Digitale Selbstverteidigung

Maßnahmen, Verordnungen, Gesetze – während der Pandemie wurde unweigerlich in unser Leben einge­griffen. Was wird davon bleiben? Daniel Lohninger ist in der Grundrechtsorganisation epicenter.works Ansprechpartner für Datenschutz im Bildungsbereich. Verstärkte Überwachung seit Beginn von Corona sieht er nicht. Aber da sich unser Leben immer mehr ins Digitale verlagert, plädiert Lohninger für Bildung und digitale Selbstverteidigung.

Herr Lohninger, soviel ich weiß, wurde in einigen Ländern nach Krisen oder Katastrophen die Überwachung unter dem Argument der Sicherheit verstärkt, zumindest von 9/11 ist es mir bekannt. Waren seit Beginn der Pandemie auch in unseren Breiten Veränderungen feststellbar?
Nein, nicht direkt. Einschränkend muss ich sagen, dass zu Beginn einiges in Bezug auf die Grundrechte von der Regierung schlecht geplant war. Wir waren aber gut im Dialog mit den Verantwortlichen, trotzdem gab es Pläne, die verhindert werden mussten und gefährlich geworden wären.
Zumindest in Europa hat der Datenschutz während der Pandemie, dank der Zivilgesellschaft, funktioniert. Gottseidank sind wir nicht mit Diktaturen zu vergleichen, bei denen Überwachungsmaßnahmen leicht umsetzbar sind, wenn ich beispielsweise an China oder Nordkorea denke. In Israel etwa sind die Überwachungsmaßnahmen aus Antiterrorgesetzen auf die Covid-Maßnahmen ausgeweitet worden.

Inwiefern hat epicenter.works mit der Regierung zusammengearbeitet?
Wir waren bei der Stopp Corona App in den Prozess eingebunden. Bei der Stopp Corona App und dem Grünen Pass beispielsweise war ein Digitalspeicher geplant, der angezeigt hätte, wo ich mich bewege. Das ist hinsichtlich des Datenschutzes gefährlich, wenn man solche Daten zentral vorliegen hat. Wir sind der Meinung, der Code sollte, wenn er mit öffentlichen Geldern finanziert wird, öffentlich gemacht werden, damit man überprüfen kann, was die Software tut. In der neuen Version blieben die Nutzer:innen anonym.

Epicenter.works hatte bei der Stopp Corona App, soviel ich weiß, letztendlich keine Einwände.
Nein, die Stopp Corona App war, so wie sie letztlich umgesetzt wurde, absolut in Ordnung, vor allem, weil die Geräte nur eine Nummer ausgetauscht haben. Nur wenn jemand positiv war, hat die App diese Nummer, die nicht einer Person zuordenbar war, an einen Server geschickt, und es wurden alle anderen Personen, die es betrifft, gewarnt. Öffentliche Ämter sind nicht dazwischengeschaltet worden und es lagen auch gar keine Daten zentral vor.

Während einer Notsituation wie einer Pandemie bleibt oft kaum Zeit dazu, den rechtlichen, demokratischen Rahmen zu prüfen. Wurden in Österreich bisher Grundrechte überschritten?
Nein, im Endeffekt nicht. Wenn man in Betracht zieht, wie man die Gesetze geändert hat, ist nichts Gravierendes beschlossen worden, dessen Umsetzung Schaden angerichtet hätte. Es gab Datenpannen, aber nichts, wovon man sagen könnte, das war ein Dammbruch, eine Verschlechterung beim Datenschutz.
Oft wurden sehr schnell Gesetze beschlossen, umgekehrt war aber auch zu beobachten, dass man versucht hat, einen möglichst breiten Konsens herzustellen.

Der Datenschutz im Bildungsbereich ist bei epicenter.works vor allem Ihre Aufgabe. Worum geht es Ihnen in erster Linie, was möchten Sie vermitteln?
Mir geht es darum, digitale Selbstverteidigung zu vermitteln. Wichtig ist Bewusstseinsbildung, zu wissen, welche Möglichkeiten, welche potenziellen Gefahren muss ich kennen, wovor, vor wem und wie muss ich mich schützen? Man kann sich mit wenigen Handgriffen, die man relativ schnell installieren kann, absichern. Das Ausschalten von Cookies ist über die Einstellungen des Browsers möglich. Auch Werbung lässt sich blockieren. Wir wollen vermitteln, dass es auch in der Entscheidung der Nutzer:innen liegt, wie sie sich schützen.

Bieten Sie Einzelberatungen an, wenn jemand ein individuelles Problem oder den Verdacht einer Überwachung hat?
Einzelberatungen machen wir nicht, aber wir bieten Schulungen und Trainings an, erarbeiten E-Learnings. Wir leisten Angebote für unterschiedliche Interessenten, Schulen, Firmen, Journalist:innen, Gewerkschaften, wir wenden uns an die Pädagogischen Hochschulen, an Universitäten, um einige zu nennen.

Sind generell gesehen die meisten Menschen zu wenig darüber informiert, wie sie sich schützen können?
Ja, und das ist durchaus nachvollziehbar, denn die Digitalisierung hat noch stärkere Veränderungen, als dies im Buchdruck der Fall war, mit sich gebracht. Es ist ein kultureller Wandel, in dem wir uns noch befinden. Teils kommt die Gesellschaft selbst nicht mit dem Tempo mit, manche Menschen werden immer noch völlig ausgeschlossen. Wir müssen diese Menschen abholen, verfügen aber noch nicht über alle Strategien, wie wir das realisieren können. Auch hier steht Bildung an oberster Stelle.

Sie haben bereits die diktatorischen Methoden angesprochen. Die Situation, wie wir sie derzeit etwa von Shanghai medial überliefert bekommen, gleicht einem Alptraum. Offensichtlich ist das Modell aber nicht erfolgreich, wenn ich an China zur Jahreswende 2019/20 denke, als das Virus entdeckt wurde und wo, wie jetzt, rigoros und teils brutal vorgegangen wurde.
In Diktaturen wird bei solchen Maßnahmen oft politischer Aktionismus praktiziert, unabhängig davon, ob diese Maßnahmen einen Sinn ergeben. Wir von epicenter.works können nicht einschätzen, ob die Einschränkungen, ob die Stopp Corona App sinnvoll waren. Wir beurteilen das nicht, unsere Aufgabe besteht einzig in der Frage der Überwachung und in der digitalen Sicherheit.

Können Sie kurz auf den Begriff Algorithmus im Zusammenhang mit Überwachung eingehen?
Ein Algorithmus ist eigentlich nichts anderes als eine Handlungsanweisung, er gibt Schritte vor. Offline könnte das ein Kochrezept sein, eine Abfolge von Handlungsanweisungen. Es ist eigentlich simpel, die zentrale Frage lautet aber, wofür wird er verwendet? In China gibt es ein Bewertungssystem, durch das ich, als Beispiel, kein Hotel oder kein Mietauto mehr bekomme, wenn mein Kontostand bzw. Punkte-Level zu niedrig ist. Es ist ein großes Problem, wenn der Computer über Menschen entscheidet. Die Firma Amazon wiederum bietet ihren Mitarbeiter:innen Boni, was nicht negativ klingt. Andererseits erfasst ein Algorithmus aber auch jene, die nach Meinung von Amazon nicht schnell oder gut genug gearbeitet haben, und die werden gekündigt.

Kommen wir zu Corona zurück. Ein anderes Kapitel während einer der Phasen der Pandemie war die Gastroregistrierung. Mich hat sie beruhigt, weil ich im Caféhaus oder Restaurant in Gesellschaft geimpfter oder genesener Gäste mit Freunden essen gehen konnte, und es hat mich nicht gestört, dass wer auch immer wusste, dass ich wann auch immer im Restaurant Sowieso sitze. Hatten Sie als Experte dieses Thema am Tisch, um im Gastrojargon zu bleiben?
Ja, zum Teil schon, aber kleinteilig, Thema waren eher Firmen, die diese Registrierung angeboten haben, bei denen gab es große Unterschiede. Manchmal haben die Firmen die Daten weiterverarbeitet. Das Leben hat sich während der Pandemie insgesamt, wie wir wissen, noch mehr ins Digitale verschoben, und das teils mit schlechtem Datenschutz.
Als Arbeitgeber kann ich sehen, wie viele Mails schreiben meine Mitarbeiter:innen, wie produktiv sind sie, Arbeitgeber können Funktionen aktivieren, die unter anderem die Produktivität überwachen. Auch hier lässt sich mit Aufklärung und Gegenstrategien einiges bewirken, ich muss wissen, dass ich mich schützen kann. Digitale Souveränität ist, wenn die Menschen sich bewusst sind, und Möglichkeiten kennen, um gegenzusteuern.

Ein wesentlicher Punkt, der sich verstärkt hat und wahrscheinlich auch teilweise bleiben wird, ist der Bereich des Homeoffice. Kann dabei der Arbeitgeber mich und meine Privatsphäre überwachen?
Ja, das kann er, prinzipiell könnte dies das Grundrecht auf Privatsphäre verletzen. Im Privatbereich zu filmen ist überschießend. Es gibt dabei regelmäßige Aufnahmen mit Videokameras, Zoomkonferenzen sind problematisch. Nicht alles, was von Arbeitgebern hier forciert wird, ist erlaubt. Auch hier kann ich mir Wissen aneignen, wie ich mich auf diesem Gebiet schützen kann.

Wie wird es für Sie weitergehen?
Wir dachten zu Beginn der Pandemie, jetzt werden wir weniger zu tun haben, weil es um Gesundheitsbereiche geht. Aber wir hatten mehr zu tun, weil sich teilweise das Leben vieler ins Digitale verlagert hat. Die Datensicherheit dabei hat uns sehr beschäftigt. Aber auch in Zukunft wird unsere Arbeit nicht abnehmen. Wir stehen mitten in oder vor einer Klimakatastrophe, und in jedem Lebensbereich wird immer mehr digitalisiert, Algorithmen werden immer mehr eingesetzt. Deswegen bin ich froh, dass wir es geschafft haben, die Fragen der Datensicherheit in der Pandemie zu lösen, was unsere Arbeit betrifft, ist das aber sicher nicht das letzte Mal. Es stellt sich auch künftig die Frage, welche Technik können wir mitnehmen, ohne dass wir unsere Grundrechte aufgeben müssen.

Epicenter.works team@epicenter.works

CONSTANZE

Arbeit von Sonnhild Essl. Foto Beate Gatschelhofer

Noch bis 2. Juli 2022 verwandeln sich zwei Seefrachtcontainer am Herbert-Bayer-Platz in Linz in das interdisziplinäre Kunstprojekt CONSTANZE.

Studierende der Abteilung Plastische Konzeptionen / Keramik der Kunstuniversität lassen die Grenze zwischen Zentrum und Peripherie verschwimmen und kreieren, in und rund um die Stahlkisten, kritische und humorvolle Akzente im öffentlichen Raum. Wöchentlich wechselnde Ausstellungen mit Vernissagen jeden Dienstag inklusive Performances, Artist Talks, Interventionen und Konzerte.

Das Programm wird laufend aktualisiert: constanze.org

Electronic Pies in the Poetry Skies

Die Ausstellung Blake fruid präsentiert im Juni im bb15 eine Mehrkanal-Video- und Soundarbeit, die den Körper des Gesangschors im Verhältnis zum Wirbel der textbasierten Sprache heraufbeschwört. Alexander Wöran über den Künstler Samuel Brzeski.

Videostill aus Blake fruid. Videostill Samuel Brzeski

Schande über mich. Der Titel: gestohlen – wieder einmal! Oder? Zum Glück kenne ich den Lyriker ein bisschen, von dem ich ihn mir geborgt habe. Und sein Verständnis von Sprache und Poetik. In betont lässiger, amerikanischer Art würde Charles wahrscheinlich sagen: „Sure, whatever man …I hope you just … just played with it. Transformed it. Substituted it. Put it in another context. Had fun! What the heck … used it, bruised it, schmused it. Eventually, I guess, you had to lose it. And how else would you find it again, eh? Did you find it again? Did you?“ Vielleicht würde er das sagen. Doch seine Gedichte und Essays haben genau diesen Effekt (auf mich zumindest). Sie verstimmen die Ohren, lassen in den Zwischenräumen der Alltagssprache nach fragileren Zuständen suchen und fordern einen geradezu heraus, mit dem Sprachmaterial zu spielen – electronic pies in the poetry skies, Elektrotorten an poetischen Orten, Elektrobeeren in poetischen Sphären, electronic farts in the poetic arts, electronic arts in the poetic farts, jaja, ich weiß, was für ein abgelutschter Reim, fart-art, haha, und: buh … BUH. Aber darum geht es (auch). Er rüttelt an den Bedeutungen, nimmt einem die Angst vor Experimenten und albernen Wortspielen, lässt Sprache in ihrer Materialität erscheinen, wodurch sich neue Assoziationsräume öffnen. Das alles passiert spielerisch, ohne Klamauk zu sein. Es lässt den homo ludens die Sprache schnuppern und sensibilisiert ihn gleichermaßen dafür. Doch halt. Geht es hier um Charles Bernstein? Oder um Samuel Brzeski? Umgehe ich etwa Samuel Brzeski, umgehe ich die Person, um die es geht? Nein.

Und ja. Es ist jedoch kein Zufall, dass ich wieder einmal in Bernsteins Bücher hineingestöbert habe. Und es ist kein Zufall, dass ich bei dem Essay „Electric Pies in the Poetry Skies“ hängengeblieben bin. Im Gegenteil. Die Werke des Sprach-, Medien- und Stimmkünstlers Brzeski regen meine Experimentierfreudigkeit in ähnlicher Weise an wie jene von Bernstein. Wenn er in seiner Performance Yep, that’s the mood minutenlang die Homophone „break“ und „brake“ beackert, die semantische und materielle Dimension der Worte chirurgisch voneinander ablöst, nur um sie im nächsten Moment wieder engzuführen, dann beginnen mein Wernicke-Areal und meine Broca’sche Sprachregion im Gehirn zu zucken. Und wenn er daraufhin beginnt, in die rhythmische Wiederholung der Wortkombination „brake fluid“ kleine Irritationen durch Substitutionen und Transformationen der Buchstaben einzuführen, wenn aus „brake fluid“ „shake druids“ oder „lake druids“ wird, dann hat er nicht nur die Bedeutung der Wortverbindung „brake fluid“ gebrochen, das „brake fluid“ zum „break fluid“ gemacht, sondern mein Sprachzentrum zum Tanzen gebracht. Wie von selbst tanzen mir da „snake fluid“, „cake flu it“, „jake, who’s it“, „just do it“, „yeah, just do it“, „oops, I did it again“ in meine Gedanken hinein. Wie Charles Bernstein hat er mein Gehör anders getunt (vielleicht in einer offenen Stimmung?) und meine Neuronen etwas anders verkabelt, als sie das üblicherweise sind. Auch bei Brzeski passiert das nicht aus Klamauk und einfach so nebenbei, vielmehr ist es eine wohlüberlegte Komposition, in der mehrere Faktoren fein aufeinander abgestimmt sind – die poetischen Kniffe im vorgetragenen Text, die wohlüberlegte Rhythmik seiner Sprechperformance, seine präzise eingesetzte Stimme, die Präsenz seiner Person und natürlich … warum zum Teufel eigentlich der Titel „Electronic Skies in the Poetry Skies“?

In der Ansammlung von Aphorismen unter diesem Titel beschäftigt sich Bernstein mit dem möglichen Einfluss (neuerer) elektronischer Medien auf poetische Praktiken sowie der Sprache in ihrer sozialen Funktion überhaupt. Beide – Brzeski wie Bernstein – nutzen Sprache und die Instrumente, über die sie transportiert wird, ohne sie zu instrumentalisieren, oder wenigstens: Sie verstecken ihre Instrumente nicht bloß hinter ihrem Sound, sondern thematisieren ihre Auswirkungen auf die Soundqualität. Sie bringen das Trägermaterial der Sprache mit zur Sprache. Dass ein und dieselbe Aussage zu zwei mehr oder weniger verschiedenen werden kann, je nachdem, ob sie in schriftlicher Form gelesen, oder mündlich ausgesprochen wird – begleitet von Mimik, Gestik, Stimmlage usw., ist zwar kein Geheimnis. Aber gerade im Alltagsrauschen der Sprache treten die Instrumente, die Sprachvehikel gerne in den Hintergrund. Wie oft wird beim Scrollen durch die Nachrichten am Smartphone schon daran gedacht, welche Auswirkung das Vehikel „Smartphone“ auf den Inhalt hat, der da konsumiert wird? Dann und wann kommt einem dabei ein Artikel unter, in dem darüber gesprochen wird, wie sehr das Smartphone unsere Aufmerksamkeitsspanne abfuckt. Ich komme über die Schlagzeile selten hinaus. Anyway, I digress.

Der Bezug auf und kreative Umgang mit dem Trägermaterial scheint mir also eine weitere Gemeinsamkeit der künstlerischen Praxis beider (etwa, wenn Bernstein mit dem Gedicht „Poem loading“ – und mehr ist es nicht, außer einem Ladebalken darunter – den Bildschirm auf die Druckseite klatscht und den Ladevorgang in einen poetischen Kontext setzt). Doch was bei Bernstein in Bezug auf elektronische Medien (eher) in der Theorie bleibt, kommt bei Brzeski zur Anwendung. Kurz, Bernstein spricht über die „Electronic Pies in the Poetry Skies“, Brzeski hat sie im Ofen, sozusagen. Erfrischend, denn gerade in der Medienkunst kommt mir die poetische Auseinandersetzung mit der Sprache im Digitalzeitalter eher wie ein Randphänomen vor. Oder ist es umgekehrt? Ist die Auseinandersetzung mit elektronischen Medien in der Sprachkunst, insbesondere der Poesie, ein Randphänomen? Wie auch immer, Brzeski bedient sich in seinen Arbeiten und Performances der Methoden beider Bereiche auf synergetische Weise und eröffnet damit einen zeitgemäßen Sprachdiskurs. So steht in der oben genannten Performance die Präsenz seiner Stimme gegen die Präsenz zweier Visualisierungen gegen die Präsenz eines zusätzlichen Audioloops mit seiner Stimme, die sich gegenseitig kompositorisch ergänzen, aber auch ein Spannungsverhältnis untereinander eröffnen. Mal versinke ich im Sound seiner Stimme, mal in der Visualisierung auf den Screens, mal in den Loops (und – not gonna lie – mal in seinem Bart und seiner Ausstrahlung). In manchen Momenten finden alle Ebenen wunderbar zusammen, nur um im nächsten wieder zu zerfallen, nur um im nächsten wieder zusammenzufinden, nur um im nächsten wieder zu zerfallen … es ist das Dazwischen, die Lücken der Sprachräume, deren space oddities, in die er mich hineinführt, in denen Bedeutungen und Definitionen gleichzeitig eigenartig wackeln und wurzeln.

Wie die elektronischen Tortenformen die Torten formen, wird für mich auch in seinen installativen Kunstwerken verhandelt (und auf die Gefahr hin, hier den alten Platon zu flamen: nicht verformen! die eine, also DIE Tortenform, ist ein Mythos. Oder?). In der Installation Just be glad it’s not you werden etwa Textschnipsel aus einem Online-Forum zum Thema Narzissmus verschnitten und auf mehreren Bildschirmen zu Hard-Techno-Musik getaktet. Das konfrontiert mich beim Betrachten nicht nur mit den technischen Beschleunigungsorgien des Internets, der Raum-Zeit-Vernichtungs-Maschinerie. Sie fällt mir normalerweise kaum mehr auf, weil ich mich daran gewöhnt habe, ein seltsamer Effekt: die Entschleunigung der Beschleunigung (ist es das, was man konstante Beschleunigung nennt?). Vielmehr lässt mich das Werk auch mit der Frage zurück, wer da wo, warum und vor allem wie spricht – durch das audio-visuelle Entgegenhämmern und den Netzäther hindurch, stehe ich in Gedanken wieder vor den einzelnen Personen, welche die Textschnipsel produziert haben könnten, denen, die sich am Leid anderer aufgeilen, denen, die ihr Expertentum nur online ausleben können, denen, die wirklich Hilfe suchen, denen, die wirklich Hilfe bieten wollen. Und: Was macht die Tortenform des Onlineforums mit Sprache? Welche Sprechweisen erlaubt sie, welche nicht?

Apropos Tortenformen und Sprechweisen: Texte wie dieser, in denen eine Person über die Kunst von jemand anderes spricht, sind immer verkürzt (und er wäre es noch, wenn er ___, oder _________ Seiten hätte). Ein bisschen schlechtes Gewissen schwingt da bei mir immer mit und ich frage mich, ob ich manchmal beginne, Geister zu sehen, wenn ich da fröhlich vor mich dahininterpretiere; es lässt mich an Bernsteins letzten Aphorismus denken: „There’ll a pie in the sky when you die. But not likely.“ So, take my text with a grain of salt and go watch the show. Immerhin gibt es einen kleinen Trost: Jede Torte verträgt eine kleine Prise Salz.

Samuel Brzeski ist ein Künstler und Schriftsteller, der hauptsächlich mit Sprache und Stimme arbeitet. Er studierte Literatur an der University of Sheffield, Bildende Kunst an der Bergen Art Academy und nahm am Mountain School of Arts Programm in Los Angeles teil. Zu seinen jüngsten und laufenden Projekten gehören Ausstellungen, Performances und Publikationen mit Lydgalleriet (Bergen), Østre (Bergen), Inversia Festival (Murmansk), Babel Visningsrom (Trondheim), Black Box Theatre (Oslo), Galleri Box (Göteborg) und Chao Art Center (Peking). Er ist außerdem Mitglied von TEXST, einer Publikationsplattform und einem Schreibkollektiv. Vom 21.–30. Juni, Eröffnung 21. Juni 19:00 Uhr, präsentiert er als Teil des Oscillations-Austauschprogramms für Künstle­r:innen im bb15 seine Arbeit Blake fruid.

Die Ausstellung Blake fruid präsentiert eine mehrkanalige Video- und Soundarbeit, die den Körper des vokalen Chors im Verhältnis zum Wirbel der textbasierten Sprache heraufbeschwört. Verschiedene parallele und sich überschneidende Erzählungen entfalten sich und präsentieren die Figur eines unzuverlässigen oder instabilen Erzählers, eines Erzählers, der immer in Bewegung ist. Die verwobene Erzählung be­handelt Sprache als Rohmaterial durch die Stimme und durch Text, indem sie Spra­che aus einer Vielzahl von Quellen entlehnt und umgestaltet, darunter YouTube-Anleitungsvideos, Online-Selbsthilfeforen, motivierende Status-Updates, linguistische Lehrbücher, Autowartungshandbücher und Cowboy-Songtexte.

bb15 ist ein unabhängiger artist-run-space und ein Kurator*innen-Kollektiv, das seit 2009 in der Linzer Kunstszene aktiv ist. Als offener Raum für Künstler*innen unterstützt bb15 experimentelle Ansätze und entwickelt Ausstellungen, Performances und kulturelle Veranstaltungen. bb15 ist in internationale Kooperationen involviert und fungiert als Plattform, die den Austausch von aufstrebenden internationalen und lokalen Künstler*innen fördert und sie während ihrer Karriere unterstützt.

female positions

Wer sind wir?

Und wie wurden wir die, die wir sind?

Was ist in uns angelegt? Was ist durch Erziehung, Sozialisation und Gesellschaft weg- und hinzugekommen?

Wo stehen wir?

Und wovon träumen wir, wenn man uns fragt?

Die Welt bricht wieder einmal auseinander. Gerade lässt uns die Pandemie Zeit zum Verschnaufen, müssen wir uns in Europa mit einem Krieg auseinandersetzen – weil ein alter, weißer Diktator beschlossen hat, sein Aggressionspotential auszuleben.

Aber es geht in einem viel größeren Sinn um Demokratie, die wieder einmal verhandelt werden muss, verbunden mit vielen Rechten und Errungenschaften. In der allgemein aufgeheizten Stimmung werden etwa diejenigen Stimmen wieder laut, nicht nur in Russland, sondern z. B. auch in den republikanisch geführten Bundesstaaten der USA, die z. B. Abtreibungsrechte und Rechte für LGBTQ’s beschneiden möchten. Weil Krisen sind auch immer da, um bereits sicher geglaubte Rechte wieder rückgängig zu machen. Krisen sind da immer eine willkommene Rechtfertigung.

Die Pandemie hat uns das einmal mehr eindrücklich vor Augen geführt. Wie es auch um die Geschlechtergerechtigkeit in unserem Land bestellt ist. Bekannterweise sahen sich Frauen von einem Tag auf den anderen wieder in der Heimchen-am-Herd-Position. Kochen, putzen, waschen, Kinder betreuen, Hausaufgaben machen, von zu Hause arbeiten – ein Traum für alle Frauen. Doch Frauen haben seit Jahrhunderten um ihre Rechte gekämpft – und sollen, können und werden das Feld nicht (schon wieder) den Männern überlassen. Der Aufruf „Frauen aller Länder vereinigt euch“ mag dabei nicht neu sein und wegen der unterschiedlichen Lebensrealitäten dieser Frauen-Weltbevölkerung auch nicht ganz leicht umzusetzen, doch im Kern sollte es immer wieder um eine neu ausgerufene Solidarität zwischen Frauen gehen. Aber wie kann das in diesem Klassen-Race- und Gender-Umfang von „Frauen aller Länder“ ein Ansatz sein? Und wo fängt man da mit einem solidarischen Wir an? Ein solidarisches Wir, das weder Abstraktum noch Theorie bleibt, sondern aus unmittelbarer, diverser Erfahrung gespeist ist?

Wir – und das meint jetzt eine Herausgeberinnen-Gruppe von drei Frauen – haben jedenfalls einen anderen Weg als den männlichen einschlagen. Wir wollen uns, einfach gesagt, unser Leben so gestalten, wie wir es wollen und wie es uns Spaß macht. Und falls das ein wenig nach Pippi Langstrumpf klingen mag, geht es eben gerade nicht darum, jeden Tag ein Pferd hochstemmen zu müssen. Wir wollen auch nicht einen technischen Beruf erlernen, wenn uns das nicht taugt und wir wollen auch nicht 60 Wochenstunden arbeiten, um zu glauben, dass wir wichtig und unabkömmlich sind. Wir wollen nicht wie Männer sein müssen, um uns zu behaupten. Wir wollen einfach die Hälfte des Geldes, der Macht und der Positionen, die uns zustehen, eben weil wir die andere Hälfte der Menschheit sind. Und wir wollen einfach so sein wie wir sind. Das heißt auch, dass die andere Hälfte der sozialen Realität, das Sorgen um/für Andere, das Beziehungen am Laufen halten und das Freundschaften pflegen, nicht grundsätzlich vernachlässigt werden sollen. Und das ist es auch, was eine Gesellschaft ausmacht und von der sie lebt, und auch in Zukunft überleben wird können!

Für unsere Publikation female positions haben wir 10 Frauen gewinnen können, die mit uns ein Jahr lang über all die Probleme diskutiert haben, die uns und wahrscheinlich viele Frauen beschäftigen. Diese Frauen haben ihre ganz persönlichen Geschichten aufgeschrieben, um uns und andere daran teilhaben zu lassen. Nach dem Lesen der Texte ist uns (wieder) klar geworden, dass es nur darum gehen soll, uns selbst zu gefallen und uns wieder in erster Linie mit anderen Frauen zu solidarisieren – Solidarity, Sisters!

Durch diese Solidarität, durch das Miteinander der Frauen ist es möglich, die Gesellschaft zu verändern und zwar, indem wir zuallererst unser Leben so leben, wie wir es für richtig halten. Und auch wenn es banal und etwas naiv klingen mag: Die Gesellschaft wird sich dann einfach – und in aller Diversität – danach ausrichten müssen und dadurch verändern.

Wovon träumen wir?

Jahrelang haben wir mit dem Gedanken gespielt ein Buch zu machen. Wir haben hier einen feministischen Ansatz gewählt, der undogmatisch an direkten Erfahrungsbereichen und Expertisen ansetzt. Wir wollten Frauen als Autorinnen gewinnen, die wir sehr schätzen und bewundern. Die meisten, die wir angefragt haben, haben zugesagt. Und haben beim Schreiben zum Teil sehr gekämpft damit, ihre persönlichen Standpunkte in Texten zu verarbeiten.

Entstanden sind female positions.

Female positions erscheint am 22. 6. 22.

Die Kolumne female positions wurde verfasst von Daniela Banglmayr, Susanne Baumann und Sandra Hochholzer.

Die wunderbare und widersprüchliche Madame D’Ora

Das aktuelle Buch von Eva Geber beschäftigt sich mit der Fotografin Madam D’Ora. Andreas Pavlic hat mit der Autorin darüber gesprochen.

Die Grafikerin und Autorin Eva Geber hat sich in den letzten Jahren dem Leben einer bemerkenswerten Frau gewidmet. Nach Louise Michel und Rosa Mayreder hat sie sich nun der Fotografin Madam D’Ora zugewandt. Dora Kallmus, so hieß Madam D’Ora mit bürgerlichem Namen, entstammt einer jüdischen Familie in Wien, studierte Fotografie und war im Paris der 20er Jahre eine berühmte Fotografin der Mode- und Kunstwelt. 1940 musste sie Paris verlassen und floh in den „freien“ Landesteil Frankreichs. Nach dem Krieg kehrte sie nach Österreich zurück. Dort konnte und wollte sie nicht mehr an ihr altes Leben anschließen. Ihre Tagebücher, Briefe und Prosa-Fragmente bilden die Ausgangsbasis des von Eva Geber zusammengestellten und kommentierten, im Mandelbaum Verlag erschienenen Bandes, der nicht nur einen guten Einblick in das Leben der Künstlerin bietet, sondern sich auch spannend und lustvoll wie ein Roman liest.

Wie bist du auf Madame D’Ora gestoßen?
2018 gab es eine wunderbare große Ausstellung im Leopoldmuseum: „Machen Sie mich schön, Madame d’Ora“, kuratiert von Monika Faber und Magdalena Vuković. Über die große Fotografin d’Ora – Dora Kallmus – hatte ich bereits vor etwa 20 Jahren zwei Essays geschrieben. So bin ich natürlich hin. Und entdeckte an den Wänden sehr interessante Sprüche oder Aphorismen. Es handelte sich um ihre Aufzeichnungen aus der Nazizeit. Sie musste in den Süden Frankreichs fliehen und schrieb ein Tagebuch, Essays und verfasste auch einen autobiographischen Roman. Sie plante, einiges davon zu publizieren, wenn sie diese Zeit überlebte. Aber nach 1945 hat sie keinen Verlag dafür gefunden.

Du hast dich buchstäblich auf ihre Spuren begeben, hast dir ihre Lebensstationen angesehen und in etlichen Archiven und Museen recherchiert. Wie hat sich die Arbeit in den letzten Jahren dazu gestaltet?
Ich mag es nicht, wenn Arbeit von Frauen beiseitegeschoben wird. Und ich hab geahnt, dass hier ein Schatz an unmittelbarer Zeitzeugenschaft zu bergen ist. Zunächst wollte ich wissen, wo ich den schriftlichen Nachlass finde. Es ist erstaunlich, er ist in drei Ländern verstreut. Ein wenig in Österreich (im Landesmuseum OÖ in Linz), viele Briefe und Dokumente im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe. Der Hauptteil, vor allem ihre Tagebücher im Exil, ihre Essays und der Roman befinden sich in Norwegen, im Fotomuseum Preus im kleinen Ort Horten südlich von Oslo.
Das erste Abenteuer war, an die Schriftstücke heranzukommen, das zweite die Transkription. Rund 2000 Seiten umfassten die Tagebücher, Briefe, Essays und Zettel, die den Zeitraum betreffen, um den es mir geht. Nämlich wie die Shoah das Leben eines Menschen verändert. Der Verlust ihres Ateliers, ihres vorigen Lebens ist es nicht, was Dora Kallmus erschüttert. Es ist die Sorge, die Angst um ihre Schwester Anna, die in Österreich lebt.
Ich hatte nun einen Teil der Schriften, aber ich wusste noch viel Material in Horten und in Hamburg. Ich plante die Reisen nach Norwegen, nach Deutschland und auch Frankreich. Ich musste in die Archive der Departements gehen, ich wollte ihre Adressen in Paris aufsuchen. Ich kaufte die Tickets – und dann kam Corona. Das ergab Zeit- und Geldverlust.

Wie hat sich die Aufbereitung des Materials gestaltet? Es wurde von dir sehr umsichtig aufbereitet und in Szene gesetzt. Das Buch liest sich unglaublich spannend, entwickelt einen wunderbaren Sog und man taucht durch die Schriftstücke in die verschiedensten Schichten ihres Lebens ein. Vor allem auch die Geschichte ihres Grenzübertritts vom besetzten Frankreich ins noch freie Gebiet des Vichy Regimes, die Madame D’Ora in eine Kurzgeschichte eingearbeitet hatte und von dir wieder entdeckt wurde.
Da hatte ich mich selbst blockiert, vor allem war ich durch eine Fußnote im Ausstellungskatalog beim Beitrag von Jean-Marc Dreyfus, einem renommierten Holocaustforscher, in die Irre gegangen. Es stellte sich heraus, dass sie die Flucht nicht im Tagebuch, sondern in einem eigenen Büchlein als „Geschichte der unglücklichen Teeblättchen“ verborgen hatte. Die war so wirr und so schwer zu entziffern, dass ich es zunächst beiseitegeschoben hatte. Und dann fand ich darin das Juwel der Fluchterzählung.
Das Besondere in allen ihren Aufzeichnungen ist das, was sie nicht schreibt. Sie schreibt kaum über Angst um sich, sie denkt an ihre Schwester Anna, wo sie ist, ob sie noch lebt.
Ich hatte dann den Einfall, zu jedem Abschnitt etwas über das Nichtgesagte zu schreiben. Sie hat ja auch aus Vorsicht vieles nicht geschrieben. Zum Beispiel, dass sie gewarnt wurde, wenn Verhaftungen drohten.

Die Tagebuchaufzeichnungen – wie jene in ihrem Zufluchtsort in Lalouvesc sind schonungslos, grotesk, manchmal von einer großen Lebensweisheit getragen und manchmal auch etwas borniert. Die Aufbereitung dieses sehr persönlichen Textmaterials ist auch eine sehr intime Arbeit.Wie erging es dir mit der Person Dora Kallmus?
Ich war von ihr beeindruckt, ergriffen und gerührt, irritiert und schockiert. Ich habe mit ihr geweint und gelacht, über sie den Kopf geschüttelt – und gerade zu den ärgerlichen Dingen am meisten recherchiert. Nein, Madame d’Ora war sicher kein einfacher Charakter. Sie war eine großbürgerliche Unternehmerin, sie war stolz darauf, unpolitisch zu sein! Und sie war misanthropisch. Wenn sie aber wütend war oder verachtend, so ging es ihr eher um Fairness, die sie vermisste. Sie hat ihren Ärger nicht geäußert, die „Haltung“ verbot so etwas. Umgekehrt war sie über jede noch so kleine Freundlichkeit über die Maßen dankbar. Die Schonungslosigkeit gilt auch ihr selber, sie ist absolut ehrlich. Nachdem sie ihr Atelier in Paris sofort nach der Okkupation durch die Deutschen verkauft, aber noch als Fotografin arbeiten darf, fühlt sie sich erleichtert, sie arbeitet mit einer Handkamera außer Haus und schreibt Essays. Text kommt näher an die Wahrheit, so denkt sie. Am ersten Ort ihrer Flucht nimmt sie das billigste Zimmer. Früher hätte sie zehn Zimmer gewollt, nun hat sie neun Quadratmeter, „das ist genug, der Rest ist nur für den Neid des Nachbarn“. Daran hält sie sich auch nach ihrer Rückkehr in Paris. Da hat sie eine winzige Dunkelkammer und wohnt in Untermiete.

Mich hat der Briefwechsel mit ihrer Schwester, den sie von 1937 bis 1941 führte, und den du an den Anfang des Buches stellst, zunächst irritiert. Er erscheint so banal, so alltäglich und gleichsam ist er sehr einfühlsam. Er zeigt sehr gut den sozialen Hintergrund der beiden Frauen und regte mich im Verlauf des Lesens, aufgrund der Lücken und des Unausgesprochenen, sehr zum Nachdenken an. Wie ist es dir bei der Sichtung der Briefe ergangen?
Ja, die Briefe! Die haben mich schon ordentlich durchgebeutelt. Wir sehen die Schwestern in innigem Austausch. Annas Haus in Frohnleiten wurde arisiert, ihr droht die Deportation. Sie hat keine Mittel mehr, und dennoch wird in der kleinen Wohngemeinschaft in Wien ein bürgerlicher Haushalt geführt. In guter „Haltung“, wie es die Schwestern von den Gouvernanten gelernt haben. Die Gefahr kommt immer näher, aber ihre Sorge gilt ihrer Schwester. Und die hat wiederum Angst um sie. Ihr Versuch, von Frankreich aus an Visa für beide heranzukommen ist vielleicht nicht energisch genug.

Eine Frage zu Madame D’Ora als Fotografin: Anhand der Briefe ist zu erkennen und du schreibst es auch in deinem Kommentar, dass Madame D’Ora nach dem Krieg wie besessen arbeitete. Sie machte Fotos von displaced Persons in Österreich, fotografierte Schlachthöfe in Frankreich, erstellte Porträtfotos in neuem Stil und arbeitete an Ausstellungen, autobiographischen Romanen und Aufsätzen zur Fotografie. Dennoch scheint sie nach dem Krieg aus der Zeit gefallen zu sein. Wie ist die Rezeptionsgeschichte von Madame D’Ora?
Sie will nicht mehr Gesellschaftsfotografin sein. Das scheint ihr jetzt schal und leer. Da sie drei Jahre kein Einkommen hatte, muss sie dennoch einige Prominenz fotografieren, aber sie tut es anders als früher. Ohne Weichzeichner und auch in Alter und Verfall. Ihr Anliegen ist, Verlust und Entwurzelung durch den Holocaust zu zeigen und so geht sie in die Flüchtlingslager, obwohl sie die Bilder nicht verkaufen kann. Sie entsprachen nicht den Interessen der Flüchtlingsorganisationen, die entweder Jammer und Not zeigen wollen, um Spenden zu lukrieren, oder Begeisterung für die neue Zukunft, die sie durch die Hilfe der Organisationen erwartet. D’Ora aber zeigt die Menschen in ihrer Resignation und in Würde. Sie, die Tiere liebt und kein Fleisch isst, geht danach in die Schlachthallen und fotografiert das industrielle Töten, denn „die Wirklichkeit ist nicht das Leben, die Wirklichkeit ist der Tod.“
Interessant ist, dass sie niemand fragt, warum sie über Jahre hinweg diese Bilder macht. Es war wohl die Angst, ein heißes Eisen anzugreifen.
Sammler bestürmten sie und bestellten Fotos aus den früheren Jahren bei ihr, und die wollte sie gut bezahlt sehen. Gegenüber ihrem Freund, dem Sammler Willem Grütter, war sie hingegen großzügig. Von ihm wollte sie keine Bezahlung.
Aus der Zeit gefallen? Nun, sie konnte mit Farbfotografie nicht viel anfangen. Porträts verlangen schwarz-weiß, sagt sie und bedauert das Ende dieser Kunst. Bei ihren letzten Aufnahmen war sie 77 Jahre alt. Ich habe inzwischen Fotografen kennengelernt, für die Madame d’Ora noch immer Vorbild ist.

Eva Geber ist eine mehrfach ausgezeichnete Publizistin, zuletzt mit dem Theodor Kramer Preis, die zahlreiche Arbeiten zur Geschichte der Frauenbewegung(en) und Biographien über engagierte Frauen veröffentlicht hat. Sie selbst war viele Jahre Redakteurin der feministischen Zeitschrift AUF und gehört ebenfalls zu jenen engagierten Frauen.

Aggressive Peace

Das Sekretariat für Geister, Archivpolitiken und Lücken (SKGAL), Selma Doborac sowie Elke Auer & Yorgia Karidi stellen noch bis 8. Juni im Kunstraum memphis aus. Die Referentin versammelt hier Auszüge aus den Künstlerinnen-Texten und das kuratorische Statement von Christine Eder. Dem ist kaum mehr etwas hinzuzu­fügen – außer einem unbedingten Hinweis auf die Schau, die statt Betroffenheitsbekenntnissen lieber feministische, antikapitalistische und dekolonialisierende Perspektiven im eigenen Handlungsspielraum aufzeigt.

Jahrzehntelang war ein pazifistischer Grundkonsens die unantastbare Basis für Sicherheit, Stabilität und Wohlstand in westlichen Gesellschaften. Was ist davon geblieben? Ausgehend von dieser Frage nähern sich fünf Künstlerinnen der fragilen Fiktion des Friedens. Der Forderungskatalog der internationalen Friedensbewegung dient dabei ebenso als Referenzraum, wie die antimilitaristischen Aktionen der Frauen- und Antikriegsbewegung der 1970er bis ’90er Jahre, Aspekte der binären Rollenzuschreibung in Konfliktsituationen, was es heißt, als Frau „nicht – friedvoll“ zu sein, der Einfluss von Bildsprache und Propaganda und die immerwährende Frage, in welcher Welt wir eigentlich leben wollen. Die unterschiedlichen künstlerischen Zugänge ergänzen sich durch Gegenüberstellung von Archivmaterial und aktuellen Perspektiven und über allem schwebt die Frage nach der individuellen Handlungsfähigkeit. Einmal mehr wird deutlich, dass es Frauen* sind, die in Auseinandersetzungen als erste zum Schweigen gebracht werden sollen, einmal mehr zeigt sich, dass es gerade Frauen*stimmen sind, die immer wieder aufs Neue die Notwendigkeit von Widerstand gegen autoritäre Strukturen, Krieg und Gewalt einfordern. Die internationale Friedensbewegung fordert seit den 1880er Jahren weltweite Abrüstung, internationale Schiedsgerichtsbarkeit und ein effizientes Völkerrecht. 1920 nahm in Genf der Völkerbund seine Arbeit auf, seit 1945 erreichte unter dem Eindruck der Weltkriege und des Vietnamkriegs der zivilgesellschaftliche Druck für friedliche Konfliktlösungen einen Höhepunkt, und Ende der 1960er war „Make love not war!“ die Parole einer ganzen Generation und von globalem pazifistischen Impact. Friedens- und Abrüstungsabkommen wie SALT I und der Atomwaffen-Sperrvertrag wurden errungen und mit der Auflösung der Blockstaaten und dem Ende des Kalten Kriegs schien „immerwährender Friede“ – zumindest in westlichen Demokratien – gesichert. Doch Golf- und Irakkrieg führten in eine friedenspolitische Sackgasse und inzwischen ist der Typus konventioneller Kriege zwischen verfeindeten Nationen in den Hintergrund getreten. Seit 9/11 wurden – als „Terrorismusbekämpfung“ – neue Formen des militärischen Kampfes legitimiert. Es geht dabei nur scheinbar um ideologische oder religiöse Deutungshoheit; nach wie vor dreht sich alles um territoriale Vormachtstellung, Wasser, Land und Bodenschätze. Das Erbe der Kolonialgeschichte und die uneingelöste Verheißung globalen Friedens stellen unser privilegiertes Selbstverständnis in Frage. Zugleich werden in der westlichen Zivilgesellschaft Zweifel am Pazifismus laut. Es wächst die Akzeptanz für autoritäre Strukturen, die Forderung nach Aufrüstung und die Sehnsucht nach dem „starken Mann“. Seit Donald Trumps Vertragsausstieg am 1. Februar 2019 sind die bilateralen Abkommen zur weltweiten Abrüstung Geschichte, und nach nicht einmal 40 Jahren ist der Einsatz von Atomwaffen auf europäischem Boden nicht mehr denkunmöglich. Die Forderungen der Internationalen Friedensbewegung sind aktueller denn je. (Text: Christine Eder)

SKGAL: ENTRÜSTET EUCH
SKGAL, das Sekretariat für Geister, Archivpolitiken und Lücken, arbeitet mit Flugblättern aus STICHWORT, dem Archiv der Frauen- und Lesbenbewegung in Wien, die für feministische Friedensaktionen produziert wurden. Die Flugblätter aus dem Zeitraum von 1979 bis 1992 zeigen die starken Überschneidungen von feministischen Gruppen mit verschiedenen Friedensbewegungen in Europa. Vom Norden in den Westen, vom Süden in den Osten, von Konzerten zu Camps, von Informationsabenden zu Demonstrationen, von Quizzes, Friedensliedern, Stammtischen bis Friedenszügen belegen sie vielfältige Aktionen und Strategien in der Forderung nach weltweitem Frieden. Sie verweisen in die Vergangenheit und ermöglichen Ausblicke in die Zukunft. STICHWORT wurde 1983 gegründet, in einer Zeit, in der sich die Friedensbewegung in Europa von Neuem mobilisierte. Der NATO-Doppelbeschluss von 1979, der die Aufstellung neuer Atomraketen in Westeuropa legitimierte, war einer der Auslöser. Der Rüstungswettlauf zwischen den NATO-Staaten und der Sowjetunion nahm in den achtziger Jahren neue Fahrt auf. Die Flugblätter aus dem Archiv veranschaulichen das vielfältige Engagement für den Frieden, die Anliegen, Forderungen und Mittel des Protests, oft über nationalstaatliche Grenzen und Sprachbarrieren hinaus. Zugleich verdeutlichen die Dokumente die Bedeutung des STICHWORT-Archivs selbst: Das Sammeln und Zugänglichmachen ermöglicht erst die Beschäftigung mit all den Geschichten des Widerstands und des Protests.

In der Installation von SKGAL werden Schwarz-Weiß-Kopien der Flugblätter an den Wänden und Fenstern des Kunstraum Memphis angebracht. Sie vermitteln die ästhetische und thematische Vielfalt unterschiedlicher Aktionen der Friedensbewegung. Eine Auswahl der Dokumente wird genauer unter die Lupe genommen: Farbfotografien der Flugblätter und Texte in Posterformat von SKGAL sowie von Archivarinnen, Theoretikerinnen, Künstlerinnen und Aktivistinnen, mit denen SKGAL sich schon länger im Austausch befindet, zeigen Perspektiven und Fragestellungen für die Gegenwart auf. Drei Poster aus Großbritannien, die Friedensaktionen ankündigen, hinterlassen bei der Archivarin und Designerin Ego Ahaiwe Sowinski aufgrund ihrer ungebrochenen Aktualität ein unheimliches Gefühl und lösen Fragen zu Frieden und Archiven aus. Die Archivarin und Theoretikerin Margit Hauser schreibt über Collagen auf einem der vielen Flugblätter der Frauenbewegungs- und Friedensaktivistin Hermi Hirsch und darüber, wie das Flugblatt – zweimal in Rot, einmal in Grün – zu STICHWORT kam. Hirschs Wiener Innenstadtbeisl war von 1978 bis 1983 auch Treffpunkt ihres Vereins Frauen für den Frieden Wien. Eine Ankündigung der Initiative für den kroatisch-serbischen Friedensdialog lädt dazu ein, über die Bilder des Krieges „samt dazu aufgebaute Feindbilder“ nachzudenken. Das Flugblatt zum „Informationsabend für Frauen“ in Graz aus dem Jahr 1992 ruft bei der Theoretikerin und Aktivistin Lina Dokuzović eigene Erinnerungen an den Krieg wach. Sie stellt aktuelle Formen der Berichterstattung über den Krieg in der Ukraine solchen zum Krieg im ehemaligen Jugoslawien gegenüber. SKGAL verbindet die Frage „WO SEID IHR 99,98%?“ auf dem Flugblatt der Frauen für den Frieden in Innsbruck mit dem Manifest „Ein Feminismus für die 99%“ von Cinzia Arruzza, Nancy Fraser und Tithi Bhattacharya aus dem Jahr 2019 und lenkt die Aufmerksamkeit auf die Verschränkung von Krieg und Kapitalismus. Anhand von Flugblättern der Blockadegruppe, die sich während des Golfkriegs 1991 an Protesten gegen den Transport von US-Panzern durch Tirol beteiligte, zeigt die Archivarin Sassy Splitz, dass das, was hier passiert, mit Kriegen andernorts zu tun hat. Wie sie meint, ist diese Erkenntnis ein wichtiger Schritt, um handlungsfähig zu werden. In einer Zeit, in der auch in Europa wieder bewaffnete Auseinandersetzungen stattfinden, lädt SKGAL dazu ein, in die Quellen der Geschichten der Friedensbewegung einzutauchen. Die Formen der Verbreitung und die Schwerpunkte der Forderungen haben sich über die Jahrzehnte geändert, doch angesichts der gewaltvollen Konflikte – deren destruktivste Form der Krieg ist – stellt sich die Frage, wie Frieden für alle erreicht werden kann mehr denn je. (Text: Nina Höchtl & Julia Wieger, SKGAL)

Elke Auer & Yorgia Karidi: LEAKING VESSELS
LEAKING VESSELS or the Fear of Feminine-sounding voices begann vor zwei Jahren in Athen als Gespräch zwischen Elke Auer und Yorgia Karidi und entstand aus dem Wunsch, den historischen und kulturellen Kontext zu verstehen, in welchem das Dasein als weiblich klingende Stimme in der Welt als unerträglich wahrgenommen wird.  Das Motiv der Frau als undichtes Gefäß, nass, instabil und unfähig, sich selbst einzudämmen, undicht in stimmlicher, somatischer, emotionaler und sexueller Hinsicht, zieht sich durch die gesamte griechische Literatur. Im Gegensatz zur trockenen Stabilität und verbalen Kontinenz der Männer und dem männlichen Tugend-Konzept der „Sophrosyne“, wie Anne Carson in ihrem großartigen Text „The Gender of Sound“ beschreibt. Doch ein getrocknetes Tongefäß, das mit Wasser gefüllt wird, zerbricht irgendwann und wird wieder zu weichem, formbarem Dreck – eine Lektion in der Auflösung starrer Formen, die in Kriegszeiten umso dringlicher erscheint, wenn wieder einmal längst überholte Geschlechterrollen greifen und zementiert werden, und dabei den Menschen aller Geschlechter ungemein schaden.

[…] In diesem Projekt geht es um den Versuch, die Angst davor, eine weibliche Stimme in der Welt zu sein, zu überwinden, und die Tür vor dem Mund aus den Angeln zu heben. Denn wir wollen nicht von innen heraus erschlagen werden, von unserer verrückten, heißen Wahrheit. Wir wollen lieber lernen, die Nervosität, den Schweiß und das Erröten zu akzeptieren und diesen Ausbruch körperlicher Manifestationen als feministische Kritik begreifen. Es geht darum, die Tradition geschlechtsspezifischen Sprechens zu brechen. Mary Beard schreibt in ihrem Buch „Women & Power“: „When it comes to silencing women, Western culture has had thousands of years of practice.“ Sie weist auch auf das erste aufgezeichnete Beispiel hin, in dem ein Mann einer Frau sagt, sie solle den Mund halten: Telemachos in Homers Odyssee, der seiner Mutter Penelope befiehlt, die Klappe zu halten und zurück in ihre Gemächer zu gehen, zurück an ihren Webstuhl, zurück an ihre Arbeit, denn „das Reden ist Sache der Männer, aller Männer, und vor allem von mir; denn ich habe die Macht in diesem Haus.“ Für Yorgia Karidi beginnt der Hauptteil ihrer Arbeit mit dem genauen Hinhören auf die Stimme, auf dieses einzigartige Musikinstrument mit der Fähigkeit, unermessliche Qualitäten zu übertragen. […] Für LEAKING VESSELS hat sie sich mit der Tradition des mediterranen Klageliedes und mit Lamento-Arien aus Opern mitteleuropäischer Komponisten beschäftigt. Die hohen Stimmlagen, traditionell Frauen* zugeschrieben, weckten in ihr die Lust, diese höchsten Töne des Gesangsspektrums selbst zu erreichen. In einem langwierigen Prozess begann sie, sich die Arie „Poveri Fiori“ für Sopranstimme aus der Oper Adriana Lecouvreur, von Francesco Cilèa anzueignen und dokumentierte ihre täglichen Fortschritte mit Aufnahmen. Der langsam erarbeitete Zugang zu den höheren Tönen, das Wachstum ihrer Stimme, das kontrollierte Loslassen und Entladen fühlte sich ermächtigend an.   […] Im Verlauf der Eröffungsperformance wurden 22 ungebrannte Gefäße mit Wasser gefüllt und haben sich nach und nach aufgelöst um ihren flüssigen Inhalt freizugeben, zu zerbrechen, in sich zusammenzufallen und alles zu überschwemmen. Genau so, wie es feministische Killjoys zu tun pflegen, Zitat Sara Ahmed:  „Feminist killjoys tend to spill all over the place. What a spillage. Feminist killjoys: a leaky container. And so: Be careful, we leak.“ (Text: Elke Auer & Yorgia Karidi)

Anmerkung, Referentin: Im Laufe der Eröffnungsperformance konnten die Besucher:innen außerdem Yorgia Kadiris Stimme und „Poveri Fiori“ lauschen.

Selma Doborac: Fassaden-Installation
Am 22. Februar 1993 beschließet der UN-Sicherheitsrat die Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofes für das ehemalige Jugoslawien (ICTY). Selma Doborac präsentiert einen Auszug aus einem der Gerichtsprozesse im Fall Srebrenica. Der Auszug aus dem Gerichtsprotokoll stammt aus dem Fall IT-98-33-T, Gegenstand ist das Kreuzverhör durch den Vertreter der Anklage/Ankläger; der Angeklagte als Zeuge in eigener Sache. Der Prozess umfasste 98 Verhandlungstage. Die Anklage rief 65 Personen in den Zeugenstand. Die Ankläger legten insgesamt 910 Beweisstücke vor. Der Angeklagte wurde gemäß Artikel 18 des Statuts des ICTY angeklagt, sich des Völkermordes, der Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen schuldig gemacht zu haben. Der präsentierte Auszug stammt aus dem Prozesszeitraum Oktober/November im Jahr 2000. Dieser Prozess diente als Grundlage und Muster zukünftiger Prozesse und Anklagen im Fall Srebrenica. […] (Text: Selma Doborac)

Christine Eder ist unter anderem Kuratorin im Kunstraum memphis.
SKGAL, Nina Höchtl & Julia Wieger: skgal.org
Elke Auer & Yorgia Karidi: vookoov.net, yorgiakaridi.com
Selma Doborac: www.sixpackfilm.com/de/catalogue/filmmaker/5016/

Aggressive Peace
Noch bis 8. Juni Kunstraum Memphis, Linz
memphismemph.is

DIE BETRACHTERIN. Foto Margit Greinöcker

Frauenbilder im Mariendom

Mächtig erscheinen die Glasfenster des Linzer Mariendoms und ebenso mächtig auch so manche männliche Figur, die auf den Fenstern zu sehen ist. Wie aber sind hier die Frauen dargestellt? Im Dom rücken die Künstlerinnen Zoe Goldstein und Margit Greinöcker die Frauenbilder ins Zentrum. Silvana Steinbacher hat sich das Projekt angesehen.

Die Lichtspiele in den Glasfenstern, die Stille und der Raum einer Kirche lösen in mir eine beruhigende und meditative Wirkung aus. Kürzlich aber hat sich meine Wahrnehmung und mein Blickwinkel im Linzer Mariendom im wahrsten Sinn des Wortes erweitert und das kam so:

DIE BETRACHTERIN
Bei einer Ausstellungseröffnung im April im Dom wurde das Projekt DIE BETRACHTERIN der Linzer Künstlerin Margit Greinöcker präsentiert. Wie wirken die Frauenbilder auf den Fenstern, wie verhalten sie sich darauf, erscheinen sie stark, selbstbestimmt oder nehmen sie eher eine Statistinnenrolle ein? Margit Greinöcker fokussiert in ihrem Projekt die weiblichen Verkörperungen in verschiedenen Perspektiven. Aus der Fülle an Abbildungen, Geschichten und Erzählungen zoomt sie mit Hilfe von Fernrohren einzelne Frauen heran und bringt sie so den Betrachtenden im wahrsten Sinn des Wortes nah, verleiht ihnen dadurch Größe. Doch damit nicht genug, die Künstlerin ergänzt ihre künstlerische Zugangsweise durch eine wissenschaftliche und zielt auch auf den Blick von außen. Neun Expert:innen aus verschiedenen Fachrichtungen nehmen mit aktuellen Recherchen an dem Projekt teil und schärfen so das Bild der Frauen im Dom. Im Abstand von zwei bis drei Monaten sollen die gezoomten Ausschnitte jeweils durch neue ersetzt werden. Die Texte der Recherchen können die Besuchenden des Doms auf einer Pyramide lesen, durch ein Okular ist das jeweilige Frauenbildnis zu betrachten. Bereichernd erscheint mir, dass die Expert:innen in den Texten auch zu anderen Bezugspunkten assoziieren können, dazu ein Beispiel: In einem der Glasfenster ist die Heilige Valeria, so wie meistens, an der Seite des Heiligen Florian zu sehen. Dargestellt ist sie mit den Gesichtszügen eines Chorherrn. „Davon ausgehend erinnert ein Text an die Heilige Kümmernis, die auch Fragen nach der Queeridentität aufwirft. In den Heiligenlegenden finden sich immer wieder genderfluide Erzählungen auf Bildern“, sagt Margit Greinöcker.
Die Heilige Kümmernis fällt nicht nur aufgrund ihrer Widersetzlichkeit, sondern auch aufgrund ihres Aussehens auf. Ihr Vater, ein heidnischer König, wollte seine zum Christentum bekehrte Tochter zu einer Heirat zwingen. Dagegen wehrte sie sich. Ihre inständigen Gebete, verunstaltet zu werden, um dieser Heirat mit einem Heiden zu entgehen, wurden erhört: Ihr wächst ein Bart. Der erboste Vater ließ sie daraufhin ans Kreuz schlagen. Die frühesten Darstellungen aus den ersten Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts zeigen sie als junge Frau, bärtig und gekrönt, mit deutlich weiblichen Gesichtszügen und Körperformen, in langem Rock und mit Stricken ans Kreuz gebunden.

Licht. Schatten. Dasein
Das Gesamtprojekt startete bereits vor einiger Zeit, seit zweieinhalb Jahren beschäftigen sich Studierende der Katholischen Privat-Universität Linz mit der Darstellung von Frauenbildern im Mariendom. Dieses interdisziplinäre Seminar leiten die Architekturhistorikerin Anna Minta und die Theologin Martina Resch. Die knappe, aber sehr informative Broschüre Licht. Schatten. Dasein wurde erarbeitet. Das Vierer-Team Margit Greinöcker, Anna Minta, Martina Resch und Zoe Goldstein, von der noch die Rede sein wird, bildet sich für das Projekt DIE BETRACHTERIN und DIE DARSTELLERIN.
Auch die Forschungen an der Universität bestätigen, was viele schon vermuteten: Die Frauenbilder im Mariendom verfestigen die hierarchische Ordnung zwischen den Geschlechtern, Frauen werden in althergebrachten Rollen gesehen, sie erscheinen meist nur marginal, spielen quasi eine Statistinnenrolle, körperlich sind sie klein und stehen in der zweiten Reihe. Die Betrachtenden könnten also den Schluss ziehen, die Frauen dienten nur dazu, die dargestellten Männer in ihrer Welt zu unterstützen. Dieses Großprojekt, das die Frauen in den Mittelpunkt rückt, verleiht ihnen Identität, laut und vernehmlich scheinen sie zu behaupten: „Hier bin ich.“

Die Glasfenster
Die Größe der 42 Fenster des Lang- und Querhauses des Linzer Mariendoms ist dabei beeindruckend: 18 m2 messen die unteren, 26 m2 die oberen Fenster. Sie überraschen durch ihre für Kirchenfenster unüblichen Farben und die Abbildung realer Menschen.
Die Bildfenster des Linzer Mariendoms sollten neben biblischen Motiven auf Wunsch des damaligen Bischofs Rudolph Hittmair im Jahr 1910 „Land und Leute“ zeigen, gewissermaßen die Region widerspiegeln. Doch was die Frauendarstellungen betrifft, so sind in den Fenstern eher entindividualisierte Frauen zu sehen, teils auch die Heilige Familie. Die Abbildungen haben mit der Realität des beginnenden 20. Jahrhundert in Oberösterreich und Linz – ich denke etwa an das hauptsächlich weibliche Arbeiter:innenproletariat in den Tabakfabriken – wenig zu tun.

DIE DARSTELLERIN
Die Fotografin Zoe Goldstein transferiert mit ihrem Projekt DIE DARSTELLERIN fotografisch und in Form eines Modells die historische Glasfenster-Darstellung Pilgerfahrt II mit neu verteilten Rollen ins Heute. Sie vertauscht dabei die Geschlechterrollen und betrachtet dadurch die Rollenzuweisungen in Gesellschaft und Kirche. Bei ihrem Projekt soll die männliche Dominanz in eine weibliche Bildsprache übersetzt werden.
Ausgehend vom Glasfenster Die Pilgerfahrt II entwickelt Goldstein eine Kulisse, die zum fotografischen Hintergrund für die Neuinszenierung des Sujets wird.
Zoe Goldstein baut dazu die Pilgerfahrt II-Darstellung dreidimensional in einem Glaskasten nach, sie stellt das Motiv anhand einer Fotografie im Studio nach und nimmt einen Geschlechtertausch vor. So sind bei Zoe Goldstein viele Frauen und zwei Männer und nicht wie auf der Abbildung im Dom viele Männer und zwei Frauen zu sehen. Die Personen auf ihrer Arbeit, die sie im Dom aufbaut, tragen zeitgenössische Kleidung. Die Szenerie des Originals wird neben der Fotografie als begehbare Kulisse aufgestellt. Präsentiert wird DIE DARSTELLERIN im Rahmen der Langen Nacht der Kirchen am 10. Juni und auch bei der Langen Nacht der Bühnen einen Tag später.

Eine Anmerkung zum Schluss: Wussten Sie eigentlich, dass aufgrund einer kaiserlichen Verordnung der 1924 nach 62-jähriger Bauzeit eingeweihte Linzer Mariendom zwei Meter niedriger errichtet werden musste als der Wiener Stephansdom? Mit einer bebauten Fläche von 5851 Quadratmetern ist der Linzer Dom aber die größte Kirche Österreichs.
Um Größe, Macht und Dominanz entsteht anscheinend unweigerlich und überall ein Wettkampf. Und das ist, so wie in vielen Bereichen, auch heute noch zwischen den Geschlechtern so. Dieses Großprojekt lässt die Frauenbilder wachsen und erstarken, sie werden dargestellt und betrachtet, vergrößert, erforscht und es wird wohl nicht nur kirchliche Vertreterinnen ermuntern, selbstbewusst zu äußern: Hier bin ich.

 

Frauenbilder im Mariendom: Broschüre: Licht. Schatten. Dasein Download: ku-linz.at/fileadmin/user_upload/FB_Kunstwissenschaft/Personen/Material_Minta/2021_LichtSchattenDasein_hg._Minta_Resch.pdf

Margit Greinöcker DIE BETRACHTERIN

Zoe Goldstein DIE DARSTELLERIN

Linzer Mariendom
Präsentation im Rahmen der Langen Nacht der Bühnen Mariendom
11. Juni 2022, 20:00 Uhr
Inszenierung eines Textes von Maynat Kurbanova mit Musik unter der Leitung von Elena Pierini Talk zum Thema Freiheit des Aufbruchs und Zwang zur Flucht im Dom

Margit Greinöcker ist mit ihren künstlerischen Positionen im In- und Ausland aufgefallen. Sie spannt in ihren Arbeiten einen Bogen von temporären Bauten oder ortspezifischen Handlungen bis zu experimentellen und dokumentarischen Videoproduktionen und rückt sehr oft feministische Themen ins Zentrum ihrer Arbeiten, zuletzt war sie in Linz durch das Projekt WALK OF FEM auf der Ernst-Koref-Promenade präsent.

Zoe Goldstein ist Portraitfotografin. Die Rolle der Geschlechter sowie die der stereotypen Körpersprachen sind wiederkehrende Motive und Themen in ihren Projekten.
„Mich faszinieren die Fragen der Wirkung und Auswirkung von Bildern: Inwieweit werden Frauen sichtbar, inwiefern hat sich das Bild, die Geschlechterrolle im Lauf der Zeit verändert?“, sagt Zoe Goldstein.

Die kleine Referentin

© Terri Frühling – Danke an Wolfi Fuchs

Klangneukirchen

Im August verwandelt sich Gallneukirchen zu Klangneukirchen. Zu verdanken ist das den Nahversorger:innen des Kulturvereins Klangfolger, die das Klangfestival veranstalten. Galli, wie es der Volksmund so schön verniedlicht, ist damit ein weiteres „Nest der Unbeugsamen“ im unerschütterlichen Pool der Mühlviertler Gegenkultur. Es reiht sich damit in eine illustre Schar von Dörfern ein wie O-Heim (OTTO), Ulrichsberg (Jazzatelier) oder gar Schwertberg (mit seinem „verflossenen“ Kanal). Gallische Dörfer, in denen auch Obelix seine Wildschweine zur widerborstigen Musik verschlingen würde. Sagt Christian Wellmann.

2008 beginnen sie, unter dem Namen Klangfestival auf einem Bauernhof in Galli neben dem Festival kleine Konzerte, Lesungen oder Performances zu veranstalten. Acht Jahre später entsteht die Möglichkeit, in einen Leerstand im Ort reinzukommen – der Nähstand, wo früher eine Nähstube drinnen war. Dieser wird Klangfolger genannt, was im weiteren zur Umbenennung des Vereins führt, der zusätzlich Kooperationen und Aktivitäten im experimentellen Kunstfeld betreibt.
Klangfolger ist der Überbegriff, der sich übrigens vom biologischen Terminus Kulturfolger herleitet: So werden Tiere bezeichnet, die der Zivilisation folgen. „Wie ein Fuchs, der in die Stadt rennt, weil er dort Essen findet. Wir suchen auch unsere Nischen und Leerstände, die wir bespielen können“, erklärt Thomas Auer vom Klangfestival-Team. Leerstände sind ein zentraler Punkt in ihren Aktivitäten. „Das Thema Leerstand nach Gallneukirchen zu bringen, war uns immer wichtig. Jetzt ist es ein prominentes Thema – wie geht man damit um? Speziell mit Klangfolger, wo wir den Leerstand der alten Nähstube genützt und in drei Monaten dreizehn Konzerte gemacht haben. Und damit viele Leute dazu gebracht haben, vorbeizuschauen. Das hat viele überrascht. Und den Leerstand zu aktivieren, hat im Ort tatsächlich was gebracht.“ Der Kulturverein lebt vom Kommen und Gehen, dem Austausch der Leute, die ihm Leben einhauchen. Der Großteil der Gruppe stammt aus der Stadtgemeinde, nun verstreut als Galli-Linz-Wien-Connection. Inzwischen umfasst das Kernteam 14 Leute, die in unterschiedliche Arbeitsgruppen und Kuratorien aufgeteilt sind. 20 bis 40 helfen dazu vor Ort. Die Musikauswahl ist aber nach wie vor ein kollektiver Prozess. Der experimentelle Kunstzugang eint, „trotzdem hat jeder seinen eigenen Zugang zur Kunst. Das clasht alles gut zusammen“, so Bernhard „Bune“ Forstenlechner, ein weiteres Teammitglied.

Die jeweiligen Klangfestivals stehen unter einem Motto, vermischen immer neue Kunstdisziplinen und toben sich experimentell aus. co/op, die 2022er-Ausgabe im August, wirft die Frage auf, wie Kollektive arbeiten. „Das ist kein Leitmotiv im klassischen Sinn, sondern steht für uns als Überthema, weil wir nicht nur das Festival haben, sondern auch Zines und vieles mehr. co/op ist der Abschluss einer Reihe, die zwischen Solidaritätsbegriff und Angst (in einer schrägen Gesellschaft) schwankt. co/op ist schlussendlich als Begriff von der Gaming Szene ausgeborgt“, so Auer.
Von Freejazz bis Popmusik, sind die elf auftretenden Acts experimentell und noisy – „eine flashige Bandbreite“, wie das Klangfolger-Team betont. An dieser Stelle soll jetzt nicht näher auf das Musikprogramm eingegangen werden: Informationen dazu bitte der Webseite entlocken, die das sowieso besser verdeutlicht. Sondern es geht hier um das größere Ganze: Eröffnet wird in der alten Feuerwehrhalle und am Samstag im alten Hallenbad – zwei weitere Leerstände, die der Verein nützt. Zum Rundherum sei nur so viel verraten, dass neben performativen Interventionen einige Überraschungen passieren werden, die den Festivalablauf bewusst stören. Nach den Konzerten kann man nicht sicher sein, ob sie wirklich vorbei sind. Musik steht heuer noch mehr im Mittelpunkt. Das beim zweitägigen Festival präsentierte Computerspiel und das Zine beziehen sich auf die Musik. Alles ist diesmal aber mehr zusammengesponnen als sonst.
Gerade wird ein Computerspiel entwickelt, ein zentraler Part im Gesamtkonzept – am Festival wird es den ersten Prototypen von „Klangfenigma“ geben. „Das ist alles irgendwie zufällig entstanden, während der Pandemie. Da ist das Gaming wieder zentral geworden und irgendwann ist die Lust aufgekommen, ein eigenes Spiel zu entwickeln. Es ist ein Konzept entstanden, wie wir das mit dem Klangfestival verbinden können. Sechs Leute sind involviert, vom Sound- über Grafikdesign bis zum Programmieren“, beschreibt Thomas Auer das Tool, das das Kollektive und das Organisieren des Festivals in ein Computerspiel packt. Dazu wird Galli mit den Locations in 3-D nachgestellt. Die Spieler:innen halten sich dort als Kulturverein auf und müssen alles meistern, was Kulturarbeit so süß und zäh mit sich bringt – vom Förderansuchen bis zum Bandchecken.
„Man kann eigentlich schon sagen, dass wir ein ‚Artsy-Fartsy-Festival‘ sind, aber schon noch ein bisserl Punk. Trotzdem mit Punk im Herzen“, sieht das Auer mit einem Zwinkern. „Im Herzen immer Punk, auch wenn der Kopf was anderes sagt“, ergänzt Marlene Haider, vom Zine-Redaktionsteam. Das Zine umfasst eine Arbeitsgruppe von fünf Leuten und erscheint zum vierten Mal seit 2019, prinzipiell immer zum Festival. Hand- und selbstgemacht, unterscheiden sich die Inhalte fast schon radikal zur Vornummer. Eine vielfältige Mischung aus Bild/Illustration und Text – literarisch oder theoretisch. Auf der Suche nach immer neuen experimentellen Verknüpfungen. Und mit aufwändigen Techniken gedruckt, wie die 2021 erschienene Riso-Ausgabe („SYN:COPE“). „Manchmal sind wir wahnsinnig“, schmunzelt Haider, die für das Zine-Kuratorium zuständig ist. „Die ersten drei Hefte waren Open Call, das neue ist kuratiert. Wir versuchen jetzt mehr Künstler:innen vom Festival einzubauen.“ Im Zuge der Präsentation sind außerdem Performances beim Festival geplant. Die limitierten Zines sind über ihre Webseite zu beziehen.

„Wie sieht das Ganze eigentlich der Ort?“, fragt die Referentin in die Runde. „Vor dem Machtwechsel in Galli war das schwierig, da hat es schon politische Querelen gegeben. Nun gibt es erstmals einen SPÖ-Bürgermeister. Wir sind zwar nicht angefeindet worden, haben aber gerne provoziert. Wir haben reklamiert, wir brauchen ein Kulturzentrum, Leerstände, etc. Von der Bevölkerung werden wir eher gut aufgenommen. So haben wir 2018 eine Künstlerin gehabt, die eine ‚Jodel-Performance‘ mit Leuten von Galli im Ortszentrum gemacht hat“, so Auer. „Für manche wirkt das sicher so, als ob einmal im Jahr ein Ufo landet und wieder verschwindet. Aber wir hinterlassen auch Sachen – wie die Leerstände. Am Festival entsteht kein ‚Bubble Feeling‘, die Hälfte vom Publikum ist aus Gallneukirchen. Viele Leute, die zum ersten Mal improvisierte Musik hören und das dann cool finden. Die Stimmung ist speziell, das sagen die meisten.“
Ähnliches hebt Marlene Haider hervor: „Leute vom Ort, die sagen, dass sie sich darauf freuen – oder: Gibt’s wieder so was Schräges wie mit der Harfe? Es ist total schön, wenn man die Leute mitnehmen kann. So ist sogar das lokale Fußballteam (‚Die Galliatoren‘) einmal dazugestoßen.“ Bernhard Forstenlechner erinnert sich an einen ganz speziellen Auftritt: „Es war schon immer unsere Idee, eine New-Orleans-Brass-Band-Geschichte zu haben. Gegipfelt ist das 2019 in Vabrassmas, mit dem Gigi Gratt und seiner Partie. Ein Brass-Festivalzug vom Hauptplatz weg, der super im Ort aufgenommen worden ist. Wir sind da und laden euch ein, marschiert’s mit uns mit.“ Anfangs wurde noch in der Schulküche selber gekocht – doch Rehwürstel vom regionalen Jäger und syrische Küche, die später geboten wurden, dürften nicht nur Obelix eher zusagen …

Um in der kargen Pandemiezeit kulturell am Ball zu bleiben, entstand 2021 die Idee vom Klangfestival on Tour: „Wir haben wegen Planungsunsicherheiten überlegt, kein herkömmliches Festival zu machen. Das war uns zu unsicher, daraus entstand der Gedanke, auf Tour zu gehen. Je einen Abend in Wien, Linz und Galli zu machen. Und das Festival damit auf drei Orte zu verstreuen. In Wien haben wir außerdem einen Zweigverein gegründet, die Klangfolgerin“, so Forstenlechner. „Naiv wie wir sind, haben wir gedacht, dass das weniger Arbeit wird … Es war aber ein sehr intensiver Sommer. Schön, aber intensiv“, findet Haider.
Fast schon zum Drüberstreuen gibt es noch eine 5-CD-Box („remote“) von Artists, die bei den Festivals dabei waren: Konzertaufnahmen und exklusive Premieren. Schon seit den Anfangstagen ist ein eigenes Label geplant – mit Klangfolger-Records haben sie sich damit quasi selbst beschenkt. Es werden weitere Tonträger folgen, so werden alle Liveshows aufgenommen – eine Schallplatte wäre ein feines Ding, sprengt aber noch das Budget.
Mittlerweile hat man sich über die Jahre hinweg mehr professionalisiert und immer mehr Sponsoren gefunden. Besonders spannend ist ein neues Klangfolger-Projekt, das als fixe Kultureinrichtung in Galli geplant ist. „Wir haben auch um EU-Gelder angesucht. Also eine Leader-EU-Basisförderung für einen Leerstand, das alte Hallenbad, das quasi ein Kulturzentrum werden soll. Das Festival wird am Samstag in diesem Bad eröffnet. Es steht seit 2013 leer – seit Jahren versuchen wir, dort reinzukommen. Jetzt ist es endlich so weit, es wird erstmals bespielt“, erklärt Thomas Auer die ambitionierten Pläne des Zwischennutzungsprojekts, das danach permanent genutzt werden soll. Neben dem (bereits eröffneten) Alten Bauhof in O-Heim und der Schießhalle in Linz ist das eine weitere Kulturinstitution, die hoffentlich bald für verschärfte gallische Verhältnisse sorgen wird. Fahr nicht fort, sauf im Ort – oder, besser: Klang im Ort und alle sind dort.

Klangfestival // co/op
19./20. August 2022
Gallneukirchen
klangfestival.at

Anreise: Öffentlich gut erreichbar mit Bus vom Bahnhof Linz, Shuttle zurück nach Linz. Gratis Campingplatz. Festivalpass zu korrektem Preis.

Früh. Kraut. Deal.

Der Dude kümmert sich wieder mal um Randgruppen. Also kulinarische oder präziser formuliert pflanzliche Randgruppen. Während aufgeregte HobbyköchInnen und saisonbewusste ProfessionistInnen sich im Spargel ergehen, Erdbeeren ohne Ende servieren, dem Rhabarber huldigen oder Löwenzahnsalat als heißen Scheiß abfeiern, erfreuen sich die wahren Genuss-SpezialistInnen am zarten Kraut. Genauer gesagt am Frühkraut, das ab Mai unsere Gaumen und unsere Herzen berührt. Zart im Geschmack, aber dennoch mit unverkennbarer Krautnote ausgestattet, bietet es eine mannigfaltige Varianz an Zubereitungsmethoden und Serviervorschlägen. Der Dude bietet hier drei seiner Rezeptfavoriten.

Frühkrautcoleslaw
Ingredienzien:
1 Frühkraut
1 Bund Frühlingszwiebeln
2 große Karotten
5 EL Weißweinessig
5 EL Sauerrahm
5 EL Mayonnaise
½ Zitone Salz und Pfeffer
Frühkraut fein schneiden und Karotten fein hacheln, Frühlingszwiebel mit Messerrücken anklopfen und dann fein schneiden. Essig, Rahm mit Mayonnaise, Salz, Pfeffer und dem Saft einer halben Zitrone verrühren und mit Kraut- und Karottenstreifen sowie den feinen Frühlingszwiebeln vermengen. Mindestens 2 Stunden im Kühlschrank ziehen lassen.
Pimp my slaw: Eine einfache, aber äußerst schmackhafte Variante erhält man durch Beimengen von 1 EL geröstetem Sesamöl, frischem Ingwer und schwarzem Sesam.

BBQ-Frühkraut
Ingredienzien:
1 Frühkraut
1 TL Pulver vom geräucherten Paprika
2 EL Öl mit möglichst neutralem Geschmack (Rapsöl, Sonnenblumenkernöl) Salz & Pfeffer
Frühkraut halbieren und mit der Schnittkante auf den Grill legen (alternativ Grillpfanne). Die Temperatur sollte zu Beginn nicht zu hoch sein, um das Kraut etwas anzugaren. Währenddessen Öl, Paprikapulver mit Salz und Pfeffer vermengen. Kraut 1x wenden und die Oberseite etwas angaren. Anschließend bei hoher Hitze die Unterseite anrösten. Dann vom Grill nehmen und mit der Ölmischung einpinseln. Fertig. Dazu frisches Roggenbrot und als Dip den Rest vom Öl-Paprikagemisch mit etwas Mayonnaise verrührt.

Flammkuchen mit Frühkraut und Nüssen
Ingredienzien:
750g Brotteig (idealweise der eigene Sauerteig)
1 Frühkraut
1 rote große Zwiebel
1 Becher Sauerrahm
3 El Olivenöl
1 Hand voll Nüsse (Walnüsse, Pekan …)
Salz und Pfeffer
Frühkraut fein schneiden, Zwiebel noch feiner schneiden und mit Salz, Pfeffer, 2 EL Öl vermengen und mindestens 1 Stunde ziehen lassen. Währenddessen Rahm mit 1 EL Öl und Salz/Pfeffer vermengen, Teig auf Blechgröße ausrollen, die Rahmgeschichte gleichmäßig auf dem Teig verteilen und mit der Kraut-Zwiebel-Mischung bedecken. Abschließend eine Handvoll Nüsse darauf verteilen und bei Umluft 180 Grad 10-15 Minuten backen.
Dieses Rezept als Verneigung vor den Gründerinnen der Donauwirtinnen in Linz/Urfahr. Diese haben damals mit Gespür und Witz den Flammkuchen auf die Karte gesetzt. Der vorhandene Pizzaofen wurde einer neuen, wunderbaren Verwendung zugeführt. Dass die Donauwirtinnen keine Innen mehr sind, ist schade. Aber was die Nachfolger als „Pizza“ anbieten, ist eine Schande. Wieder einmal: mit dem Strom geschwommen und dabei untergegangen.