirkt, dann der völkische Antisemitismus der Rechten. Sehr deutlich spürbar ist in letzter Zeit der linke Antisemitismus und historisch gesehen relativ neu, doch besonders hemmungslos und gefährlich, der islamistische Antisemitismus, durch den in Europa längst als absurd abgetane Anschuldigungen wie die der angeblichen Ritualmorde wieder hervorgekramt werden.

Fürchtest du die rechten Strömungen, die derzeit verstärkt wahrzunehmen und auch antisemitisch sind, nicht auch?
Der Antisemitismus der Rechten wird vermutlich nicht mehr die Macht und Bösartigkeit entwickeln können, die zur Shoah geführt haben. In dieser Beziehung wird er in der Zukunft eher marginal bleiben.

Marginal?
Ich sehe es so: Geschichte wiederholt sich nicht auf die gleiche Art und Weise, sie wiederholt sich in verschiedenen Erscheinungsformen. Heute tritt der Antisemitismus in veränderter Form auf. Natürlich sind auch die Rechten antisemitisch, aber aus jüdischer Sicht sind sie nicht die größte Gefahr, sie sind für die Gesellschaft als geschichtliches Phänomen wiedererkennbar und daher leichter neutralisierbar.

Kommen wir noch zu deinem Leben als Schriftstellerin, zum Prozess des Schreibens. Was ist für dich reizvoll am literarischen Schaffen?
Mich interessieren Zwischentöne, Gratwanderungen, Leerstellen. Figuren, die nicht auflösbar und ihrer Zeit voraus sind, reizen mich, sich einem Geheimnis zu nähern, ohne es lösen zu können.
In diesem Buch ist es der Balanceakt zwischen Schuld und Schuldlosigkeit, Fragen, die nicht zu beantworten sind, Figuren, die ihre Gefühle nicht zum Ausdruck bringen können, die nicht zueinanderfinden trotz aller Liebe, Menschen, die trotz aller Sehnsucht einsam bleiben.

Diesbezüglich liegst du momentan aber nicht im „Trend“, wie mir scheint. Ich habe den Eindruck, dass bei der erzählenden Literatur zunehmend die Handlungsabläufe erklärt, nachvollziehbar, fast didaktisch aufgefächert werden sollten. Das ist zumindest mein Eindruck. Siehst du das auch so?
Ja absolut, alles muss logisch und didaktisch sein. Menschliche Beziehungen sind aber nicht logisch. Lebenshilfe ist auch nicht Aufgabe der Literatur. Viele Kritiker und Leser legen an Romanfiguren ihre eigenen Maßstäbe an, wie man sich verhalten soll, sie weisen streng Romanfiguren neurotisches Verhalten nach und erklären das Buch für schlecht, wenn die Figuren nicht ihren Idealen entsprechen. Besonders schwachsinnig finde ich die Frage: Was will uns der Autor oder die Autorin sagen? Wenn ich eine Botschaft habe, schreibe ich einen Essay oder eine Stellungnahme. Ich habe keine didaktischen Absichten und will niemanden belehren. Ich gebe dem Leser auch keine Lesehilfen. Als Leserin fasziniert mich Komplexität, das nicht Auflösbare.

 

Anna Mitgutsch „Die Annäherung“
Roman, München (Luchterhand)
Seit 08. März erhältlich

Lesungstermine
30. 03. Alte Schmiede, Wien
31. 03. Stifterhaus Linz
28. 04. Literaturhaus Salzburg
02. 06. Literaturhaus Graz

Windowpane

 

 

Joe Kessler war bereits im Vorfeld einer der ersten Gäste des NEXTCOMIC Festivals.
www.nextcomic.org

 

Der britische Comic Artist stellt während des NEXTCOMIC Festivals mit Alice Socal (I) im Atelierhaus Salzamt aus. Eröffnungsabend im Salzamt im Rahmen von kristallin #31 am 11. März.  www.linz.at/kultur/salzamt.asp

 

Einer von vielen Comic-KünstlerInnen des Festivals NEXTCOMIC, das tout Linz bespielt. Die Referentin hat den Cartoonisten und Art Director von Breakdown Press aus dem Line up ausgewählt.  joe-kessler.tumblr.com

Lust is a Force

Die Lust als höhere Gewalt ist in Julian Rosefeldts filmischer Arbeit Deep Gold noch bis April in der Landesgalerie Linz anzusehen. Die gleichnamige Ausstellung stellt Fragen nach radikal konstruierter Realität – ältere und neuere feministische Referenzen inklusive.

Filmstill aus „Deep Gold“, 2013/14, © Julian Rosefeldt, by Courtesy Barbara Gross Galerie München und ARNDT Berlin / Singapore, VG Bild-Kunst

Filmstill aus „Deep Gold“, 2013/14, © Julian Rosefeldt, by Courtesy Barbara Gross Galerie München und ARNDT Berlin / Singapore, VG Bild-Kunst

Der Protagonist, ein bürgerlicher Mann in schwarzem Anzug, lässt als Frau Holle Federn aus einem Fenster auf die Straße schneien. Bevor er sich aus selbigem Fenster stürzt. Und sich am Boden der Straße wiederfindet: mit geöffneten Augen und gar nicht tot. So der vermeintliche Beginn in Julian Rosefeldts Film Deep Gold. Der den Protagonisten weiter begleitet in einer Art Verlorenheit inmitten surrealer Szenarien wie küssende Selbstmordattentäter, Femen-Aktivistinnen und einem Zeppelin mit der Aufschrift S.C.U.M. Ein radikales feministisches Manifest von Valerie Solanas aus dem Jahr 1968. Das S.C.U.M. Manifesto, das für eine Vernichtung des männlichen Geschlechts durch die Frau plädiert, wurde in dem Jahr veröffentlicht, als die Autorin in der New Yorker Pop-Art-Factory dreimal auf Andy Warhol schoss.

Während in Deep Gold der Protagonist Gaston Modot staunend den Zeppelin beobachtet, stolpert er weiter die Straße entlang und wird in Richtung einer Bar mit der Aufschrift Deep Gold getrieben. Inmitten des burlesken Bühnenszenariums erfährt er, völlig überfordert, unter anderem die Darbietungen einer mit zig Brüsten behängten Peaches und einer, von einem Transvestiten dargestellten Josephine Baker, während um ihn herum ungeniert die Lust und bürgerliche Amoralität gefeiert wird. Doch anstatt in die Feier der Extravaganz und Fleischlichkeit einzutauchen, stellt Gaston der Lust und dem Exzess seine eigene Melancholie und sein Entsetzen gegenüber. Um nach einer kurzen Ohnmacht zurück auf die trostlose Straße zu kehren.

Es gibt kein Entrinnen für ihn. Der postmortale Alptraum des Protagonisten geht weiter, und auch als Zuseher und Zuseherin entkommt man, in einem endlosen Loop des gezeigten Films, dem Gefühl der Tristesse und Ausweglosigkeit nicht. In eine Welt geworfen, die Gaston Modot nichts zu bieten hat, inmitten einer unwirtlichen und unwirklichen Umgebung, nimmt er in scheinbarer Verzweiflung ein Gewehr in die Hand und erschießt einen beliebig ausgewählten Passanten auf offener Straße. Doch auch die Gewalt scheint, genau wie die exzessive Lust, keine Lösung zu sein und verändert nichts. So bleibt der Tote einfach auf der Straße liegen. Das Morden ist hier legitim und ohne Konsequenz. Genauso wie die nackten Spaziergänger auf der Straße. Die Handlungen des Einzelnen bleiben unbeachtet und dadurch unbedeutend.

In einer anderen Szene realisiert der Protagonist, Teil einer schaurigen Inszenierung zu sein. Geht er doch durch ein Tor und befindet sich plötzlich inmitten des Filmsets, in dem sich die Häuser an der Straße als Filmkulisse enttarnen. Dort flickt eine Frau ein Kostüm für die Bühnenauftritte in der Bar Deep Gold, Bierbänke wie ein Dixi-Klo stehen für die Crew bereit. Doch auch die Dekonstruktion des Erlebten und die Aufdeckung der Umgebung als Inszenierung verändert nichts für den verlorenen Gaston. Das Dahinter stellt sich als noch furchtbarer dar als das Davor. Hier arbeitet alles für die Aufrechterhaltung der Szenerie. So taumelt Gaston zurück auf die Straße und landet letztendlich vor dem Schaufenster eines Spielzeugwarengeschäftes. Ein Augenblick kindlicher Geborgenheit in Unschuld, ein nostalgisches Gefühl aus vergangenen Zeiten wird erahnbar. Die Sehnsucht nach Ruhe und Frieden wächst beim Anblick des verschneiten Spielzeugschlosses im Schaufenster. Bis der Blick scheinbar zufällig das im unteren Bereich des Spielzeugladens ausgestellte Modellfahrzeug streift, und wie ein kalter Schauer durchfährt einen die Aufschrift auf dem Spielzeug: Lust is a force. Ein Entkommen gibt es also nicht, auch nicht mit der Lust, die Deep Gold als roter Faden und als gewaltsame Kraft durchzieht. Unentrinnbar bietet sie das anscheinend einzig Lebendige. Doch auch das nur im schillernden Rausch einer 20er-Jahre-Bar, die im selben Maße für Verlorenheit steht wie die trostlose Straße, aus der man sie betritt.

Gedreht wurde Deep Gold 2013/14 vom deutschen Filmkünstler Julian Rosefeldt in den Babelsberger Filmstudios in Berlin. Anlass war eine Einladung Rosefeldts für das Projekt Der Stachel des Skorpions. Ein Cadavreexquis nach Luis Buñuels „L’Âge d’Or“ des Museums Villa Stuck in München und dem Institut Mathildenhöhe Darmstadt. Auf Initiative des Künstlerduos M+M wurden insgesamt sechs filmische Positionen an der Schnittstelle bildende Kunst/Film geschaffen, die Bezug auf Luis Buñuels Filmklassiker „L’Âge d’Or“ aus dem Jahr 1930 nehmen. „L’Âge d’Or“ gilt als einer der zentralen Filme des Surrealismus und unterwanderte in damals skandalösen Bildern das gesellschaftliche Establishment, die bürgerliche Moral und die Wertvorstellungen der katholischen Kirche. Julian Rosefeldt bezieht sich in seiner Arbeit Deep Gold auf das immer wieder getrennte Liebespaar aus „L’Âge d’Or“, das sich seiner Lust nicht hingeben kann. Am Schluss des Films entscheidet sich die Geliebte plötzlich für einen anderen Mann, woraufhin der Liebhaber in rasender Wut den Verstand verliert und Kissen zerstört, um die Federn aus dem Fenster zu werfen. Hier setzt Rosefeldt an und beginnt seine eigene Erzählung. Hier nimmt Deep Gold seinen Anfang und zeigt als erste Aufnahme die Hände eines von Beginn an verlassenen und alleine gelassenen Protagonisten Gaston Modot, die voller Federn sind. Übrigens ist der Name des Protagonisten auch dem Klassiker entlehnt. In „L’Âge d’Or“ spielte der französische Filmschauspieler Gaston Modot die Rolle des Liebhabers.

Rosefeldt eröffnet in Deep Gold ein Szenarium der Konsequenzlosigkeit. Die Bar Deep Gold ist ein Rausch aus Fleischlichkeit, Dekadenz, Feier, Lust, Nacktheit. In einem surrealen (T)raum steht das Schillernde dieser Burlesque-Bar einer tristen Außenwelt gegenüber. Der Protagonist gilt von Anfang an als verloren: Der versuchte Selbstmord gelingt nicht und lässt ihn in einer Umgebung zurück, die auf den Zuschauer, die Zuschauerin zwar wie ein alptraumhaftes Gebilde einer verzerrten Realität wirkt, und dennoch werden auf fast gruselige Art und Weise Bezugsrahmen zu zeitgenössischen Themen der Gesellschaft hergestellt. Nehme man nur den lasziv an einer Straßenmauer lehnenden Mann, der ungeniert romantisch und scheinbar harmlos eine Frau küsst. Unter seiner offenen Jacke ist jedoch deutlich eine angebrachte Bombe mit Zünduhr zu sehen. Nehme man weiters die zahlreichen Anspielungen auf die jüngere Geschichte des Feminismus, mit den Femen-Aktivistinnen auf einer Barrikade im öffentlichen Raum oder der Auftritt der Musikerin Peaches in der Bar. Es bleibt dem Zuschauer, der Zuschauerin nicht erspart, die Verlorenheit und Irritation des Films in die heutige Zeit und das, was uns umgibt, zu übersetzen.

Im Wappensaal der Landesgalerie Linz ist neben Deep Gold auch eine frühere Arbeit des Künstlers zu sehen: Die Fünf-Kanal-Film-Installation American Night. Julian Rosefeldt gehört zu den derzeit gefragtesten zeitgenössischen Filmkünstlern. So ist er bis Juli 2016 mit seinem neuesten Film Manifesto, in dem die australische Schauspielerin Cate Blanchett in verschiedenen Rollen Texte aus Künstlermanifesten des 20. Jahrhunderts vorträgt, auch im Berliner Museum Hamburger Bahnhof in einer Einzelschau zu sehen.

 

Deep Gold läuft noch bis 24. April in der Landesgalerie Linz.

Ausstellungsbezogene Veranstaltung
Der Künstler Julian Rosefeldt wird am Sonntag, den 24. April 2016 um 11.00 h zum Filmgespräch in der Landesgalerie Linz anwesend sein.

Das dunkle Dokuversum …

… der Filmemacherin Helena Třeštíková kommt bald ins Kino: Tschechisches Filmschaffen beim Crossing Europe Filmfestival in Linz. Die Prager Filmemacherin ist heuer Tribute-Stargast. Pamela Neuwirth hat vorab Einblick in vier ihrer Dokumentarfilme genommen – und absichtlich das Ende ausgespart. Es besteht also garantiert kein Spoiler-Alarm für die LeserInnen der Filme-zu-Ende-gesehen-Kino-Vorschau. Ganz im Gegenteil: Es gibt stattdessen persönliche, fragmentarische Bilder zum Film jeweils am Ende.

Renè
(90 Minuten, CZ 2008)

Mit „Liebe Helena“ wird Renè jeden Brief beginnen. „Liebe Helena“ schreibt er weit über eine Dekade an die Filmemacherin, die dieses Leben begleitet, das sich trotz der vordergründigen Verbrecher-Biografie erst langsam entfaltet. Renè ist der große Verlierer ohne doppelten Boden, dessen Geschichte ohne den gesellschaftlichen Hintergrund unverständlich bleibt. Wer ist Renè, außer ein Berufsverbrecher, den er auf den ersten Blick verkörpert? Die klassischen Codes der Gefängnistätowierungen überziehen die Haut, wobei das mächtige „Fuck Off People“ an der Kehle des Helden platziert, nie Code war, sondern immer Ansage ist. Seine Antwort auf die Härten der Justiz, auf die Umbrüche einer Gesellschaft vom Kommunismus in eine kapitalistische Gesellschaft, auf ein Gefüge, indem er relativ wenige Chancen aufgefunden hat. Es war der sprichwörtliche Rand der Gesellschaft, an den man ihn ohne große Wahl und Mittel gestellt hatte. Die Kamera begleitet Renè, der seine kleineren und größeren kriminellen Vergehen in unterschiedlichen Gefängnissen absitzt. Helena Třeštíková zeichnet eine Anatomie der Einsamkeit auf: begleitet seine Prozesse vor Gericht, Gefängniszellen, leere Gänge, die immer gleiche Wiederholung panoptischer Architektur. Als Renè während eines raren Moments in Freiheit mehrere Wohnungen ausraubt, darunter auch die von Třeštíková, brechen nach der schlimmen Episode Kontakt und Langzeitfilmprojekt nicht ab. Und Renè schreibt, wieder: „Liebe Helena“. Und wir erleben, wie aus René Plášil ein Schreibender wird. Es ist ein Schreiben, das aus der Härte kommt. Schreiben am Klo. Dass dieses Schreiben von sentimentalen Melodien der Schlagersängerinnen, die im Staatsfernsehen flimmern, zersetzt wird, verleiht dem Film eine Brüchigkeit, die den Einstieg in die Tiefe seines Leidens und seine Kreativität erlaubt.

Der eiserne Vorhang ist Geschichte, Google wird erfunden, Mobiltelefone kommen auf den Markt, dann war da noch 9/11 und die ersten Facebook-Profile werden ins Internet gestellt. Das tat sich, während René nur wenige, kleine Zeitfenster in Freiheit erlebte.

Marcela
(82 Minuten, CZ 2006)

Ohne das Filmende zu kennen, soll hier verraten werden, dass der Film mit einer schon älteren Marcela eröffnet wird. Sie sitzt im Zug und lässt Stationen ihres Lebens Revue passieren. Reflektiert; und mit Marcelas Erzählstimme kommen die privaten Filmaufnahmen ins Bild, sie sind vom Alter im Farbton schon leicht ocker, eben wie sie der Onkel Konrad auch aufgenommen hätte bei den Familienfeiern. Festgehalten werden die fröhlichen Rituale der Hochzeit von Marcela und Jiri. Das erste Kind. Sonnige Tage an der Trabrennbahn. Marcela und Jiri, das vermählte Paar bespricht vor der Kamera ihre Probleme mit dem Wohnen, wo die Jungen sehr lange bei den Alten wohnen bleiben, wo sich die Parteien eines Wohnblocks für gewöhnlich die Toiletten teilen. Schlaglichter in das sozialistische bürokratische System. Die Kamera bleibt bei Marcela, als diese sich von Jiri trennt. Wieder Schlaglichter auf die Beengtheit der Wohnsituation. Unterbrochen dann nur vom harten Klang der Bürokratie, wenn das Gericht die Scheidung von Marcela und Jiri mit lauten Tastenschlägen protokolliert. Gefolgt vom harten Klang des Protokolls, wenn beide vor Gericht um das Sorgerecht des Kindes streiten. Die Sozialreportage tritt spätestens hier deutlich zu Tage. Marcela übersteht einen längeren Krankenhausaufenthalt. Sie nimmt eine Stelle bei der Post an. Und sie verlässt immer seltener die Wohnung, auf die sie jahrelang gewartet hat. Marcela verfällt phasenweise in Agonie – aber da ist noch das Kind. Als die Kamera Marcela und Jiri später beim gemeinsamen Gespräch am Küchentisch filmt, geht es hin und her, wie beim Tennis, wenn das geschiedene Paar die Ursachen seines Scheiterns erörtert. Wo Marcela ein etwas resigniertes „Like we used to say: It’s fate, isn’t it?“ in den Raum stellt. Wir haben uns, wie erwähnt, das Filmende für das Crossing Europe Filmfestival aufgespart. Der Film lief schon längst im tschechischen Staatsfernsehen.

Die Sozialreportage erzählt von Vogerl-Tanz, Erwachsenwerden und den Fallstricken des sozialistisch organisierten Wohnmodelles.

Mallory
(90 Minuten, CZ 2015)

Mallory ist eine Expertin, die Spezialistin der Straße. Dort, auf der Straße, wird sie einmal nachts auf der Brücke einen berühmten tschechischen Schauspieler treffen mit dem sie stundenlang durch den Regen wandert. Er ist es, dem sie nach einer langen Zeit einen Brief schreiben wird. Sie erzählt ihm, wie wichtig ihr zufälliges Treffen, damals in dieser einen Nacht war, wo sie – Mallory – den Tiefpunkt erreicht hatte. Sie wird nicht enden wie viele ihrer Gefährten, deren Grab sie besuchen wird, die Ex-Drummer in Metal-Bands, die Männer, denen sie nachweint (und die das wirklich nicht verdient haben). Helena Třeštíková begleitet auch dieses Leben über viele Jahre, dokumentiert das Leben Mallorys auf der Straße, wie sie im Autowrack wohnt, zeichnet die zahlreichen Versuche vom Heroin wegzukommen auf. Mallory fällt nicht noch tiefer, sondern findet im bürokratischen Labyrinth von Sozialhilfe und Arbeitsamt ihren Weg, obwohl sie dort wie alle anderen eine Nummer ist und hören wird, dass sie mit 40 Jahren zu alt ist. Dann drückt sie wieder die Schulbank, es sind bizarre Szenen, wenn Mallory in anderen Worten lernt, was sie längst weiß. Vor dem Hintergrund des Protests der Subkulturen der späten 1980er Jahre in der zusammenbrechenden Tschechoslowakei, entspinnt Třeštíková ein Kaleidoskop der Straße.

Mallory ist ein Name, der wie eine Melodie klingt. Diese tönt zwar im Leben der Heldin durchwegs dissonant, wird sich aber mit ihr doch immer für Momente in die Lüfte erheben.

Katka
(90 Minuten, CZ 2010)

Was Tereza einmal über Katka denken wird, wissen wir nicht. Aber wir wissen, es war Katkas Traum ein Kind zu haben und selbst Mutter zu sein. Es ist ein großer Traum, der zwischen Kingdom Heroin, den Entzugskliniken und den bewohnten Abrisshäusern und verlassenen Zuggleisen Wirklichkeit wird und wenig überraschend zum Alptraum gerät. Die Kamera trifft Katka schon als Teenager, da schreibt sie noch, weil sie über ihre Kindheit nicht reden will. Sie geht als junge Frau nach Prag. Jeder neue Schuss bedeutet ein lebensgefährliches Risiko und trotzdem bleibt sie dabei, kommt mit ihren Männern Ladis und Roman von den Drogen nicht los. Am Anfang sind es noch kleine Diebestouren in der Stadt, das ist ein richtiger Brotberuf fürs Heroin, werktags 9 to 5. Als Teile der Reportage über Katka einmal im tschechischen Fernsehen zu sehen sind, wird sie danach auf der Straße erkannt; ihr selbst scheint zu dem Zeitpunkt bereits längst alles entglitten zu sein. Es folgt später dann doch noch der Weg in die Prostitution, um den cold turkey unter allen Umständen zu vermeiden. Hepatitis A und B werden bei ihr getestet. Auch ihre vielen Versuche in Ämtern doch noch irgendeine Chance zu bekommen, scheitern. Es sind ihre angestrengten Einsätze für einen Plan, der Katka selbst unbekannt ist. Katka träumt mit 25 Jahren ihren Traum, der hört ja nie auf, sagt sie der Kamera.

Im Laufe der Jahre sehen wir wieder und wieder Katkas schönes Gesicht in Spiegeln, die immer kleiner, brüchiger und zersprungener werden. 

Egalitäre Tafel, reinen Tisch machen

Nach der Vorlage von Marlene Streeruwitz „Das wird mir alles nicht passieren … Wie bleibe ich FeministIn“ wird im Mai im Posthof das gleichnamige Stück von theaternyx* gezeigt. Ein Vorgeschmack auf die Inszenierung – beziehungsweise: Claudia Seigmann im Interview über den Geschmack der postdramatischen Drastik in unser aller Leben.

Bild: theaternyx*

Bild: theaternyx*

Wie der zugrunde liegende und titelgebende Text von Marlene Streeruwitz behandelt das neue Stück von theaternyx* Lebensentwürfe und Biographien zwischen Anpassung und Autonomie. In jeder Biographie werden andere Schranken der Unfreiheit berührt. Das Projekt befragt jenseits dogmatischer Festlegungen die Möglichkeiten von Emanzipation, siedelt es geradezu egalitär in einer Situation der Einladung oder des gemeinsamen Essens und Trinkens an. Mit Claudia Seigmann arbeitet Claudia Dworschak an der Inszenierung, die die vorgestellten Fragen zwischen Selbstbestimmung und Ernüchterung auf unser aller Leben erweitern möchte.

Eine erste Frage zum bekannten, auch von nyx verwendeten Dohnal-Zitat: „Die Vision des Feminismus ist nicht eine ‚weibliche Zukunft‘. Es ist eine menschliche Zukunft. Ohne Rollenzwänge, ohne Macht- und Gewaltverhältnisse, ohne Männerbündelei und Weiblichkeitswahn“. Vielleicht ein paar Worte zum abgelehnten Weiblichkeitswahn oder auch im Sinne: „Feminism is for everybody?“
Es geht eben nicht um eine spezielle Art von Weiblichkeit, sondern um den emanzipatorischen Kern in all unseren Biographien. Die Erzählungen betreffen beide Geschlechter. Es geht um den emanzipatorischen Motor und um Fragestellungen, um die Zwänge in der Gesellschaft, in der wir leben, um die Frage, wie sich die Lebensentwürfe ausgehen. Auch im Buch von Marlene Streeruwitz geht es sozusagen querbeet, um die Geschichten von Frauen wie Männern, Alt-ÖsterreicherInnen und Neo-Österreichern. Es geht für alle um Abhängigkeiten und Zwänge, der Motor ist immer ein emanzipatorischer. Und die Frage ist: Wie geht sich ein gutes Leben aus? Es geht um Selbstbestimmtheit und Empowerment, ohne einen Preis zu bezahlen, der zu hoch ist. Dies betrifft zwar mit ihrem beruflichen Alltag oder der Kindererziehung wiederum mehr Frauen als Männer – aber auch den türkischstämmigen, jungen Mann, der in Buch und Stück vorkommt. Auch für ihn geht es um so viel Autonomie wie möglich. Oder das andere Beispiel eine Geschichte einer jungen Frau, die ihr gesamtes Erbe in ein Lokal steckt, was ein hoher Einsatz ist, ein Wagnis. Wir kennen ja alle diese Geschichten. Speziell bei diesem Beispiel geht es sich aber nicht aus, mit dem Lokal ist das Erbe weg, natürlich war die junge Frau nicht bei sich angestellt, und am Ende stellt sie sich die Frage: Heirate ich nun doch und bekomme ich Kinder? Eine Frage, die für sie noch offen steht, diese Rolle steht manchen noch zur Verfügung. Also: Es geht um Autonomie und Abhängigkeit. Und es geht um eine Erweiterung auf unser aller Biographie. Bei Marlene Streeruwitz wird da so scharf beobachtet, dass man auf eigene Erfahrungen rückschließen kann. Das ist das Besondere. Und dann entstehen die Fragen, auf die es keine schnellen Antworten gibt.

Die angesprochenen Zwänge entbehren nicht einer gewissen Drastik?
Die Drastik bindet an die eigene Biographie an. Mit dem Stück „eine einfache geschichte“ habe ich letztes Jahr etwa Teile meiner eigenen Geschichte verarbeitet, als Tochter meiner eigenen Mutter. Es ging um Alleinerzieherinnenschaft, ein Mütter- und Frauenbild der 60er und 70er Jahre, es ging und geht immer noch um ein permanent schlechtes Gewissen. Darüber hinaus geht es im neuen Projekt um ungleiche Bezahlung, Altersarmut und andere Fragen nach Selbstbestimmung, die nicht leicht zu beantworten sind. Die Realität ist drastisch. Von solchen Bildern handelt unter anderem auch die Lentos-Schau Rabenmütter.

Der Titel „Das wird mir alles nicht passieren … Wie bleibe ich FeministIn“ trägt den Faktor Zeit in sich. Handelt es sich bei diesen Ernüchterungen um ein persönliches Älterwerden oder um eine Gesellschaft, die die Frage „Wie bleibe ich FeministIn“ neu stellen muss, weil sie wieder konservativ und restriktiv geworden ist?
Die Gesellschaft ist grundsätzlich so angelegt, dass es keine einfachen Antworten geben kann. Auch hier muss man weiter aufmachen, weg vom Stück, auf unser aller Leben. Und man kann dann nur sagen, dass die Antworten außerhalb unseres aktuellen Gesellschaftsmodells liegen, Backlash und Konservativismus hin oder her. Die Voraussetzungen sind so verschieden, was etwa nur Fragen von Karriere oder Kinderbetreuung anbelangt, dass von nichts selbstverständlich ausgegangen werden kann. Würde es eine Grundversorgung geben, die den Kampf ums eigentliche Überleben entschärfen würde, die Fragen der Miete, oder der Butter aufs Brot, dann wäre es anders. Würde es Optionen dazu geben. Es ist die Frage, wie utopisch eine Grundversorgung tatsächlich ist, wenn zunehmend die Technologie die Arbeit erledigt, oder eine gewisse Schicht immer reicher und reicher wird. Es werden ja Gewinne gemacht, die nur nicht umverteilt werden. Das ist die eigentliche Empörung: Sie liegt darin, dass nichts selbstverständlich ist, was die Beseitigung der Ungleichgewichte anbelangt, dass man immer noch, immer wieder, noch mehr mit diesen Ungleichgewichten konfrontiert ist.

Zum Stück selbst. Es handelt sich um ausgewählte Biographien von Frauen und Männern. Wie in der Vorlage sind diese Biographien voller Brüche, etwas funktioniert nicht. Die Geschichten scheinen, auch wegen ihres fehlenden Dogmatismus, an einem Weitererzählen interessiert. Du hast nun im Vorgespräch erwähnt, und auch vorhin ist das kurz angeklungen, dass du, wenn du die Geschichten auf der Bühne weitererzählen hättest sollen, eine neue, ganz andere Welt erfinden hättest müssen. Dennoch ist ein Stück immer auch eine Weiterführung der Thematik eines Buches und damit stelle ich dir auch die Frage nach der persönlichen Intention, bzw. auch die Frage danach, was theaternyx* dem Buch hinzufügt?
Ja, mit einer tatsächlichen Weitererzählung hätte ich, mehr oder weniger, eine neue Welt erfinden müssen. Es ist also keine Weitererzählung. Beim Stück handelt es sich um eine Uraufführung des Buches von Marlene Streeruwitz. Es handelt sich dabei um Themen, die mich auch betreffen. Es gab ein langes Hinfühlen zu Marlene Streeruwitz’ Werk, ein Hinfühlen, das so eine Art künstlerischen Prozess überhaupt ermöglicht, und einen entsprechenden Dialog mit Marlene Streeruwitz zuvor. Die Thematik passt für theaternyx* gut, weil nyx viel in Richtung soziale Skulptur und Öffnung in andere Bühnenformate arbeitet – mit dem dahinterliegenden Anliegen: Wie bekommt man Menschen in einen anderen Kontakt als über die herkömmliche Weise der Unterteilung in Agierende und Publikum? Wie kann man ZuseherInnen anders ins Geschehen hereinholen? Es geht sicher einerseits um Inhalte, hier bedeutet das eben, dass wir alle Biographien dieser Art haben – wo es um den Preis für Autonomie geht. Andererseits geht es aber auch um eine andere Form des Erzählens. Mit einem anderen Format gebe ich also eine andere Form hinzu – dass wir alle auf einer Ebene sind und neben den performten Biographien auch mit der eigenen Lebensgeschichte anwesend sind.

Das Bildsujet, das bereits existiert, erinnert an eine Tafel. Kann gesagt werden, dass es sich sozusagen um eine egalitäre Situation handelt, eine Tafel, an der alle mit ähnlichen Biographien Platz nehmen? Und an der dann mit der Aussage „Das wird mir alles nicht passieren“ reiner Tisch gemacht wird?
Ja genau, das ist gut zusammengefasst.

Was bedeutet diese egalitärere Situation nun hinsichtlich dessen, dass das Publikum mit seinen Biographien anwesend sein soll?
Man hat die Biographie ja eh immer dabei. Es ist aber schön, wenn es gelingt, ein Erleben möglich zu machen, wenn das Stück mit dem Publikum und dessen Biographie in Beziehung treten kann, mit jeder, mit jedem Einzelnen. Dazu wird es eine Einladung geben. Verfahren der Einladung, die konkret Entscheidungen, Fragestellungen bedeuten, die alle darauf abzielen, Stück, Akteure, Situation und Publikum miteinander in Beziehung zu bringen. Wir hatten das früher auch schon etwa bei unserer Produktion „wer bin ich?“, wo es um Linz und LinzerInnen ging (Anm: in vier Teilen, zuletzt im Nordico, 2012). Wir suchen nun mit diesem Stück korrespondierende Grundatmosphären und Gesten. Und wir laden ja auch zum gemeinsamen Essen ein, das bringt Zeit zum Austausch und zum Anknüpfen an die eigene Geschichte.

Wer ist eigentlich „wir“ bei nyx – generell und speziell hier?
nyx sind im Normalfall Markus Zett und ich. Im speziellen Fall dieses Stücks entwickelt Claudia Dworschak Inszenierung und Konzept des Stücks mit. Claudia Dworschak ist unter anderem Videokünstlerin und Performerin bei den Freundinnen der Kunst.

Zurück zur Form, zum Theaterverständnis von nyx, das ich mal ganz salopp als völlig spektakelfrei benennen möchte – ein Theater jenseits des Schnürboden- und Effektzaubers.
nyx arbeitet oft an Grenzbereichen, genreübergreifend, sucht andere Formen, ist an sozialen Skulpturen interessiert. Auch das Verlassen des herkömmlichen Theaterraums war jahrelang Programm, was ganz andere Aufmerksamkeiten und Wahrnehmungen erzeugt, zum Beispiel bei „Dunkle Geschäfte“ (Anm: Spielraum war der Welser Innenstadtraum, 2011). Der Blick verändert sich durch andere Formen. Auch beim neuen Stück liegt unser Interesse fern der Theatertrickkiste. Es geht um subtile Erfahrungen. Der Mensch, der fiktive Geschichten erzählt, wird anders sichtbar, er erzählt eine drastische Geschichte, aber undramatisch. Für die beteiligten Performerinnen ist es zudem ungewöhnlich und fordernd, wenn es keine Rollen gibt, die Schutz bieten. Die Performerinnen verstecken sich nicht hinter einer Rolle, sondern erzählen, so wie das eben bei Tisch passiert, Lebensgeschichten von anderen. Dadurch, dass sie nicht in eine Rolle schlüpfen, stellen sich die Fragen nach Repräsentation und Identität anders: Welcher Teil der fiktiven Biografie könnte nahe am gelebten Leben der Erzählerin liegen? Welcher Teil der Erfindung hat Entsprechungen im eigenen Leben der Zuhörenden? Auch wenn hier drastische Geschichten erzählt werden, geschieht das in der Form sehr undramatisch, als Tischgespräch. Und ich frage mich in der Arbeit gerade, was das anstoßen kann, welche Grundstimmung es dafür braucht. Es stellt sich die Frage eines bestimmten Geschmacks dieses Stückes.

Die Texte sind nicht festgeschrieben?
Das versuchen wir in der Probenarbeit gerade zu bestimmen, wie viel Freiheit es mit den Erzählungen braucht und welche Interaktionen mit den Zuhörenden möglich sind.

Du hast eben gesagt, dass die PerformerInnen eine drastische Geschichte erzählen, aber undramatisch. Damit die Abschlussfrage zu eurer Version des postdramatischen Theaters: Wenn das Drama nicht mehr dramatisch ist, was entsteht dann?
Für mich persönlich eine andere Form der Berührung, eine andere Form des Angesprochenseins. Eine bestimmte Form des Platzlassens holt mich mehr in ein Stück. Und es bringt mehr inspirierende und kreative Erlebnisse.

Aufführungen: Das wird mir alles nicht passieren … Wie bleibe ich FeministIn,
Posthof, am 18., 20., 21. und 22. Mai
theaternyx.at

Claudia Seigmann ist außerdem in dieser Ausgabe Teil des professionellen Publikums – siehe Professionelles Publikum.