CONSTANZE

Plastische Konzeption Keramik im Container. Foto Magdalena Berger

Noch bis 2. Juli 2022 verwandeln sich zwei Seefrachtcontainer am Herbert-Bayer-Platz in Linz in das interdisziplinäre Kunstprojekt CONSTANZE.
Das Programm wird laufend aktualisiert: constanze.org

Die Welt neu denken …

… am Beispiel des libertären Kommunalismus. Die Referentin bringt seit mehreren Heften eine Serie über soziale Bewegungen und emanzipatorische Entwicklungen. Peter Haumer und Andreas Gautsch über den libertären Kommunalismus: Von der sozialen und ökologischen Katastrophe zu einem anderen Aufbau der Gesellschaft.

Foto Andreas Gautsch

Die Menschheit steckt mitten in einem gewaltigen Umbruchsprozess, dessen Ausgang offen ist. Die Abkehr vom, und die Überwindung des weltweiten Kapitalismus wird immer dringender und die Frage stellt sich, wie wir unsere Gesellschaft und Ökonomie am besten organisieren können, um weitere soziale und ökologische Verwüstungen unseres Planeten verhindern zu können. Aus der Geschichte können wir lernen, dass es immer wieder Zeitpunkte gegeben hat, in dem das herrschende System zusammengebrochen ist, und die Menschen sich neu organisieren mussten, um ihr Überleben sichern zu können. Einer dieser Versuche war auch die Pariser Kommune 1871, in der Karl Marx „die endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte“, sah. Die Kommune-, aber auch die Rätebewegung nach dem 1. Weltkrieg zeigen das Potential auf, welches direktdemokratische Strukturen in sich tragen, um die Fähigkeiten jedes einzelnen Menschen zur Entfaltung zu bringen.

Quellen und Verzweigungen einer Idee
Der libertäre Kommunalismus verortet sich in dieser Tradition und ist eine anarchistische Konzeption, welche die Gesellschaft dezentralisieren und über miteinander vernetzte Gemeinden organisieren möchte. Wichtige Vordenker:innen dieses Ansatzes sind Murray Bookchin (2006 verstorben) und Janet Biehl. Beide waren mit dem 1974 gegründeten Institut für Sozialökologie in Vermont (Massachusetts/ USA) verbunden. Dort lehrt und forscht seit einigen Jahrzehnten auch Chaia Heller. In einem von Oliver Ressler geführten Interview, das von Jens Kastner übersetzt wurde1, und hier immer wieder zitiert werden wird, erklärt sie die Grundstruktur dieses Modells und schildert die Entstehungsgeschichte des libertären Kommunalismus, den sie als „politischen Arm der Sozialökologie“ betrachtet.

Bevor wir auf ihre Schilderungen eingehen, noch ein kurzer Hinweis zu den beiden zuvor genannten Personen. Murray Bookchin, der 1921 in New York geboren wurde, gehörte zunächst der marxistisch geprägten Linken an, wandte sich vermehrt ökologischen Fragen zu und bekannte sich Anfang der 1950er Jahre zum Anarchismus. Bekanntheit erlangte er durch sein aufrüttelndes Pamphlet Hör zu Marxist!, in dem er schreibt: „Soziale Revolutionen werden nicht von Parteien, Gruppen oder Kadern gemacht, sondern sind das Resultat tief eingewurzelter geschichtlicher Kräfte und Widersprüche, durch die weiten Kreise der Bevölkerung zum Handeln gezwungen werden.“ Janet Biehl kam 1987 mit dem libertären Kommunalismus in Berührung, arbeitete bis 2011 am erwähnten Institut und veröffentlichte zahlreiche Bücher und Artikel zum Öko-Anarchismus und Öko-Feminismus. Die demokratische Neugestaltung des Norden Syriens bewog Biehl ab 2014 mehrmals nach Rojava zu reisen, um mit der dortigen revolutionären Bewegung in Austausch zu treten und darüber zu berichten. Im letzten Jahr veröffentlichte sie die Graphic Novel „Their Blood Got Mixed: Revolutionary Rojava and the War on ISIS“.

Welche Strukturen es benötigt, damit die Bevölkerung handeln kann, und wie dies mit der Umgestaltung des politischen Systems in Nordsyrien zusammenhängt, wird in der Folge entlang des Interviews mit Chaia Heller erläutert werden.

Das Modell des libertären Kommunalismus
Das Modell klingt in den Grundzügen einfach: Bürger:innen von Dörfern, Gemeinden und Städten sollen in die Lage versetzt werden, sich selbst zu regieren. Die Menschen finden sich als Bürger:innen in lokalen Versammlungen in ihren Stadtteilen oder Dörfern/ Gemeinden zusammen, beratschlagen und entscheiden über ihre Angelegenheiten. Biehl schreibt in ihrem Buch über den libertären Kommunalismus, dass in Städten die „im Rathaus angesiedelten Kompetenzen auf die einzelnen Stadtviertel oder Bezirke übergeben“ würden, in den „übersichtlichen Dorfgemeinden“ könnte auf eine „Dezentralisierung verzichtet werden“.

Egal ob in einer Versammlung in den Metropolen, Kleinstädten oder Dörfern, es wird darüber beratschlagt werden müssen, welche Institutionen (weiterhin) benötigt werden und wie diese zu gestalten sind. Wie wird die Abfallbeseitigung organisiert? Wie soll das Bildungssystem aussehen und wie ist dieses zu organisieren? All die Fragen des täglichen Lebens und jene darüber hinaus werden auf Basis eines Bottom-up-Prinzips ausverhandelt und organisiert.

Diese Körperschaften der Basis- oder Generalversammlungen, oder welchen Namen sie auch immer bekommen mögen, wären die treibende Kraft der Politik in der Gesellschaft. Die Idee ist, dass Entscheidungen im Namen der Bevölkerung bei derselben liegen und deshalb Politik von und für die Bevölkerung gemacht wird. Wer sich jedoch auf dieses Gedankenspiel einlässt, wird sofort bemerken, dass diese Form des Selbst-Regierens ein anderes Denken und neue Formen der sozialen Praxis erfordert.

Um die berühmte „Schrebergartenmentalität“ zu verhindern, die darin besteht, dass einzelne Gemeinden mehr oder weniger isoliert ihren Einzelinteressen nachgehen, und da bestimmte Fragen und Probleme überregionale bis globale Organisationen bedürfen, gibt es eine zweite Strukturebene: Die Föderation – also einen föderalen Zusammenschluss der lokalen Körperschaften nach dem Räteprinzip. Diese beiden Strukturprinzipien, die autonomen kleinen Basiseinheiten und die verbindende Föderation, bilden gleichsam ein Spannungsfeld. Zwar ist die lokale Körperschaft in der Föderation enthalten und die Föderation wird als Ergänzung zur lokalen Körperschaft gedacht, doch gehören sie zweier verschiedener Sphären an: dem Besonderen und dem Allgemeinen. Um die „Prinzipien von Autonomie und Kooperation in eine Balance zu bringen“, werden, so Heller, die lokalen Ebenen durch „ein größeres Kollektiv, die Föderation, eingeschränkt“. Die gegenwärtige Klima- und ökologische Krise bedarf beispielsweise auch einer globalen Perspektive und somit einer funktionierenden föderalen Struktur. Wie diese ausgestaltet sein müsste, ist ebenfalls keine geringe Herausforderung für neue Denk- und Handlungsweisen. Dass das Modell des libertären Kommunalismus eher vage gehalten ist, weiß auch Heller. Für sie ist es „Absicht“, denn es ist davon auszugehen, „dass die Beteiligten in den Bewegungen selbst darum kämpfen müssen, wie sie ihre allgemeinen Prinzipien der Nicht-Hierarchie, der Kooperation, der direkten Demokratie, der sozialen Gerechtigkeit und der Ökologie leben wollen.“

Eine Politik ohne Politiker:innen und eine demokratische Wirtschaft
Ein Schlüssel, um diese beiden Ebenen von lokaler Autonomie und Föderation stabil zu verbinden, ist die Rätestruktur. So würden die lokalen Körperschaften, um mit anderen Gemeindeverwaltungen oder mit der Föderation kooperieren und sich abstimmen zu können, Delegierte ermächtigen und entsenden. „Ein Delegierter ist einem Boten ähnlich“, so Heller, „er überbringt im Wesentlichen den Auftrag der Gruppe.“ Der/die Delegierte ist immer abrufbar. Die Funktion ist zeitlich befristet, unterliegt dem Rotationsprinzip und sollte nie professionalisiert werden. Dies bedeutet aber nicht, dass die Föderation die letzte Instanz ist. Diese kann wiederum Delegierte entsenden, um eine überregionale oder globale Föderation zu bilden. Mit Heller ist jedoch Folgendes zu beachten und zu unterscheiden: „Bei dieser gesellschaftlichen Ordnung handelt es sich keinesfalls um eine Abwandlung des bürgerlichen Staates, denn: Es gibt keine mit Entscheidungsmacht ausgestatteten Repräsentant:innen, und die Räte der Föderationen haben für sich genommen keine Entscheidungsbefugnis.“ Sie haben eine rein kommunikative und administrative Funktion. Die Berufsgruppe der Politiker:innen wäre demnach Geschichte, eine aktive Bürger:innenschaft würde in den Vordergrund treten. Die Bürger:innen würden für sich selbst sprechen, ihre Anliegen und Vorstellungen zur Diskussion stellen und in einen Aushandlungsprozess mit den anderen Beteiligten treten. Wie so eine Versammlung ablaufen könnte, beschreibt Biehl recht ausführlich. „Als erstes wird die Versammlung sich konstituieren und sich eine Satzung oder Geschäftsordnung geben. Darin wird festgelegt, wie Beschlüsse gefasst werden sollen, welche Ämter eingerichtet werden und wie diese besetzt werden …“. Auch die wirtschaftlichen Fragen würden in diesen zivilen Bürgerversammlungen diskutiert und entschieden werden.
Der Kapitalismus ist das Reich des Profits, welches durch den Konkurrenzkampf chaotisch geregelt wird. In diesem wird keine Rücksicht auf Umwelt und Menschen genommen. Daher würde so manche Produktion im libertären Kommunalismus sofort eingestellt werden. Die dadurch freiwerdenden Arbeitskräfte würden auf die nützlichen und notwendigen Produktionsketten aufgeteilt werden, was eine massive Arbeitszeitverkürzung ermöglichen würde. Die Menschen bekämen dadurch die Zeit, die sie brauchen, um direktdemokratisch ihre Welt verwalten zu können. Das bedeutet aber auch, dass Produktion und Verteilung nicht alleine in den Händen der Arbeiter:innen liegt, sondern in denen aller Bürger:innen.

„Der libertäre Kommunalismus befindet sich erst in einer experimentellen und embryonalen Phase. Er ist eine im Entstehen begriffene Idee, die auf ein gewisses Maß an Praxis in so genannten politischen Experimenten zurückgreifen kann“, so Heller. Gelebte Beispiele finden sich bei den Zapatistas in Chiapas2 (Mexiko) oder in Rojava (Nordsyrien), wo seit Jahren daran gearbeitet wird, eine demokratisch-ökologische Zivilgesellschaft zu schaffen. Angestrebt wird dabei nicht eine kurdische Eigenstaatlichkeit und auch keine Konföderation von Teilstaaten, sondern der Aufbau einer Selbstverwaltung durch kommunale Basisorganisierung und ohne die bestehenden Staatsgrenzen anzutasten. Diese soll erreicht werden durch eine gleichberechtigte Föderation von Regionen, Kantonen, Städten und Kommunen. Dieses gesellschaftliche und wirtschaftliche Experiment geschieht – trotz oder gerade wegen – eines zerstörerischen, lange anhaltenden Kriegszustandes in dieser Region. In einem Interview erzählt Janet Biehl 2016 von ihren ersten Eindrücken in Rojava, die sie erschütterten und zugleich beeindruckten. „For the first time I saw how the concentrated power of the collective human will can transform a social order in just a short time. (…) While Murray was alive, I had studied revolutionary history and helped him write books about it. But to see such a thing before my eyes—it was extraordinary.“3

Peter Haumer, Institut für Anarchismus­forschung, siehe auch: anarchismusforschung.org

Andreas Gautsch, Institut für Anarchismus­forschung, siehe auch: anarchismusforschung.org

1 www.anarchismus.at/texte-anarchismus/libertaerer-kommunalismus/6147-chaia-heller-libertaerer-kommunalismus (Stand, 22. 5. 22)
2 Siehe den vorletzten Beitrag der Serie zu der Reise der Zapatistas. playground233.servus.at/gira-zapatista
3 theanarchistlibrary.org/library/janet-biehl-thoughts-on-rojava-an-interview-with-janet-biehl (Stand, 22. 5. 22)

Die Serie in der Referentin ist auf Anregung von Andreas Gautsch, bzw. der Gruppe Anarchismusforschung entstanden, siehe auch: anarchismusforschung.org

Text Peter Haumer und Andreas Gautsch

Stadtblick

Foto Die Referentin

Das Professionelle Publikum

Für diese Nummer haben wir Daniela Gutmann, Cornelia Hülmbauer, Markus Kaiser-Mühlecker, Fritz Schwarz, Adriana Torres Topaga und das Klangfestival-Team eingeladen, persönliche Tipps für die Sommermonate zu geben. Voilà und herzlichen Dank!

© Bastian Lehner

Daniela Gutmann
bewegt sich in den Bereichen Videokunst, Performance, Fotografie und Sound. Ihr Interesse liegt in der Spannung zwischen physischen, realen Gegebenheiten, sinnlicher Wahrnehmung und dessen Entfremdung. Aktuell studiert sie im Master Plastische Konzeptionen / Keramik an der Kunstuniversität Linz.

CONSTANZE
Opening der Ausstellung Scirocco und Bananenstaude Scirocco und Mimose Scirocco und Gummibaum
Girls Jam by Noise Meetup
(Gemischtes) DJ Set
Finissage

Cornelia Hülmbauer
ist freie Autorin und Gewinnerin des Marianne.von.Willemer-Frauen.Literatur.Preises der Stadt Linz 2021.

process*in
PROSA für Welt

© Subtext.at

Markus Kaiser-Mühlecker,
studierte MultiMediaArt, etwas Soziologie und etwas Journalismus. Nachdem die eigene Band und der Kulturverein das Zeitliche segneten, ist er 2005 mit KM Film als Dokumentarfilmer, Videofilmer und Multimediadesigner tätig. In der aktuellen Periode im OÖ. Landeskulturbeirat tätig und propagiert mit dem Projekt „Cowork OÖ“ sogenannte GemeindeSpaces.  www.kmfilm.at

Atomlos durch die Macht
Stefanie Sargnagel
Attwenger
RID – Rock im Dorf
„Wilderer“

© Michael Dworschak

Fritz Schwarz
leitet den Botanischen Garten seit 2005. Ein wichtiges Anliegen ist es ihm, die Faszination und Vielfalt der Natur in Form eines artenreichen und gepflegten Gartens den Besucher*innen näher zu bringen und Kunst und Kultur mit Natur in spannende Verbindungen zu setzen. Ebenso wichtig ist ihm, Natur- und Artenschutz im Linzer Stadtgebiet im Rahmen der Arbeit der Naturkundlichen Station, die mit dem Botanischen Garten verbunden ist, umzusetzen und einen wichtigen Beitrag zum Klima- und Biodiversitätsschutz zu leisten.

Ausstellung: Apfel, Ahorn, Avocado – Bäume und Menschen im Spannungsfeld von Klimakrise und Nachhaltigkeit
Wort & Klang-Konzert Timna Brauer singt und liest Arik Brauer: Die Farben meines Lebens.

© Catalina Ruiz

Adriana Torres Topaga (ATT)
ist freischaffende Künstlerin, Grafikdesignerin, Mitgründerin des Vereins LAB ON STAGE und Gastlehrende in den Bereichen Bildpolitik, kritische Sozialarbeit und Kunst an Universitäten in OÖ, Bern, und Bogotá.  www.puntos.at

Ausstellungseröffnung: Die Zukunft ist passé
Nadia Granados / Performerin COLOMBIANIZACIÓN

 

Klangfestival

Klangfestival 2022 co/op
Zine Release

Tipps von Die Referentin

 

 

Open Calls aus Kunst, Kultur und Wissenschaft
Tinou Ponzer und Paul Haller Inter* Pride
Die Fellner Lesung. Anleitung zum Fellnerismus
chi-mashie Ateliergespräch Elevator Pitch

Editorial

Es reiht sich Krise an Krise. So als ob die vielen sich aneinanderreihenden Krisen nicht zu Ende gehen dürften. So als ob sich in jeder Krise, wie im Bauch einer Babuschka, eine immer neue Krise befinden müsse. Und Stand der Dinge in den letzten Februartagen: Jetzt also auch noch Krieg. An den Rändern Europas. In Europa.

Tatsächlich … Krieg? Aber nein: Ein Krieg ist das nicht – folgende Korrektur: Es heißt Spezialoperation, Friedensmission, in der russischen Medienlandschaft, deren Mitspieler, bis auf einige wenige, die tapferen Widerstand leisten, weitestgehend auf Kreml-Linie gebracht wurden. Dort ist das Wort „Krieg“ neben dem Begriff „Invasion“ seit einigen Tagen nicht mehr erwünscht … Und so setzen Fake Words zu neuen, bisher nicht erreichten Höhenflügen an … – und der Begriff des Euphemismus ringt einem hierbei nur mehr ein müdes Lächeln ab.

Fake News aus Fake Words kreieren dann eine Fake World. Und verloren geistern sie nun herum, die Wörter, die keinerlei Halt finden, willkürlich ausgespuckt in Zeit, Raum und Wahnsinn.

Man fragt sich mittlerweile – leider nicht zum ersten Mal – ob es diese eine Welt tatsächlich noch gibt, und was das dann ist, dieses andere, mit dem man konfrontiert ist. Und dann verwirft man den Begriff, der einem durch den Schädel brummt, weil das, was da vor den eigenen Augen passiert, keine Parallelwelt mehr ist. 

Und ja, dann denkt man an Dante.

Gleichzeitig fühlt man ihn, den schweren eiskalten Atem. Die Zensur schlägt zu: Eine wächserne Puppe, die auf der Bettkante sitzt. Wer weiß, wer gemeint ist? Sie wohnt im Kreml. Sie geifert und lacht. Es dröhnt und schallt. Plötzlich riecht es nach verbranntem Fleisch und nach Irrenhaus, nach Paranoia und Tod. Endlich der herbeigesehnte Schlaf. Was im Traum alles passiert: Menschen, die mit Fahnen bewaffnet sind. In Russland. Wie staatsgefährdend. Wie bizarr. Wie verstörend. Fort mit ihnen. Sie werden eingesperrt. Auf dass gesiebte Luft ihre Köpfe reinwaschen möge. … … Kein Ende in Sicht.

Die Referentin hat für diese Zeilen ihre Mitarbeiterin Sandra Brandmayr gebeten, einen Blick in diverse russische Medien zu werfen. Diese Impression ist das Ergebnis. Sie bleibt ohne Ende. Wir ziehen somit einen relativ großen Bogen zu einem Editorial, das normalerweise auf die Inhalte der Ausgabe verweist. Wir nehmen einen uns passend vorkommenden Satz heraus, der aus dem Professionellen Publikum stammt: Und dann speibt man schon fast, aber kontrolliert. Das Zitat findet sich beim Tipp von Alexander Till. Bitte über den tatsächlichen Zusammenhang selber nachlesen.

Aber so ist das irgendwie.

Das andere Zitat, das wir an dieser Stelle anführen wollen, stammt von Sabine Gebetsroither und Katharina Riedler, auch aus dem Professionellen Publikum. Es ist auch aufs Cover gewandert und sagt, was Linz nach Corona braucht. Nämlich: Tanzen, tanzen, tanzen. Das war vor Russlands Krieg in der Ukraine. Und ja, stimmt aber auch.

Und das ist auch Fakt: Wie soll sich das zusammen ausgehen?

Damit eine Schlussanmerkung zum Internationalen Frauentag: Nach dem Kriegsbeginn plant Feminismus & Krawall im Moment den 8. März um. Zu einem Happening, das den öffentlichen Raum zurückerobern und Solidarität bezeugen will.

Zum 8. März am Linzer Hauptplatz laden ein,

die Referentinnen

Tanja Brandmayr und Olivia Schütz

Das grüne Märchenbuch aus Linz

Die von Christine Ivanovic kuratierte und von Peter Karlhuber gestaltete Ausstellung Das grüne Märchenbuch aus Linz. Ilse Aichinger (1921–2016) im Adalbert-Stifter-Institut beleuchtet erstmals Ilse Aichingers Be­zie­hung zu Linz. Diese Beziehung war vielschichtig. Von Claudia Lehner.

Bibliomanie des Vaters, freundliche Irre und Sprache, die aus dem Schweigen kommt: Die aktuell laufende Ausstellung zu Ilse Aichinger. Foto Otto Saxinger

Ilse Aichinger verbrachte in Linz nicht nur ihre frühen Kindheitsjahre, an die sie sich in späten Texten erinnert, sie publizierte zwischen 1952 und 1981 auch in 19 Jahrgängen des Literarischen Jahrbuchs der Stadt Linz, und sie besuchte diese Stadt mehrfach, unter anderem im Rahmen von Lesungen.

Zum Wohnort wird Linz für Ilse Aichinger bereits in ihrem Geburtsjahr 1921. Sie, ihre Zwillingsschwester Helga, die Mutter Berta Aichinger, eine Ärztin, und der Vater Ludwig Aichinger leben hier unweit der Herz-Jesu-Kirche in der Dürrnbergerstraße, gegenüber der Waldeggschule, in der der Vater als Fachlehrer tätig ist. Daneben ist er Autor, Journalist und ein rühriger Literaturvermittler. Unter anderem gibt er 1919/20 die Theaterzeitschrift Die Maske heraus, hält zahlreiche Vorträge zu literarischen Themen und engagiert sich im 1919 gegründeten Verein „Eichendorff-Bund“, der etwa Lesungen und Kammerspielabende organisiert. Berta Aichinger wiederum, die ihren neun Jahre älteren Mann erst im Dezember 1920 geheiratet und kurz darauf in Linz eine Praxis eröffnet hat, kehrt nach der Geburt der Zwillingstöchter beinahe nahtlos wieder in ihren Beruf als Ärztin zurück. Auch sie hält neben ihrer ärztlichen Tätigkeit gut besuchte Vorträge, vor allem zur gesundheitlichen Aufklärung von Frauen. Im März 1923 wird sie zur Schulärztin für die höheren Mädchenschulen der Stadt bestellt, und mit Dezember 1925 zur ersten hauptberuflichen Jugendamtsärztin von Linz. Der vielbeschäftigten Mutter, die neben ihren zahlreichen Tätigkeiten auch Dienstreisen zur Weiterbildung, etwa bei dem von ihr geschätzten Individualpsychologen Dr. Alfred Adler in Wien, unternimmt, bleibt wenig Zeit für ihre beiden Töchter. Aus eben diesem Grund kommt sie wohl in den Erinnerungstexten Ilse Aichingers zu diesen Jahren nicht vor, wohingegen sich die Autorin in späten Texten (Film und Verhängnis, Unglaubwürdige Reisen) sehr deutlich an ein etwas unheimliches Kindermädchen namens Emma Schrack erinnert. Die „kurzfristig und auf Probe aus der Linzer Landesirrenanstalt“ entlassene Frau, die angeblich an Schizophrenie litt, flößte den Zwillingen Angst ein, wenn sie sie mit von den Wärtern der psychiatrischen Anstalt übernommenen Klammergriffen durch die Stadt führte und bei Ungehorsamkeit mit dem Wachmann drohte. Die täglichen Spazierwege enden nicht selten an den Toren der psychiatrischen Anstalt, wo Fräulein Schrack sich erschöpft im Gras niederlässt und einschläft, während die Mädchen durch die Lücken in den Mauern die „freundlichen Irren“ beobachten. Sie sind ein friedliches Gegenbild zu dem, was zeitgleich im ganzen Land heraufzieht, die für Ilse Aichinger und ihre mütterlicherseits jüdische Familie bald zur Bedrohung werdenden antisemitischen Angriffe und Einschränkungen.

Zuvor aber ereignet sich ein familiärer Riss. Ludwig Aichinger leidet an Bibliomanie, dem zwanghaften Horten von Büchern, für deren Erwerb alle verfügbaren monetären Mittel eingesetzt werden. Die, wie Ilse Aichinger schreibt, mehrfach gekauften Gesamtausgaben von Ibsen, Stifter oder Stelzhamer verschlingen bald das gesamte Familieneinkommen und werden vom Fachlehrer sogar aus unterschlagenen Beiträgen für Schulausflüge finanziert. Von mit Pfandzetteln beklebten Möbelstücken in der Linzer Wohnung und unbezahlten Christbäumen zu Weihnachten berichtet die Autorin. Schließlich bleibt der Mutter keine andere Wahl mehr – die Ehe wird am 4. August 1927 geschieden, Berta Aichinger und ihre Töchter ziehen nach Wien.

Die folgenden Jahre, die sich für den mütterlichen Zweig der Familie verheerend entwickeln, bedeuten eine Zäsur in Ilse Aichingers Leben und Schreiben. 1938, mit dem „Anschluss“ Österreichs, verliert Berta Aichinger in Wien Arbeits- und Wohnrecht und zieht mit ihren Töchtern zur Mutter. 1939 können Klara Kremer, eine Schwester Berta Aichingers, und einige Monate später Helga Aichinger nach London emigrieren, jedoch ist mit Kriegsausbruch ein Nachkommen der restlichen Familie unmöglich geworden. 1942 werden Großmutter, Tante und Onkel Ilse Aichingers nach Maly Trostinec (Weißrussland) verschleppt und ermordet. Wie durch ein Wunder überleben Ilse Aichinger und ihre Mutter den Krieg. Erst im Dezember 1947 können sich Helga und Ilse Aichinger sowie Berta Aichinger und Klara Kremer in London wiedersehen.

Die Kriegserfahrungen und die Trennung von der Zwillingsschwester sind der Anstoß für Ilse Aichinger, ihren ersten und einzigen Roman „Die größere Hoffnung“ (1948) zu schreiben, der den Beginn ihrer schriftstellerischen Karriere markiert. Ab 1952 – sie wird mit dem Preis der Gruppe 47 für die „Spiegelgeschichte“ ausgezeichnet – werden der jungen Autorin mehrfach Preise und Auszeichnungen zugesprochen. Zum selben Zeitpunkt tritt auch der Redakteur der Stilleren Heimat, des Literarischen Jahrbuchs der Stadt Linz, Karl Kleinschmidt, an Ilse Aichinger heran und ersucht sie wiederholt um einen Text für das Jahrbuch. Sie sendet ihn schließlich und er wird mit Dank angenommen. Dieses Prozedere wiederholt sich nun Jahr für Jahr. Kleinschmidt bleibt hartnäckig und wirbt um Texte, und Aichinger beschickt ihn, soweit sie etwas Passendes zur Hand hat oder rechtzeitig fertigstellen kann.

Erstaunlich erscheint dieser Vorgang, wenn man die Entstehungsgeschichte der Publikation Stillere Heimat näher betrachtet. Sie war 1940 während des Krieges im Zeichen des Nationalsozialismus gegründet worden und sollte – der Name war Programm – statt auf lautstarke Propaganda auf die Idealisierung von Heimat, Natur und ursprünglicher menschlicher Gemeinschaft mit starkem regionalen Bezug setzen. Kriegsbedingt 1944 eingestellt, wurde Stillere Heimat 1952 unter Beibehaltung sowohl des Titels wie des ursprünglichen Konzepts wiederaufgenommen. Damit lag nicht nur die Redaktionsleitung bei Karl Kleinschmidt, der bereits in der Gründungsphase an der Redaktion mitgewirkt hatte und ab 1952 wiedereingestellt wurde, auch BeiträgerInnen der im Krieg erschienenen Vorgängerausgaben waren hier wie ehedem vertreten. Dieser Umstand kann Ilse Aichinger nicht verborgen geblieben sein. Dennoch setzt sie ihre kontinuierliche Mitwirkung am Literarischen Jahrbuch der Stadt Linz fort. Über die Jahre gesellen sich jüngere AutorInnen wie Doris Mühringer, Heimrad Bäcker, Marlen Haushofer, Thomas Bernhard, Elfriede Gerstl und andere zu den teils nationalsozialistisch belasteten BeiträgerInnen bzw. lösen diese ab.

Einige der zwischen 1952 und 1981 im Jahrbuch der Stadt Linz (Stillere Heimat bzw. ab 1970 Facetten) veröffentlichten Texte Aichingers wurden erstmals hier gedruckt, andere erschienen nur hier. In Summe bilden diese Texte paradigmatisch Aichingers literarische Entwicklung in ihren produktivsten Jahren ab. Mit einem jeweiligen Kommentar der Kuratorin versehen stehen sie daher in der Ausstellung (in Form der originalen Jahrbücher, die zum Lesen in die Hand genommen werden dürfen) im Mittelpunkt. Einige der Texte, u. a. ihre berühmte Erzählung „Wo ich wohne“ sind auszugsweise auch in Hörstationen (in Form von hängenden Sitzkokons) nachzuhören.

Ein weiterer wichtiger Bezugspunkt Ilse Aichingers zu Linz ist der Autor Adalbert Stifter gewesen, in dessen ehemaligem Wohnhaus das 1950 gegründete Adalbert-Stifter-Institut seit Mitte der 50er Jahre untergebracht ist. Im Jahr 1955, anlässlich des 150. Geburtstages Stifters, verfasst Aichinger ein ausführliches Rundfunkfeuilleton zu dem berühmten Dichter, den sie ungewöhnlicherweise selbst einliest. Der Essay ist eine Handlungsanleitung zur genauen Lektüre der Werke Stifters und würdigt Adalbert Stifter als einen Autor, dem es wie keinem anderen gelingt, Trost zu spenden. Hintergrund ist Stifters eigene Erfahrung des Schmerzes, des Todes, der Grenzerfahrung, so glaubt Aichinger. Die Erzählung „Bergkristall“, in der die beiden Kinder Konrad und Sanna wie durch ein Wunder aus Schnee, Eis und Finsternis gerettet werden, spricht – wohl auch durch die Erfahrung der Trennung und des Überlebens der Zwillingsschwestern – Aichinger im Besonderen an. Sie kannte die Erzählung aus ihrer Kindheit, liest sie aber als junge Erwachsene, nach den Erfahrungen des Krieges und dem Erscheinen ihres ersten Romans „Die größere Hoffnung“, neu. In diesem präzisen und langsamen Lesen entdeckt sie plötzlich die Schreibweise Stifters, sein genaues vertiefendes Betrachten, welches auch für sie selbst zum Leitmotiv wird und eine Sprache zur Folge hat, die aus dem Schweigen kommt. Sie wird zu einer Grundprämisse für Aichingers künftiges Werk. Die Autorin wird sich bis an ihr Lebensende immer wieder mit Stifter auseinandersetzen, humoristisch in dem Dramolett „Das neue Lied“ (1957), in Essays („Weiterlesen. Zu Adalbert Stifter“, 1979; „Stifters Subtext“, 2005), sogar noch in der letzten von ihr selbst publizierten Zeitungsglosse (Die Presse, 22. 10. 2005).

Mit dem Adalbert-Stifter-Institut, das die Autorin bereits im Oktober 1957 erstmals besuchte, blieb Aichinger bis zuletzt verbunden. Nach Gründung des OÖ. Literaturhauses im StifterHaus liest sie dreimal hier, zuletzt 2005 aus ihrem Journal des Verschwindens.

Wie wenig verschwunden sie und ihre Literatur für Linz sind, beweisen die nun laufende Ausstellung und der parallel erscheinende Katalog.

 

Das grüne Märchenbuch aus Linz. Ilse Aichinger (1921–2016)
20.10.2021 – 21.6.2022 (coronabedingt verlängert) / täglich, außer Montag 10–15 Uhr
Adalbert-Stifter-Institut des Landes OÖ / StifterHaus
Adalbert-Stifter-Platz 1, 4020 Linz
www.stifterhaus.at

Di 8. März, zum Internationalen Frauentag:
Präsentation der Briefeditionen „Helga und Ilse Aichinger ‚Ich schreib für Dich und jedes Wort aus Liebe‘. Briefwechsel Wien – London 1939–1947“

Stadt oder Chaos

Linz zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Die baulichen Erfordernisse einer wachsenden Stadt waren zu bewältigen. Curt Kühne (1882–1963) und Julius Schulte (1881–1928) treiben die Entwicklung voran. Bauten wie Parkbad, Volksküche, Diesterweg- oder Weberschule, Siedlungsbauten, Industriebauten und private Wohnhäuser prägen bis heute das Stadtbild. Georg Wilbertz über die beiden Architekten und Stadtplaner, ihr vorbildliches Wirken für Linz und ihre Relevanz bis in die Gegenwart.

„So lange ich in Linz bleibe, werde ich mich energisch dafür einsetzen, daß nichts von dem uns Überlieferten zerstört werde und daß das Neue mit der nötigen Rücksicht auf das Alte entstehen möge.“ [Julius Schulte in seinem Beitrag „Die Entwicklung von Linz-Süd im Lichte des modernen Städtebaus, Tagblatt 1. Nov. 1925]

Aus diesem Eingangszitat spricht nicht nur ein bemerkenswertes berufliches Ethos, sondern es muss im besonderen Kontext der Zeit verstanden werden. Als der Architekt Julius Schulte (1881–1928) diesen Satz formulierte, befand sich Linz in einer Phase des Umbruchs. Vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Verwerfungen, die der 1. Weltkrieg zur Folge hatte, wuchs die Stadt und musste dieses Wachstum durch entsprechende Baumaßnahmen (v. a. Wohnungs- und Siedlungsbau) und Infrastrukturmaßnahmen auffangen und sozial bewältigen. Schulte erkannte und analysierte die Tendenzen des Umbruchs. Er realisierte den wirtschaftlichen und politischen Druck, der fast zwangsläufig auf Linz lastete. Für ihn waren damit erhebliche Gefahren für die Stadt, ihre historische Substanz und ihre Identität, die sich vor allem im Stadtbild manifestierte, verbunden. Die weitere Entwicklung sollte und durfte nicht ungeregelt von Partikularinteressen dominiert werden. Bei allen deutlichen Unterschieden zwischen Julius Schulte, der 1921 das städtische Bauamt zugunsten einer freien Tätigkeit verließ und Curt Kühne (1882–1963), der ab 1915 dieser Behörde bis 1938 vorstand, war beiden klar, dass nur Planungsansätze und -perspektiven, die die Gesamtstadt im Auge behielten, zielführend sein konnten. Und damit beginnt ihre verblüffende Relevanz für die Gegenwart. Natürlich ist nicht gemeint, das Wirken und die Konzepte der beiden Planer zu revitalisieren oder als Blaupausen für die Stadtentwicklung der 2020er Jahre in Betracht zu ziehen. Die Zeiten und ihre Anforderungen haben sich diesbezüglich natürlich geändert. Es geht eher um die prinzipielle planerische Einstellung zur Stadt und ihrer Entwicklungspotentiale und es geht um die Frage, wie in Linz die lang vermisste und ebenso lang geforderte Baukulturdebatte endlich für eine breitere Öffentlichkeit nachvollziehbar etabliert werden könn­te. Die bisher zu diesen Fragen ins Leben gerufenen Verfahren, Impulse und Formate sind – leider – nicht ausreichend. Manches erinnert sogar eher an beschwichtigende Nebelkerzen als an ernstzunehmende Diskursangebote, die wirkliche Kontroversen anstoßen und aushalten.

Zu den großen Glücksfällen der Recherche zu Julius Schulte gehörte, dass er sich in einer Reihe von Beiträgen in Linzer Tageszeitungen (Tagblatt und Tagespost) kenntnisreich und detailliert zu Fragen der zeitgenössischen und zukünftigen Entwicklung von Linz geäußert hat. Diese Texte waren bis heute nahezu unbekannt. Noch verblüffender war die Erkenntnis, dass Schultes Beiträge in vielerlei Hinsicht eine geradezu „beängstigende“ Relevanz für unsere aktuelle Situation besitzen. Immerhin sind sie rund einhundert Jahre alt. Schulte erkannte die mit Hochhausbauten in der Stadt verbundenen Probleme für das Verkehrsaufkommen (und er bezog sich auf Bauhöhen zwischen 40 und 60 Metern!), er lehnte Spekulation vehement ab und interessierte sich stattdessen für das Stadtbild. Er thematisierte grundsätzlich Fragen einer sozialverträglichen Stadtentwicklung, die wirtschaftliche In­te­ressen durchaus miteinbezog und auf schonende Weise den historischen, unersetzbaren Stadtkörper und seine prägende Architektur mit den Anforderungen der Moderne (die er als Planungsprämisse bejahte) verbinden sollte. Schulte verstand seine Textbeiträge und Vorträge als wichtige Instrumente, die die Öffentlichkeit in den Stand setzen sollte, emanzipiert und aufgeklärt nicht nur die Stadt wahrzunehmen, sondern sich aktiv am städtebaulich-architektonischen Diskurs zu beteiligen. Was in den damals hochaktuellen Bereich der allgemeinen Volksbildung fiel, wäre heute ein wichtiger Beitrag zur Baukultur. Inhaltlich anders und deutlich pragmatischer orientiert waren die Beiträge des Linzer Stadtbaudirektors Curt Kühne zur Linzer Stadtentwicklung. Sie sind nicht nur als Leistungsbericht seiner Behörde und Person zu sehen. Darüber hinaus zeigt Kühne wichtige Planungszonen und -szenarien für die weitere städtische Entwicklung auf. Der Schwerpunkt liegt dabei neben den wichtigen öffentlichen Bauten und der Infrastrukturplanung vor allem auf der Frage des Wohnungsbaus. Dass in der Zwischenkriegszeit das Zurverfügungstellen leistbaren, die sozialen Verhältnisse verbessernden Wohnraums das Hauptproblem war, ist hinlänglich bekannt. Auch aktuell ist die Situation auf dem Wohnungsmarkt vorsichtig formuliert bedenklich und die zur Lösung in Betracht gezogenen Maßnahmen (Hochhäuser gehören definitiv nicht dazu) sicher noch nicht ausreichend.

Wie differenziert und umfassend der Planungshorizont der Architekten Schulte und Kühne vor rund einhundert Jahren war, kann hier nicht wirklich dargestellt werden. Um die Texte von Schulte und Kühne wieder ins Bewusstsein zu bringen, hat sich das afo-architekturforum zu deren Herausgabe entschlossen. Seit kurzem liegt der Band als Nummer 11 der Afo-Nachsatz-Reihe vor. Mögen die Texte im Konzert der großen, teilweise heftig geführten Architekturdebatten der Moderne nur eine untergeordnete Rolle spielen, beziehen sie jedoch ihren besonderen Wert durch ihren engen, nachvollziehbaren Linz-Bezug. Diese Facette einer „Architekturtheorie“ der Moderne für Linz war bisher weitgehend unbekannt. Der Band stellt eine ideale Ergänzung zum großen Katalogband „Gebaut für alle. Curt Kühne und Julius Schulte planen das soziale Linz (1909–38)“ des Nordico Stadtmuseums dar.

Nicht mehr besucht werden kann die bis zum 18. 2. 2022 im afo gezeigte Ausstellung „Kühne, Schulte, Gegenwart“, die den Gegenwartsbezug der Bauten beider Planer vorstellte. Dagegen ist die Ausstellung „Gebaut für alle“ noch bis zum 1. Mai 2022 im Nordico zu sehen. Auch wenn sich diese auf die historischen Aspekte des baukünstlerischen Schaffens von Schulte und Kühne konzentriert, gibt sie beredt Auskunft über die Potentiale verantwortlicher architektonischer und städtebaulicher Planung für Linz. Sie zeigt vor allem, dass die auf Linz bezogene, hohe architektonische Qualität und bewusste städtebauliche Situierung sicherstellte, dass die sorgfältig geplanten Bauten und die in ihnen vertretenen Institutionen innerhalb des Stadtraums wahrgenommen wurden. Zugleich waren sie als wichtige Impulse für die weitere Stadtentwicklung gedacht. Sowohl für Kühne als auch für Schulte endete angemessene Planung nicht bei der Erfüllung funktionaler Anforderungen. Sie verstanden ihre Bauten als angemessen gestaltete soziale Orte, die im Idealfall zu einer Verbesserung der Lebenswirklichkeit breiter gesellschaftli­cher Kreise beitragen sollten. Diese Zielsetzung traf auch – bei durchaus unterschiedlicher Herangehensweise – für den Wohn- und Siedlungsbau beider Architekten zu. Es gibt einen nicht zu verleugnenden existenziellen Zusammenhang, zwischen Stadtgestalt (historisch und gegenwärtig), angemessener Planungs- und Ausführungskultur, spürbarer Identität der Stadt und der, den Bewohner*innen zu gute kommenden Lebensqualität. Dies ist kein „Schnee von gestern“ und wird in der Nordico-Schau unmittelbar deutlich.

 

Stadt oder Chaos: Titel eines am 20. März 1925 im Tagblatt erschienen Titels von Julius Schulte

Publikationen:
Andrea Bina u. Georg Wilbertz (Hg.): Gebaut für alle. Curt Kühne und Julius Schulte planen das soziale Linz (1909–38). Salzburg 2021. (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Nordico Stadtmuseum, Linz, 29 €)

Tobias Hagleitner u. Georg Wilbertz (Hg.): Curt Kühne / Julius Schulte. Nachsatz 11 des afo architekturforums oberösterreich. Linz 2022. (Kommentierte Textsammlung, erhältlich im afo, 10 €)

Ausstellung:
Ausstellungsempfehlung der Referentin, leider nur mehr für eine Schau: Nicht mehr besucht werden kann die im afo gezeigte und von Tobias Hagleitner kuratierte Ausstellung „Kühne, Schulte, Gegenwart“, die bis Februar zu sehen war. Videos zur Ausstellung auf DorfTV: dorftv.at/channel/afo

Noch geöffnet bis 1. Mai im Nordico: „Gebaut für alle. Curt Kühne und Julius Schulte planen das soziale Linz (1909–38)“

Veranstaltungshinweise:
Fr., 18. 3. 22, 14.00 h: Führung durch den Linzer Urnenhain (Urfahr) und das alte und neue Krematorium

Fr., 25. 3. 22, 14.00 h: Führung zu Bauten von Julius Schulte in Linz Urfahr (Weberschule, ehemaliges Rathaus, Wohnbau Gerstnerstraße)

Fr., 8. 4. 22, 14.00 h: Führung zu Siedlungs- und Wohngebäuden von Julius Schulte am Linzer Froschberg Nähere und aktuelle Infos zu den Veranstaltungen unter: www.nordico.at/programm/fuehrungen-veranstaltungen

Unruly Thoughts – on feminisms and beyond

Bei Unruly Thoughts, einem feministischen Online-Festival diesen Jänner, standen Theoretikerinnen, Perfor­merinnen und Kulturarbeiterinnen des afrikanischen Kontinents und der Diaspora im Zentrum einer Tagung. Deren Beiträge haben eurozentristische Perspektiven und den Hochheitsanspruch auf gesellschaftliche, kulturelle und politische Diskurse nachhaltig verschoben. Ein Festivalbericht von Melanie Letschnig.

Eine Frau mit kobaltblauer Haut und dicken Zöpfen, maßgekleidet in schwarzer und blauer Folie sowie mit Kombatstiefeln, ihre Fingernägel sind lang, die eckig gefeilten Spitzen signalrot. Sie hockt vor einem computergenerierten Hintergrund aus hellblauem Wasser, Zweige eines Baumes in das Bild montiert, und zeigt Zähne. So zu sehen auf dem Plakat zum Festival Unruly Thoughts – on feminisms and beyond, das – kuratiert von Sandra Krampelhuber für FIFTITU% – von 27. bis 29. Jänner 2022, von Linz ausgehend, weltweit online seine Verzweigungen in die Welt geästelt hat. Gestaltet wurde das Plakat von Designerin und Visual Artist Selly Raby Kane, ihre Zeichens Teil des senegalesischen Künstler*innenkollektivs Les Petites Pierres mit Sitz in Dakar. Das Sujet repräsentiert die Verschränkung von Altem und Neuem, von Organischem und Anorganischem, Körper und Äther. Letzteres ein Thema, das bestimmend war für die Austragung des Festivals – die Vor- und Nachteile des Zoomens. FIFTITU%, die Organisatorinnen, haben die Herausforderung angenommen und sich um die bestmögliche Verbindung gekümmert, damit das Festival möglichst störfrei in die Welt übertragen werden konnte.

„Unruly Thoughts have a powerful history in feminisms“, heißt es im Trailer zum Festival. Worum sich die angesprochenen widerspenstigen Gedanken spinnen, wurde in den drei Tagen des Festivals eindrucksvoll in Vorträgen, Gesprächen, Performances und Filmvorführungen dargelegt. Einleitend formuliert Tmnit Ghide, Host des Festivals, Absichten und Ziele: Das Eröffnen, Konkretisieren und Verknüpfen feministischer Perspektiven abseits eurozentrischer Sichtweisen, sowie die Entwicklung von Strategien, um für Gerechtigkeit und Gleichberechtigung zu kämpfen. Die Zugangsweisen zur Umsetzung dieser politischen Agenden waren gleich am ersten Abend breit angelegt: Kholeka Putuma (Südafrika) liest aus ihrem Gedichtband Hullo, Bu-Bye, Koko, Come in1, in dem sich die Autorin unter anderem der Auslöschung des Vermächtnisses schwarzer Frauen in den Archiven widmet. Im anschließenden Gespräch mit Tmnit Ghide weist Putuma darauf hin, dass viele der Frauen, die sie in Hullo … zitiert, nicht mehr die Rechte an ihrem Werk besitzen und weist so auf die Herstellung von Unsichtbarkeit hin – „Poetry in the time of the digital … I’m imagining all your faces“, sagt sie zuvor zu den Teilnehmer*innen des Festivals. Es folgt Poetra Asantewa (Ghana) mit dem Vortrag ihres Gedichts F-Word, in dem das Problem der „korrekten“ Definition eben dieses Wortes besprochen wird. Den ersten Abend beschließt das Screening von Éthel Oliveiras und Júlia Marianos Film SEEDS: BLACK WOMEN IN POWER (BR 2020), in dem brasilianische Politikerinnen und ihre Arbeit porträtiert werden.

Sichtbarkeit und Freiheit als Aktion
Den zweiten Tag beginnt Karima 2G (Italien / Liberia), die über „The Power of Afro-feminist art and Black Feminism in Italy“ spricht. Sie thematisiert, dass Frauen der 2. Generation in Italien immer noch keinen Platz in der italienischen Gesellschaft haben, fordert Auflehnung gegen Viktimisierung und stellt in ihrem Vortrag Role Models wie die Autorin Esperance Hakuzwimana Ripanti, die Politikerin Marwa Mahmoud und die Athletin Danielle Frederique Madam vor. Karima 2G, die ihre Musik selbst produziert, wird am Abend auch als Spoken-Word-Performerin in Erscheinung treten. Nach ihr meldet sich die Autorin und Sozialkritikerin Minna Salami (Schweden / Finnland / Nigeria) aus London. Mit ihrer Einstiegsfrage – „How does a freedom person act?“ – eröffnet sie einen Analysekomplex aus Geschichten Afrikas, metaphysischen Fragestellungen als Teil von Black Feminism und der Kritik an euro-patriarchalem Wissen, dem Hierarchisierung als Machtbasis zugrunde liegt und das – eine der Kernaussagen des Vortrags – Frauen beibringt, an sich selbst zu leiden. Dieser Gewaltförmigkeit setzt Minna Salami Freiheit als Aktion entgegen, die niemals auf Diener*innenschaft beruhen kann.
Den Nachmittagsblock beschließt Mahen Bonetti (USA/Sierra Leone), die Gründerin des African Film Festival – Pionierin! Sie berichtet im Gespräch mit Tmnit Ghide über die Geschichte des Festivals, wie es war, in den 1960er Jahren als Filmemacherin in der Sowjetunion zu arbeiten und über erste Berührungen mit europäischem Art-House-Kino in New York. Als 1993 das African Film Festival zum ersten Mal stattgefunden hat, hätte es zehn Tage dauern sollen. Aus zehn Tagen wurde aber ein Monat, das Begehren nach Kino aus Afrika wurde offensichtlich. Essenziell für den Erfolg solcher Projekte, so Bonetti, ist das Arbeiten im Kollektiv und die Aufrechterhaltung einer Autonomie, die sich nicht von Orten und Förderungen abhängig macht. Das Gespräch zwischen ihr und Ghide ist lebhaft, die Sehnsucht der hier schreibenden Teilnehmerin auf eine Wiederholung dieses Gesprächs nicht im Virtuellen, sondern im Raum fleischlicher Anwesenheit wurde immer größer und hat sich seitdem nicht gelegt.
Der Abend startet fulminant mit den HOETEP BLESSINGS (GF 2016) von Tabita Rezaire (Französisch-Guyana), einem Kurzfilm, in dem sich die Regisseurin als mächtige Performerin in bester 1990er-CGI-Ästhetik offensiv und lustvoll gegen die popkulturelle Ausweidung von Hoetep stellt. Es folgt Toussa mit ihrer Rap-Nummer “Bataaxalu Jigeen” (“Letter of a Woman”) in Wolof, einer der Sprachen Senegals. Toussa ist Vorreiterin in Sachen feministischer Rap in Senegal, 2009 hat sie gemeinsam mit anderen Rapperinnen, Sängerinnen, Produzentinnen und Beatmakers das Hip Hop-Kollektiv GOTAL gegründet.2 Karima 2G beschließt mit der Live-Premiere ihres Songs „Libera“ das Performanceprogramm. In der Filmsektion gibt es darauf TEZEN (HT/FR 2016) von Shirley Bruno, ALINE (CH/SN 2021) von Rokhaya Marieme Balde und AURORA (CU 2019) von Everlane Morales zu sehen.

Tag 3 startet mit einem Animationsfilm-Workshop, geleitet von Comfort Arthur (Ghana/Großbritannien), die in Ghana ihr eigenes The Comfy Studio3 leitet und im Gespräch über ihren Anspruch berichtet, Filme gleichzeitig didaktisch und unterhaltsam zu gestalten. Rama Salla Dieng (Großbritannien/Senegal) spricht in ihrem Vortrag über Strategien politischer Vernetzung und greift diesbezüglich Fragen auf wie: Welche Themen beschäftigen Feministinnen des afrikanischen Kontinents und der Diaspora? Welche Rolle spielt das Digitale für die Vernetzung? Wie treten die Frauen miteinander in Verbindung, welchen Blick werfen sie auf feministische Geschichte? Und eine der Kernfragen: Wie steht es in diesen Prozessen um Self Care? Auch in Anlehnung an diese Frage spricht sich Dieng für einen sexpositiven und lustzentrierten Feminismus aus, ein Ansatz, der eine Lösung für die von Minna Salami aufs Tapet gebrachte Rolle von Frauen als an sich selbst Leidenden qua Patriarchat bieten kann. Unlearning ist hier als politische Praxis gefragt.
Daran anschließend spricht Christelle Oyiri (Frankreich) über die Bedeutung von matrifocality, die als gesellschaftliches Konzept ökonomische Macht durch familiäre Netzwerke generiert. Viele der Beiträgerinnen – so auch Oyiri – thematisieren in ihren Vorträgen, wie sie als 2. oder 3. Generation kontinuierlich ihre Position innerhalb einer Gesellschaft behaupten müssen, die sich das (illegitime) Recht herausnimmt, Körper und Existenzen zu sprechen und damit Repräsentationen zu erzeugen, die nichts mit dem Selbstverständnis eines eigenen Ichs zu tun haben. Die Vorträge sind geprägt von dieser Erfahrung, die sich in Verbindung mit Anderen setzt und so das Persönliche zur Grundlage intersektional-feministischer Theorie macht.
Der letzte Vortrag des Festivals wird beigesteuert von Donna P. Hope (Jamaica), Spezialistin für die Geschichte der “Dance­hall’s Rebel Women“ wie Lady Saw, Macka Diamond aka Lady Mackerel und Shenseea. Hope erläutert in bestechender Art und Weise, wie die Frauen des Dancehall diskriminierende Kategorien wie gender, race, class, colours & age selbstbewusst vereinnahmen, ihre Musik damit spicken und über lustvoll zelebrierte Körperlichkeit – die nicht nur akustisch laut ist – gegen Unterdrückung – auch innerhalb der für lange Zeit männlich dominierten Dancehall-Szene – auftreten. Ein Vortrag aufregend und lebendig wie ein Livekonzert.
Das Festival endet mit einer Podiumsdiskussion “On the Importance of Feminist Alliances in the Digital Space“ unter Beteiligung von Zainab Floyd (USA/Haiti), Sandra Manuel (Mozambique/Ghana), Hawa Kebe (Österreich/Senegal/Elfenbeinküste), Feminista Jones (USA) und Robyn-Lee Pretorius (South Africa) und dem Screening von Rosine Mbakams DELPHINE’S PRAYERS (CM/BE 2021) sowie Amandine Gays SPEAK UP (FR 2017).

Ein paar abschließende Bemerkungen: FIFTITU% und Sandra Krampelhuber ist mit diesem Festival Großes gelungen. Drei Tage lang standen Theoretikerinnen, Performerinnen und Kulturarbeiterinnen des afrikanischen Kontinents und der Diaspora im Zentrum einer Tagung, deren Beiträge eurozentristische Perspektiven und den Hochheitsanspruch auf gesellschaftliche, kulturelle und politische Diskurse nachhaltig verschoben haben. So viel für mich Neues, das sich mir initiierend erschlossen hat und dementsprechend ist Unruly Thoughts auch als Auftrag zu verstehen, von den Frauen zu lernen, weiterführend interessiert zu bleiben und sich kundig zu machen.
Dass das Digitale zugleich Fluch und Segen ist, hat sich auch diesmal herausgestellt. Einerseits hat die Technik ein Zusammenkommen und den Austausch zumindest im Virtuellen ermöglicht, gleichzeitig ist damit die Sehnsucht nach dem Treffen und miteinander Sprechen im konkret-fleischlichen Raum ins Unermessliche gestiegen – ein Eindruck, der von den Tagungsbeiträgerinnen immer wieder thematisiert wurde. Das Digitale kann im Sinne der Vernetzung immer nur der erste Schritt sein, im nächsten Schritt geht es hinaus auf die Straße, in die Communities, auf den Dancefloor. See you!

1 Der Titel des Gedichtbandes bezieht sich auf den Text von Brenda Fassies Song „Istraight Lendaba“ (1992).

2 Einen kleinen Einblick in das Schaffen von GOTAL gibt es hier: www.youtube.com/watch?v=nvXZRZvUYak, aufgerufen am 15. Februar 2022

3 www.thecomfystudios.com, aufgerufen am 16. Februar 2022

Mehr zum ausführlichen Programm: unruly-thoughts.com

Die kleine Referentin

© Terri Frühling

Hungrig in Linz

Kennt ihr das auch? Wieder mal von einer tollen Party heimgelaufen und dieses hungrige Gefühl geht nicht weg. Oder allein zu Hause auf der Couch im Winter im Lockdown und trotz vollem Magen – hungrig. Wie gerne würdet ihr wen zum Schmusen neben euch haben? Aber ihr sitzt wieder allein zu Hause (oder vielleicht sogar neben dem*der Partner*in) und fühlt euch leer und einsam. Pa Dares über zwischen­menschlichen Hunger und mit Kritik an unhinterfragten Beziehungsnormen.

© Pa Dares

Ich rede von dem Hunger, der entsteht, wenn wir trotz netten Gesprächen immer distanziert bleiben und es bis auf die Umarmung zu Begrüßung und Abschied keine weiteren körperli­chen Zärtlichkeiten gibt – außer derer, die für den*/die* Partner*innen reserviert und die meist fest eingefahren sind. Oder ich rede darüber, dass nur im Rausch körperliche Nähe und Intimität geteilt werden, und nüchtern alles wieder wie vorher ist.

wie es mir damit geht?
ich kann nicht vertrauen, wenn keine tiefe da ist
ohne tiefe gehe ich unter
wie ein objekt, das potentiell gefahr birgt, wenn du dich öffnest
ich fühle mich offen und nackt
my vulnerability is my power –
normalerweise
aber ich erfriere auf deinem eisberg
let’s be careful with each other so we can be dangerous together
ich mach mich nackt und du schaust immer noch nur auf die oberfläche
du konsumierst mich ganzheitlich immer dann wann du gerade willst
und ich muss dich immer noch fragen ob ich von deinem teller essen darf
du musst dich ja nicht gleich ausziehen
aber mach dich doch mal auf
damit fängt’s an

Einige Textzeilen, die ich während einer Performance mit einer Verbündeten bei STWST48 im September 2021 auf die Bühne brachte.

Nach zwei Jahren in Linz bleibe ich hungrig nach einer Form der Zwischenmenschlichkeit, die außerhalb der gesellschaftlichen Normen stattfindet. Innerhalb derer gibt es entweder nur Freun­d*in­nen­schaft oder Partner*innenschaft, in der ich immer wieder das Gefühl habe, dass die Gesprächsthemen einer geschlechtlich-binären Aufteilung, nämlich zwischen Män­nern* und Frauen* unterliegen, und kein Raum für Feedback auf emotionaler Ebene da ist, oder es stellt eine Bedrohung für Paar-Konstellationen dar, wenn wir uns auf emotionaler Ebene mehr öffnen usw.

In Linz begegnen mir an den Orten, an denen ich mich aufhalte, fast ausschließlich (heteronormierte) romantische Zweierbeziehungen. Ich habe das Gefühl, dass die Menschen alle Liebe und Zärtlichkeit nur für ihre Partner*innen aufheben – als ob es Ressourcen wären, die irgendwann aus sind und deshalb sparsam damit umgegangen werden muss.

Dieses Phänomen trägt übrigens den Namen Hungerökonomie: der Glaube daran, dass romantische Liebe, Intimität und Ver­bundenheit begrenzte Ressourcen sind, von denen es nicht genug gibt, um sie zu verteilen – und wenn diese Ressourcen einem Menschen gegeben werden, sie automatisch einer anderen Person weggenommen werden. Dieses Konzept wurde bereits in den 1990ern von Dossie Easton und Janet Hardy im Buch The Ethical Slut erwähnt.

Ich beobachte platonische Freund*innenschaften, in denen sich Menschen auf der einen Seite geistig und „freund*innenschaftlich“ verbunden fühlen. Auf der anderen Seite beobachte ich körperliche und von den Menschen erotisierte Beziehungen in Form von Gspusis oder Partne­r*in­nen­schaften, denen oft eine toxische Romantik innewohnt, die in Kauf genommen wird, weil es á la Love hurts „dazu gehört“.

Es scheint mir, es wäre allgemeingültig, was als Freund*innenschaft und was als Partner*innenschaft gilt, wie mensch sich innerhalb dessen verhält und wie sich kennengelernt wird. Ich erlebe wenig Raum dafür, sich zu erkunden – einfach an der Freude am Gegenüber und des Lebens.

Ich sehe auch Menschen, die versuchen, daraus auszubrechen und sich an den Normen die Zähne ausbeißen, die niemanden haben, an dem*/der* sie sich orientieren können oder mit dem*/der* sie sich darüber austauschen können.

Ich sehe auf ewig emotional vereinsamte Singles, die sich via Dating Apps ein bisschen Hoffnung zu geben versuchen – da draußen finde sich der*die* Eine, der*die alle Wünsche und Begehren stillt, wenn mensch nur außerhalb der eigenen Blase schaut. Stellt euch mal die Situation vor, in der sich zwei Menschen das erste Mal daten: Die monogam lebende Person eröffnet das Gespräch damit, zu beichten, dass sie monogam lebt, anstatt dass Monogamie selbstverständlich vorausgesetzt wird. Denn Monogamie bleibt die unhinterfragte Norm. Dadurch passieren Ausschlüsse und Abwertungen oder es müssen sich immer nur diejenigen „outen“, die es anders leben. Aber wie schön wäre es im Gegensatz dazu, wenn sich niemand „outen“ müsste und Intimität immer wieder neu verhandelt werden würde, so wie es für zwei Menschen in einem Moment eben gerade passt – nicht nach Fahrplan.

Es ist nun mal so, dass das kapitalistische und sehr konservative System in dem wir leben, auf monogame Hetero-Beziehungen ausgerichtet ist – die meisten Menschen in meinem Umfeld hier lohnarbeiten einen Großteil ihrer Zeit, was natürlich auch viel ihrer Energie frisst. Ich kann nachvollziehen, dass mensch am Ende eines langen Tages lieber nach Hause kommt und weiß, was er da bekommt: Kuscheleinheiten, nicht zu viel reden müssen, sich nicht neu auf einen Menschen einlassen, weil die meisten Handlungsabläufe schon eingefahren sind … es gibt kaum Zeit für andere Freund*innenschaften, die das eigentlich auch halten könnten, aber oft niedriger priorisiert werden als die Partner*innenschaft.

Ich beobachte, wie hier alle an katholischen Feiertagen zu ihren Familien fahren, obwohl die wenigsten Lust drauf haben, meist ihre*n Partner*innen mitnehmen und diejenigen zurücklassen, die sich über ein bisschen Liebe und „Verbunden-Fühlen“ und „Beschenken“ freuen würden. Dann sprechen seit Corona und der Impfdebatte alle weißen „Linken“ ständig von Solidarität. Don’t forget: das Private ist politisch, ob wir das wollen oder nicht. Das ist kein feministischer Hirnfick. Wir leben in einer katholischen Dominanzgesellschaft: Während der Lockdowns blieben alle anderen religiösen Feiertage verboten. Aber die Katholik*innen durften die Feiertage mit der Kernfamilie verbringen. Diese unhinterfragte Wichtigkeit der Kernfamilie empfinde ich als unsolidarisch und gewaltvoll: Was ist mit denen, deren Kernfamilie kein sicherer Hafen ist, weil ihre Lebensumstände es notwendig gemacht haben, sich Unterstützungsstrukturen und Wahlfamilien zu schaffen, weil sie das nicht in ihrer Familie gefunden haben? Und was ist mit denen, die es sich ausgesucht haben, der Kernfamilie nicht diese Wichtigkeit zu geben? Oder denen, deren Kernfamilien bereits verstorben sind? Und all den anderen, für die das Konzept Kernfamilie nicht passt. Sie mussten offiziell zu Hause und allein bleiben – am Fest der Liebe. Pfui! Es werden also recht viele Menschen ausgeschlossen – meistens die sogenannten „Ausländer“ und diejenigen, die außerhalb dieser Normen vor sich hindümpeln.

All diese Beobachtungen und der Hunger, wohnen nicht nur der Stadt Linz inne. Es sind strukturelle Probleme, welche nun Mal in kapitalistischen/patriarchalen Systemen vorherrschen. Aber sie fallen mir hier mehr auf, weil Linz eine Kleinstadt und unfassbar konservativ ist. Es ist herausfordernd, in diesem System intime, nährende Beziehungen aufzubauen, die außerhalb unserer Kernfamilien und romantischen Zweierbeziehungen stattfinden – allerdings ist es nicht unmöglich und es fängt mit der Bewusstwerdung an.

Ich würde mir wünschen, dass sich mehr Menschen in meinem Umfeld dessen bewusstwerden, wie viele Normen sie mit ihrem Lebensstil erfüllen, dadurch Privilegien genießen, die anderen nicht gegeben sind und wie gewaltvoll es für Menschen sein kann, die da nicht reinpassen.

Es wird einfach zu selten darüber gesprochen, wie wir unser Miteinander anders gestalten könnten.

Dieser Text ist (m)eine Art Widerstand ge­gen das unhinterfragt Normalisierte. Und Widerstand ist nicht nur in einer Stadt wie Linz längst und immer wieder angebracht. Er ist ein Versuch, den Hunger nach echter Anteilnahme und nach Menschen zu stillen, die sich wirklich umeinander kümmern und nicht nur drüber reden, mehr Weichheit und Zärtlichkeit im Umgang miteinander zu erleben.
Es ist ein solidarischer Akt für diejenigen, die hier weggezogen sind, weil sie es nicht mehr ausgehalten haben und für diejenigen, die hier weiterkämpfen und wirklich solidarisch sind und dabei kaum freie Zeit haben, weil sie fast ausschließlich damit beschäftigt sind, liebevollere Strukturen zu schaffen.

i want a world where friendship is appreciated as a form of romance.
i want a world where when people ask if we are seeing anyone we can list the names of all of our best friends and no one will bat an eyelid.
i want monuments and holidays and certificates and ceremonies to commemorate friendship.
i want a world that doesn’t require us to be in a sexual/romantic partnership to be seen as mature (let alone complete).
i want a movement that fights for all forms of relationships, not just the sexual ones.
i want thousands of songs and movies and poems about the intimacy between friends.
i want a world where our worth isn’t linked to our desireability, our security to our monogamy, our family to our biology.

Alok Vaid-Menon

 

Pa Dares hat eine mehr oder weniger große Migrationsgeschichte: Griechisch-österreichische Großeltern. Geboren in Kingston (GB), Kinder garten in Deutschland, 13 Jahre Schulzeit in Belgien, Bachelor of Science in International Business in Maastricht (Niederlande) und Master of Arts in Intercultural Conflict Management an der Alice Salomon Hochschule in Berlin. Nun wohnt Pa seit Oktober 2019 in Linz, hat ein Jahr bei maiz – Autonomes Zentrum von und für Migran­t*innen im Bereich Sex&Work unter anderem als Street-Worker*in gearbeitet und ist selbst auch als Sexarbeitende tätig (Independent High Class Escort, Porno). Als Sex-Worker referiert Pa u. a. für die Ausbildung Sexualpädagogik in Linz und an der FH.
Der Umzug zurück in Kleinstadtstrukturen – ohne sich emotional darauf vorzubereiten – hatte eine Depression zur Folge, die Pa erst spät bewusst geworden war. Plötzlich war da nur mehr Körperkontakt und enger emotionaler Austausch mit einer einzigen Beziehungsperson und für viele war Pa von Anfang an „die Freundin von“. Seit 3 Jahren schreibt Pa Texte zu verschiedenen Themen und wird endlich auch dafür bezahlt. Ab und an organisiert Pa einen sexpositiven Freudensalon in Linz.

Residency via STWST, 29. 01.–09. 02.
Kunst als Handlungsstrategie. Während einer Artist Residency via STWST wurde mir, gemeinsam mit Mika Bankomat wieder Raum gegeben, unsere vorangegangenen Prozesse zu bündeln und nach außen zu bringen. Unsere Erfahrungen mit verschiedenen Formen von Gewalt durch Einzelpersonen und sozialen Räumen sind nicht nur individuell, sondern kollektiv und über unsere individuellen Erfahrungen hinausgehend. Unsere Verarbeitungsprozesse und unser Umgang mit Wut, Trauer, Verletzung und Schmerz wurden von der persönlichen Erfahrung auf einen Meta-Kontext gebracht. events.stwst.at

Kauf dir ein Buch – Wissen ist sexy:
Zu Lieben / Kapitalismus entlieben. Lieben als politisches Handeln, Lann Hornscheidt
Radikale Zärtlichkeit – Warum Liebe politisch ist, Şeyda Kurt
Beyond the Gender Binary, Your Wound/ My Garden, ALOK
www.alokvmenon.com/about