Auf den Spuren schreibender Mütter

Mutter werden. Mutter sein. Autorinnen über die ärgste Sache der Welt: So lautet der Titel eines kürzlich erschienenen Buches. Wie sieht die Mutterrolle heute aus? Was wird über Mutterschaft erzählt, welche Texte werden zu diesem Thema verfasst? Die österreichische Schriftstellerin Barbara Rieger hat fünfzehn Autorinnen eingeladen über dieses Thema zu schreiben. Silvana Steinbacher ist von der Vielfalt der Texte überzeugt.

Die Herausgeberin Barbara Rieger. Foto Alain Barbero

Du bist echt der Hammer! Ich finde dich einfach wunderbar.

Dieses Sprüchlein schrieb der zehnjährige Sohn einer Bekannten zum Muttertag. Wir schmunzeln und denken an unsere Schulzeit zurück, als unsere Gedichte zu diesem Tag vom „lieben Mütterlein“ und der emsig arbeiteten Hausfrau nur so wimmelten.

Im kürzlich erschienenen Buch Mutter werden. Mutter sein. Autorinnen über die ärgste Sache der Welt hat die österreichische Autorin und Schreibpädagogin Barbara Rieger fünfzehn Autorinnen inklusive sich selbst eingeladen, über Mutterschaft zu schreiben. Fiktiv, biografisch oder essayistisch haben die Schriftstellerinnen über dieses ewig aktuelle und facettenreiche Thema ihre Gedanken zu Papier gebracht. Sie schreiben unter anderem einen Brief an eine Frau, die soeben ein Kind bekommen hat (Elena Messner), über die Situation im Lockdown mit Kindern, Ehemann und einem Au-pair-Jungen (Barbara Peveling) oder über eine ukrainische Putzfrau (Lene Albrecht). Abgesehen von wenigen Ausnahmen, die sich in gängiger Weise der Doppelbelastung einer Mutter und Schriftstellerin widmen, sind die Herangehensweisen der Autorinnen durchwegs unterschiedlich und oft auch originell.

Einige schöpfen in ihrem Text, so ist zu vermuten, aus ihrer Biografie, andere überdrehen die Gestalt der Mutter ins komplett Schräge. Gut gelungen ist dies, finde ich, der deutschen Krimi-Autorin Katja Bohnet, die eine völlig verantwortungslose Mutter beschreibt: „Mutter verbot mir, mich anzuschnallen. Ohne Gefahr mache hohe Geschwindigkeit keinen Spaß.“ Aber das ist erst der Anfang dieser schaurigen Muttergeschichte, und die Leserin darf sich getrost auf weitere Wahnsinnigkeiten dieser Frau, der man am liebsten nur in der Literatur begegnet, gefasst machen …

Raffiniert nähert sich auch Andrea Grill der vorgegebenen Protagonistin, die in ihrem Text eigentlich keine Hauptfigur darstellt und dennoch immer um die Erzählung kreist. Deren Sohn ist vom Besitz eines Spielzeugs besessen. Ausschließlich dem baldigen Erwerb eben jenes Spielzeugs, das sich seine Mutter nicht leisten kann, ordnet er seine Gedankenwelt unter. Nur dezent schildert Grill dabei die Erschöpfung, Geld- und Zeitknappheit der Mutter.

Die Rolle der Mutter wurde in der Literatur oft auch „stiefmütterlich“ – woher stammt dieser abwertende Begriff? – behandelt und nachdem wir schon bei diesem Stichwort sind: Die Stiefmutter begegnet uns in vielen literarischen Texten und fast immer als rundum böse Figur, so in den Grimm’schen Märchen Hänsel und Gretel und Schneewittchen. Die emotionslose Mutter finden wir bei Flauberts Madame Bovary oder in der Gestalt der Gerda Buddenbrook bei Thomas Mann, um nur einige zu nennen. Seit den 1970er Jahren werden immer mehr Bücher publiziert, in denen die Mutterrolle thematisiert wird. Beispiele der vergangenen Jahre sind etwa Anke Stellings Roman Schäfchen im Trockenen oder der Roman Vom Aufstehen, mit dem Helga Schubert den Bachmannpreis 2020 gewonnen hat – zwei Texte von Autorinnen. Doch nicht nur: Alois Hotschnigs Roman Der Silberfuchs meiner Mutter gerät zur Liebeserklärung an seine Mutter, und auch im vielgelobten Buch Die Freiheit einer Frau von Édouard Louis steht die Mutter im Mittelpunkt.

Kehren wir zurück zu Mutter werden. Mutter sein. Autorinnen über die ärgste Sache der Welt: „Die große Skepsis vor dem Unbekannten spießt sich hier mit der großen Illusion über die Herrlichkeit der eigenen Gene.“ Klar und überzeugend nähert sich Gertraud Klemm den Mühen einer Adoption, den damit verbundenen bürokratischen und teils demütigenden Hürden. Klemms Protagonistin entschließt sich, zwei Kinder aus Südafrika zu adoptieren, resultierend aus der schmerzvollen Erfahrung, keine eigenen Kinder bekommen und das Erlebnis der Schwangerschaft und Geburt nicht selbst erleben zu können. Die Beziehung zu den adoptierten Kindern empfindet die Ich-Erzählerin als rundum vollständige, obwohl sie vor diesem Schritt vielfach gewarnt wurde.

Natürlich ähneln sich die Probleme der schreibenden Mütter in vielem: der Wunsch nach Eigenständigkeit, die Sorge, literarisch nicht mehr genug arbeiten zu können. Eine Qualität dieses Buches besteht in der Vielfalt der Ansätze. Einige beeindruckende Texte kreisen um die allzeit gültige Zerrissenheit zwischen der Rolle als Mutter und als Schriftstellerin. Die Bachmannpreisträgerin 2021 Nava Ebrahimi fühlte sich bei einer Lesung unkonzentriert, weil sie im Gegensatz zu den beiden mit ihr auftretenden Mitlesenden die Wochen davor ausschließlich mit ihren Kindern beschäftigt war. Verena Stauffer entführt uns in sinnlichen Bildern nach Manhattan, wo sie ausgerechnet den Muttertag mit ihrem Liebhaber verbringt. Ihr Gewissen kann sie erst dann beruhigen, als sie mit ihren gut gelaunten Kindern Kontakt aufnimmt.

Was, so fragt sich vielleicht manche Leserin und hoffentlich auch manch Leser, hat sich an der Mutterrolle der vergangenen Jahrzehnte geändert? Sehr vieles, wenn wir zur Realität zurückkommen, die sich natürlich auch in den Texten widerspiegelt. Eine Frau muss sich nicht mehr zwischen Kind oder Karriere entscheiden, der von ihr alleine zu bewältigende Haushalt ist vielfach der Care-Arbeit, die hoffentlich von beiden Seiten geleistet wird, gewichen. Mutterschaft ist in unseren Breiten meist eine bewusste Entscheidung und „passiert“ nicht mehr.

Wie zu Beginn des Textes möchte ich noch einmal eine Begegnung mit einer Bekannten schildern, bei der die früher selbstverständliche Zukunft einer jungen Frau als Mutter zur Sprache kam. Heute kann sie sich dem „widersetzen“, ohne sich stets dafür rechtfertigen zu müssen. Einiges hat sich nicht verändert, das Leben einer Frau mit Kind(ern), in Beziehung oder alleinlebend, ist meist wesentlich anstrengender als jenes der Väter. Und warum eigentlich der Untertitel: Autorinnen über die ärgste Sache der Welt? Die Herausgeberin Barbara Rieger beantwortet diese Frage in ihrem Vorwort: „Denn Mutter sein ist die ärgste, schwierigste, intensivste und schönste Sache der Welt!“

 

Mutter werden. Mutter sein. Autorinnen über die ärgste Sache der Welt
Herausgegeben von Barbara Rieger
Mit Beiträgen von Helena Adler, Lene Albrecht, Katja Bohnet, Teresa Bücker, Nava Ebrahimi, Andrea Grill, Sandra Gugic, Franziska Hauser, Simone Hirth, Gertraud Klemm, Elena Messner, Lydia Mischkulnig, Barbara Peveling, Verena Stauffer.
Leykam Buchverlag 2021

 

Lesereihe FIFTITU% liest …
Die Autorin Lisa-Viktoria Niederberger, von der in dieser Ausgabe der Referentin auch ein literarischer Text zu finden ist, hat für die Vernetzungsstelle FIFTITU% die neue Lesereihe „FIFTITU% liest …“ kuratiert. Die erste Veranstaltung findet im April statt. Zur Lesung und Podiumsdiskussion wurde Herausgeberin und Autorinnen von „Mutter werden“ eingeladen.
Lesung und Podiumsdiskussion: „Mutter werden. Mutter sein. Autorinnen über die ärgste Sache der Welt“ Freitag, 29. April 2022
Voraussichtlicher Veranstaltungsort: Kunstuniversität Linz, Hauptplatz 8, 4020 Linz
www.fiftitu.at/kooperation/fiftitu-liest-mutter-werden-mutter-sein-autorinnen-ueber-die-aergste-sache-der-welt

Der Regenmantel

Kernthemen von Lisa-Viktoria Niederbergers Prosatexten sind häufig Feminismus, Klimaschutz und psychische Erkrankungen. Für ihr aktuelles Romanmanuskript Fische freischneiden hat sie zuletzt mehrere Preise erhalten, so etwa im Herbst 2021 den Kunstförderpreis der Stadt Linz. Anlässlich dessen hier ein Textauszug mit dem Titel Der Regenmantel.

„Bist du bereit?“, fragt Michi bevor wir klingeln und ich sage: „Gleich“, weil ich kontrollieren muss, ob alles passt. Ob mein Regenmantel gut sitzt. Mein Regenmantel aus schwerem, gelbem Ölzeug. Ein Regenmantel so stark, dass ihn die Hochseefischenden in der Nordsee tragen könnten, von dem alles abprallt, auch der ärgste Sturm. Ich nicke, drücke auf die Türklingel. Bussi-links, Bussi-rechts: die Tante, der Onkel, die kleine Cousine, ihr neuer Begleiter: „Kennst du schon Xaver?“ „Nein. Und das ist Michi!“, schiebe ich meinen Freund vor. Er fragt, ob wir den Hummus in den Kühlschrank stellen können. „Ja, wir essen kein Fleisch mehr, wir meinen das ganz ernst und ja, ich weiß, bei der letzten Grillparty vor zwei Jahren, da habe ich die Wildschweinwürste noch gelobt“, sage ich mir vor, übe, falls mich jemand fragt.

Niemand fragt. Samstagmittag: Die Sirene geht los, alle sind da. „Die Pandemie mag uns vieles verlernt haben, aber nicht die Pünktlichkeit“, sagt die Nachbarin und hebt den Aperol. Meine Mutter ist schon im Bikini. Die Steyrer Tante, die große Cousine und ihre Teenies sitzen mit einem aufgeblasenen Einhorn im Pool und trinken knallpinke Alkopops. So viel Familie auf einmal, ich muss mich setzen. Beginne unter dem Regenmantel zu schwitzen. Mein Herz flattert wie ein kleiner Vogel: aus dem Nest gefallen, überfordert. Michi nimmt meine Hand und legt sie auf sein Knie. Mein Cousin geht mit einem Tablett voller Heineken vorbei. Michi winkt für uns beide ab und mein Cousin legt den Kopf schief: „Ach, Alk auch keiner mehr? Habe ich dir erzählt, wie die mich unter den Tisch getrunken hat? Also früher, zwei Mal?“ Michi schüttelt den Kopf und sagt zu mir: „Magst du zählen?“ Michi hat sich gemerkt, was mir hilft. Fünf Dinge, die ich sehe: Tischdeko in Pink, Sweet Sixteen. Ein fremdes Kind läuft mit einer griechischen Landschildkröte in der Hand über den Rasen. Ein Car-Port für den Rasenmähroboter. Ein Riss in der Terrassenfliese. Michis großer Zehennagel gehört geschnitten. Vier Dinge, die ich fühle: Mein Vogelherz. Den Regenmantel, schwer ist er auf den Schultern, klebrig. Ich fühle Hunger, ich habe Durst. Das Wasser auf dem Tisch ist warm, die Kohlensäure ausgeraucht. „Ich gehe uns frisches Wasser holen, okay?“, sagt Michi und ich nicke. Ich rieche Fleisch, nein: Ich rieche tote Tiere auf dem Grill. Ich könnte keine Kuh mehr essen. Vor zwei Jahren haben sie gefragt. Gesagt, dass ich das doch immer mochte: als Kind schon die Knacker zum Frühstück. Und dann habe ich erzählt, von unseren Wanderferien im Pongau und den Schreien der Kühe. Dass der Bauernhof gerade in unserer Woche die Kälber und die Mütter entwöhnt hat. Entwöhnt, so haben die es genannt, wenn es doch heißen sollte, weggerissen voneinander. Und wie die Mütter geschrien haben nach ihren Kindern, tagelang. Zum Fürchten ist es gewesen, besonders in der Früh, beim ersten Tee auf dem Balkon. Das Schreien aus dem Nebel hinter den Fichten, wie im Horrorfilm. Dass die Bäuerin sich entschuldigt hat, dass die „sonst nie so lästig sind“, dass die Kühe „das eigentlich längst gewohnt sein sollten“ und uns eine Sulz mitgeben wollte. Dass Michi und ich gleichzeitig abgewehrt haben und gewusst: sowas kommt uns nicht ins Auto und nicht mehr in die Körper.

Meine Cousine sitzt neben mir auf der Bierbank und lächelt. Bevor ich sie fragen kann, wieso, legt sie mir die Hand auf den Bauch. Sie schiebt einfach den Regenmantel zur Seite, streichelt meine Hautfalten über der Bikinihose. „Ist da etwas, das wir noch nicht wissen dürfen?“, fragt sie und ihre Augen leuchten. „Was?“ Da ist plötzlich etwas im Regenmantel. Mottenlöcher, Risse. „Kriegst ein Kind? Bist schwanger?“, fragt sie und mein Cousin schreit „Sie wollte vorher auch kein Bier! Wer holt den Sekt aus dem Keller?“ Der Regenmantel bröckelt, fällt in gelben Flocken unter die Bierbank. „Niemand ist schwanger.“ Michi ist wieder da, sitzt neben mir wie ein vollgeschneiter Berg im Winter. Alle schauen auf meinen Bauch, enttäuschte Erwartungen in den Augen. Niemand sagt, dass ich also nur fett geworden bin, aber sie denken es. Ich sehe es in ihren Gesichtern. Diese Familie will ein neues Baby und ist enttäuscht, dass mein Körper sie hat glauben lassen, es wäre eins auf dem am Weg.

Mein Stiefvater steht auf einmal da, unsere Tupperbox mit Hummus und eine Selleriestange in der Hand. „Schmeckt gut. Kumin, oder? Aber das Tahini, das schmecke ich nicht raus.“ „Ist keines drin. Ist mir zu bitter.“, sage ich und fühle mich, als hätte ich ewig nicht geredet. „Dann ist es aber kein Hummus, sondern bloß Kichererbsenaufstrich!“ Mein Stiefvater sieht den Teller voller Koteletts, Bratwürste und Käsekrainer und gibt mir den Rest meines Essens. „Kinder, was für ein Festessen“, ruft der Steyrer Onkel und klopft sich auf den Bauch. „Und da fehlt es dir nicht?“, fragt meine Mutter und beißt in eine Wurst. Meine Cousine spricht statt mir: „Sie verhungert auch so nicht!“ Michi hält sein Besteck fest, die Knöchel seiner Finger treten hervor. Er kaut seinen Kartoffelsalat nicht, sondern schlingt ihn. Ich esse Knoblauchbrot, drei Gabeln Tomatensalat und hole den Tablettendispenser aus meiner Handtasche. Mittags sind es nur zwei, niemals auf nüchternen Magen. Jemand sagt etwas, ein Lachen, Michi knurrt. Ich sehe seine Eckzähne, seine Bartborsten rund um den Adamsapfel, seine wilde Frisur und seinen gehetzten Blick. Michi ist mein Wolfshund. Zerreißen würde er die alle, auf einen Pfiff oder einen Wink von mir. Ich verdiene diese Liebe gar nicht, denke ich und muss aufpassen. Ich habe gelernt: depressive Menschen lehnen ihre Liebsten oft ab, weil sie nicht verstehen, wie jemand sie mögen kann, wenn sie sich doch selbst so hassen.

Die Bogensberger sagt, ich kann meine Familie nicht ändern, sondern nur meine Erwartungen an sie. Ich muss sie akzeptieren mit all den Traumata, den Mustern, den Wiederholungen. Oder gehen. „Niemand zwingt Sie, in toxischen Beziehungen zu bleiben“, sagt sie. Und wenn ich mich am Dienstag in der Stunde bei ihr ausheulen werde, wird sie sagen, dass ich das kenne. Und während ich auf den Gummibaum gegenüber ihrer Couch schauen werde, wird mir vielleicht einfallen, dass das bei uns immer schon so war: Bodyshaming als Kulturtechnik, als Familientradition. Dass Fleischbeschau auf solchen Festen noch nie am Kugelgrill geendet hat. Die Cousine als Kind auch zu dick, zu große Brüste als Teenagerin. „Obszön sowas. Die provoziert damit doch die Männer“, werde ich die Oma in meiner Erinnerung sagen hören.

„Ich weiß auch nicht. Ich möchte eine Familienfeier, die sich wirklich nach Familie und nach Feiern anfühlt“, habe ich letzte Woche zur Bogensberger gesagt. Und nicht diese Veranstaltungen, wo man sich ins Koma frisst und spätestens beim Kuchen jemand was zu mir sagt, das mich verletzt. Dann sagt, ich soll das nicht so ernst nehmen „es war ja nicht bös gemeint“. Der Hinweis meiner Mutter zu Ostern, dass Sport laut Für Sie gut gegen depressive Verstimmungen hilft und die mich „patzig“ genannt hat, weil ich gesagt habe, dass das gut ist, ich also meine Tabletten wegschmeißen kann. Statt zur Therapie einfach ins Fitnessstudio gehen und alles wird gut. Da haben die Bogensberger und ich den Regenmantel erfunden. Den Regenmantel von dem alles Negative abprallt.

„Du bist mir eh nicht bös“, sagt meine Cousine, stellt ihren Teller mit Marillenkuchen ab und beginnt zu essen, weil es eine Feststellung ist und keine Frage. Michi wird wieder größer neben mir: grollt, bleckt die Zähne, gelbe Augen. „Michi, hilfst du mir später meinen Regenmantel zu reparieren? Imprägniert gehört er“, sage ich und lege alle Zuversicht und Wärme, die ich von irgendwo unten hervorwühlen kann, in den Satz. Michis Augen werden sanft, die Haare auf seinen Unterarmen legen sich wieder. Ein Kuschelwolf, der beruhigt Marmelade auf seinen Gugelhupf schmiert. „Regenmantel, bei der Hitze?“, fragt der Onkel und sagt zu meiner Mutter: „Das ist doch ein Code für was.“ Und plötzlich, ganz unerwartet, vielleicht zum ersten Mal überhaupt hat jemand in dieser Familie etwas über mich gesagt, das stimmt.

 

Lisa-Viktoria Niederberger, geboren 1988 in Linz, hat in Salzburg Kunstgeschichte und Germanistik studiert und als Redakteurin der Literaturzeitschrift erostepost, als Buchhändlerin und beim freien Radio gearbeitet. Das literarische Debüt „Misteln“, ein Kurzprosaband, ist im März 2018 in der edition.mosaik erschienen. Seit 2015 Veröffentlichungen von Kurzprosa in Literaturzeitschriften und Anthologien. Talentförderungsprämie des Landes OÖ für Literatur 2019, Startstipendium 2021, Kunstförderpreis der Stadt Linz 2021, Theodor Körner Förderpreis 2021. Gegenwärtig Studium der Kulturwissenschaften an der Kunstuniversität Linz und freiberufliche Arbeit an literarischen Projekten sowie Rezensionen und kulturjournalistische Beiträge. Kuratiert seit 2021 die feministische Lesereihe „FIFTITU% liest“ (Kickoff Veranstaltung musste covid­be­dingt auf April 2022 verschoben werden.)
Erschienen sind zuletzt unter anderem: Jen­seits der Genitalpanik: Furchtbare Him­melsweiber und göttliche Scherze (Essay) in:
„Wer begreift hat Flügel“ Essays zu, mit und ausgehend von VALIE EXPORTS ARCHIV, Sonderzahl, Wien, 2021. Aus of­fenem Fenster Cello, in: Die Rampe, Hefte für Literatur #1/2020. Im zehnten Stock geht immer Wind in: Facetten 2020, Literarisches Jahrbuch der Stadt Linz.
Mehr: stifterhaus.at/literaturhaus/literatur-netz-oberoesterreich/autorinnen-detail/Lisa-Viktoria-Niederberger

Edition: ist autonom

Die Linzer Künstlerinnengruppe Edition: gab mit Jänner 2022 ihren Galerieraum auf. Der zukünftige Weg ist, bis auf die Tatsache, dass die Arbeit weitergehen soll, noch offen. Georg Wilbertz hat mit den Betreiberinnen des Vereins für aktuelle Kunst und Kultur gesprochen.

„Der klare Auftrag von Kunst und Kultur einen Beitrag zur Gesellschaft zu leisten, kann derzeit nur in sehr beschränkter Form wahrgenommen werden.“
[Homepage Edition:, 2021]

Eine mit Metallgitter versperrte Tür. Am Graben 7 in Linz. Verkehr rauscht dicht und laut vorbei. Die Schaufenster seitlich des Eingangs sind leer, der dahinter sichtbare Raum ebenfalls. Von 2017 bis zum Januar 2022 diente dieser kleine, an einer eher unattraktiven Stelle der Stadt liegende Laden als Kunstraum des Vereins Edition: der autonomen Präsentation von Künstler*innen und ihrer Werke. Er war damit zugleich – wie jeder vergleichbare Raum – die physisch-sinnliche Schnittstelle in die Öffentlichkeit.

Um es gleich vorweg zu sagen: die während der Jahre 2017 bis 2022 im Kunstraum der Edition: gezeigten Ausstellungen, Themen und künstlerischen Positionen waren zu vielfältig und unterschiedlich, dass man eine künstlerische oder ästhetische Linie herauslesen könnte. Dies gilt auch für die Arbeit der fünf Gründerinnen der Edition: Judith Gattermayr, Theresa Ulrike Cellnigg, Costanza Brandizzi, Amanda Burzić und Kiky Thomanek. Ihre persönlichen Arbeitsweisen sind individuell. Im folgenden Beitrag wird es deshalb weniger um ästhetisch-künstlerische Fragen als um die Arbeitsweise und Zielsetzungen der Edition: gehen.

Wie gründe ich eine Künstler*innengruppe? Und warum?
Die Geschichte der Gründungen von Künstler*innengruppen und -zusammenschlüssen ist lang. Es gibt legendäre, gescheiterte, programmatisch ausgerichtete (was letztlich oft zu Streit und Konflikt führte). Es gibt Vereinigungen, die das künstlerische Schaffen mit sozialen Intentionen verbanden und solche, die eher einer Selbsthilfegruppe glichen.

Die Edition: gründete sich aus dem gemeinsamen Hintergrund des Malereistudiums an der Linzer Kunstuniversität (Klasse Ursula Hübner) heraus und verfolgte von Beginn an das Ziel, nicht nur die eigenen Arbeiten zu zeigen, sondern einen möglichst offenen Raum für Künstler*innen anzubieten und diese kuratorisch zu unterstützen. Dass hier fünf Frauen übernahmen, kann als Gegenmodell zu den bereits bestehenden, arrivierten Vereinen in Linz verstanden werden. Die Edition: verfolgte dabei keinen bewusst feministisch ausgerichteten Kunstbegriff. Dies gilt auch für die Programmierung der Ausstellungen.
Die Motivationen, eine Künstler*innengruppe zu initiieren, können vielfältig sein. Im Falle der Edition: waren neben den Beziehungen, die sich während des Studiums ergaben, soziale Intentionen ausschlaggebend. Sie wirken in zweierlei Richtung. Einerseits geht es um die kollegiale Interaktion innerhalb der Gruppe, andererseits um eine als gesellschaftsrelevant verstandene Verortung der künstlerischen Arbeit und Haltung in der Stadt Linz und ihrer Kunstszene.

Vieles von dem, was die Arbeit der Edition: vor allem in der Anfangszeit prägte, wirkt wie zufällig und ungeplant. Es fehlt ein Gründungsmanifest und auch auf eine künstlerisch-ästhetische Programmatik wurde bewusst verzichtet, da die einzelnen künstlerischen Positionen und Interessen innerhalb der Gruppe sehr disparat waren und sind. Sowohl dieser Verzicht als auch die Ungezwungenheit bei der Wahl von Ausstellungsthemen und -teilnehmer*innen ermöglichten einen spontanen, dynamischen Umgang mit dem Thema Ausstellung. Viele Entscheidungen werden nicht in langwierigen Diskussionsprozessen getroffen, sondern es geht den Mitgliedern der Gruppe um Intuition, um das Nutzen der Dinge, die vorhanden sind. Damit spiegelt die Praxis der Edition: nicht nur die künstlerische Herangehensweise ihrer Mitglieder, sondern sie ermöglicht ein Organisieren und Arbeiten ohne lange Vorlaufzeit, das auf wache Weise im Jetzt verortet ist. Gedacht und geplant wurde von Ausstellung zu Ausstellung.

Zur Offenheit der Edition: gehört eine grundsätzliche Akzeptanz gegenüber allen künstlerischen Gattungen. Die Ausstellungsgeschichte umfasst neben installativen Arbeiten auch konzeptionelle Ansätze. Einen Schwerpunkt nehmen die „klassischen“ Disziplinen Malerei und Zeichnung ein. Bei vielen Ausstellungen wurden gattungsübergreifende Symbiosen und Kontexte inszeniert, die innerhalb des Ausstellungsraums komplexe „Erzählungen“ generierten. Raum und Exponate wurden dabei in ein dramaturgisches Wechselverhältnis gebracht. Bei der – oftmals unbewussten – Inszenierung erzählerischer Momente kam dem Ausstellungsraum eine grundlegende Funktion zu. Er wurde selbst zum Akteur.

5 Millimeter weiter links
Neben der künstlerischen Ausbildung bot die Kunstuniversität mit ihren Ausstellungsanforderungen und -angeboten die Möglichkeit, eigenverantwortlich kuratorisch tätig zu werden. Hierbei ging es nicht nur um die Formulierung und Präsentation ästhetisch-künstlerischer Positionen. Wesentliche Aspekte bestanden in grundlegenden Fragen wie der Exponatwahl, der Hängung, der Gestaltung von Räumen und dem Herstellen von Kontexten. Die Erfahrungen aus der kuratorischen Praxis, die während des Studiums an der Linzer Kunstuniversität gemacht wurden, bildeten die Basis für das eigene Kuratieren („Die Arbeit an der Uni war einfach zu wenig“). Bezüglich des Kuratierens gelangten alle Mitglieder der Edition: durch die Tätigkeit im eigenen Kunstraum zu mehr Wissen über die Details und Feinheiten bei der Planung und Durchführung von Ausstellungen. Dieses Wissen wird inzwischen souverän und selbstbewusst auf andere Räume und Formate übertragen.

Obwohl die fünf Mitglieder der Edition: schon während des Studiums mit der Gründung der Gruppe ein deutliches Zeichen in Richtung Abnabelung gesetzt haben, blieben die Beziehungen zum Kunstuniumfeld eng. Vor allem bei der Auswahl der Ausstellenden griff man meist auf persönliche Kontakte zurück. Eine stärkere Verankerung über Linz hinaus war zunächst nicht das Ziel.

Autonomes Handeln, autonome Kunst
Im Zentrum der Aktivitäten der Edition: steht der Begriff der Autonomie. Einer Autonomie, die sich nicht nur auf einen möglichst freien, selbstbewussten Kunstbegriff bezieht, sondern durchaus strukturell verstanden werden will. War es am Beginn eher dem Zufall geschuldet, dass keine öffentlichen Förderungen beantragt wurden, entwickelte sich diese Haltung mehr und mehr zum Konzept einer unabhängigen Arbeitsweise. Die Edition: war vom Zwang, Jahresprogramme und langfristige Planungen in Förderanträge zu packen, befreit. Entsprechend flexibel, schnell und reaktiv konnten Ausstellungen und Events in der Galerie realisiert werden. Der eigene Raum bot hierzu den idealen, selbstbestimmten Rahmen. Mit der bewussten Entscheidung, den Raum am Graben im Jänner 2022 aufzugeben, wird sich zwangsläufig diese Freiheit in eine andere Arbeitsweise transformieren müssen. Ein „gemütliches Zurücklehnen“ im bisher Bekannten wird ausgeschlossen. Welche Räume (ob virtuell oder real) nun bespielt werden können, steht noch nicht fest. Jedenfalls wird sich zwangsläufig der Planungshorizont erweitern. Eine Konsequenz, derer sich die Mitglieder der Edition: bewusst sind und die sie als grundlegende, inspirierende Veränderung wahrnehmen. Aus der Entscheidung, den eigenen Galerieraum zu kündigen, spricht ein durch den Erfolg der letzten Jahre gewachsenes Selbstbewusstsein.

In die Endphase des Galerieraums fiel die auf Einladung von Rainer Nöbauer in der Galerie Maerz gezeigte Gruppenausstellung der fünf Editorinnen „Was reimt sich auf Edition?“ (dokumentiert im gleichnamigen Katalog). Auch in diesem Titel spiegelt sich die Arbeitsweise der Gruppe, kann er doch, neben anderen Assoziationsmöglichkeiten, als eine unmittelbare Aufforderung zum Weiterdenken, Weiterdichten, Weitersprechen verstanden werden.

Der zukünftige Weg der Edition: ist, bis auf die Tatsache, dass die Arbeit weitergehen soll, (noch) offen und unbestimmt. Ohne eigenen Kunstraum werden Kooperationen und die Verwirklichung von Projekten in anderen Räumen und Kontexten im Zentrum stehen. Bei aller inzwischen erreichten Professionalisierung steht damit vieles wieder auf Anfang.

 

Mehr zur Edition: www.editiondoppelpunkt.at

ce qu’il reste des échos

Das bb15 ist ein von Künstler*innen organisierter Raum für Kunst und Kultur, der experimentelle Zugänge fördert. Im Rahmen eines Artist-in-Residency-Programmes wurde Clarice Calvo-Pinsolle als Soundkünstlerin und Teil des Oscillations-Netzwerks eingeladen. Der Text von Mathias Müller entstand nach einem Gespräch mit Clarice Calvo-Pinsolle, in dem sie über ihren Arbeitsprozess und die neue Soundinstallation ce qu’il reste des échos spricht, die im März im bb15 ausgestellt wird.

Was von den Echos bleibt, Skizze. Bild Clarice Calvo-Pinsolle

Welche Städte, welche Orte bleiben am ehesten unvergesslich? Diejenigen, durch die wir mit offenen Augen gegangen sind, aufmerksam alles betrachtet haben? Oder stattdessen vielleicht die, in denen wir mit den Gedanken woanders waren, ins Leere geschaut, nichts gesehen haben, aber unser Körper, ohne dass wir es zu diesem Zeitpunkt bemerkt hätten, seine Umgebung durch die Haut, durch die Ohren wahrgenommen hat. Clarice Calvo-Pinsolle ist eine Künstlerin, die sich kein Bild von einer Stadt macht. Das Auge ist nicht das entscheidende Instrument der Wahrnehmung. Nicht um das Schauen geht es, sondern das Hören. Keine Fotos, keine Kamera, stattdessen ein Aufnahmegerät. Ein ungewöhnliches Verfahren. Wie erinnert sie sich an die Orte, an denen sie gewesen ist? Indem sie die Geräusche noch einmal hört, die sie damals gehört hat. Ein bildloses Erinnern.

Aber wie kann ein solches Hören vor sich gehen? Das Ohr ist ja nicht das einzige Organ, das empfindlich ist für Schallwellen. Der ganze menschliche Körper ist fähig, Vibrationen wahrzunehmen, wie das Zittern des Bodens über die Füße oder tiefe Töne, die tief im Inneren des Verdauungssystems zu spüren sind. Selbst die Flüssigkeit im Inneren des Auges kann in Schwingungen versetzt werden. Das haben Gehör und Gedächtnis gemeinsam. Der ganze Körper ist daran beteiligt. Ein Geruch, ein Geschmack, eine ungewohnte Haltung, die zufällig eingenommen wird, eine plötzliche Bewegung und schon bricht eine Erinnerung hervor; nicht die Erinnerung an ein Bild, noch nicht einmal an einen Geruch, einen Geschmack oder ein Geräusch, vielleicht die Erinnerung an einen Ort, einen Moment, in dem gerade nichts gesehen wurde, nicht geschaut wurde.

Die Suche nach Erinnerungen, die Suche nach Geräuschen. Ein Spaziergang durch Linz mit einem Aufnahmegerät, um Erinnerungen aufzunehmen. Aber auch die Suche nach Gegenständen der Erinnerung. Andere Formen, um Geräusche, um Erinnerungen aufzunehmen. Ein Geräusch, das ist ja fast das Flüchtigste, das es gibt. Oft genug wird es überhört, aber selbst, wenn es laut genug war, ist es auch schnell wieder vergessen. Etwas, das einmal gesagt wurde, kann nicht zurückgenommen werden. Aber wo ist es hin? Jeder Klang, jedes Geräusch wird durch den Raum, in dem es stattfindet, durch die Resonanzen der Wände, der Fenster, der Möbel verändert und diese Veränderung ist leicht hörbar zu machen, zum Beispiel durch Wiederholung. Aber verändert sich auch der Raum durch das Geräusch? Bleibt etwas zurück in den Wänden, Fenstern, Möbeln? Von manchen Legierungen wird gesagt, sie hätten ein Gedächtnis, weil sie sich an die Form „erinnern“, die sie bei einer bestimmten Temperatur hatten. Und unser Alltag ist voller Gegenstände, die empfänglich sind für Erinnerungen und Geräusche, in die sich die Umwelt oder die Ereignisse in der einen oder anderen Form eingezeichnet haben, wie abgegriffene Schlüssel oder eine Hose, die die Form des Körpers behält, der sie trug. Ein halbgelesenes Buch, das auf genau der Seite wieder aufgeschlagen wird, an der wir aufgehört haben es zu lesen, eine Tasse, deren Henkel fehlt, das Große Glas. Spuren eines langen Gebrauchs oder eines plötzlichen Ereignisses. Eindrücke und nicht Feststellungen.

Rohre, Hydrophone, ein gebrauchter Auspuff, Satellitenschüsseln. Geräusche und Erinnerungen. Schall und Gedächtnis. Das sind die Materialien, mit denen Clarice Calvo-Pinsolle bisher in ihren Installationen gearbeitet hat. Für das bb15 wird sie sich mit einem anderen Gegenstand befassen: mit Schallgefäßen, „vase acoustiques“, Keramikvasen, die, laut der Künstlerin, in die Wände von französischen Kirchen des 16. Jahrhunderts eingelassen waren, um den Schall durch ihre Form, ihr Material zu transportieren, zu verstärken, um es nicht hallen, aber klingen zu lassen. Keine von der Wand zurückgeworfenen Geräusche, sondern Resonanz. „Für mich“, sagt die Künstlerin, „sind das Objekte, die Erinnerungen tragen, die Erinnerung zum Beispiel an vergessene, erloschene Stimmen. Sie wirken stimmverstärkend, vielleicht die Stimmen derjenigen, die nicht genug gehört werden, vergessene Stimmen, Stimmen der Vergangenheit.“

Oft waren diese Keramikvasen, genauso gut könnten sie auch Tongefäße heißen, auf eine bestimmte Weise angeordnet, zum Beispiel musterbildend oder in Wandmalereien eingebettet. Im bb15 sind sie nicht in eine Wand eingelassen, sondern ohne Wand, durch eine Stab-, Stahlkonstruktion gehalten. In jedem Tongefäß befindet sich ein Lautsprecher. Die in Linz aufgenommenen Erinnerungen und Geräusche werden in der Installation, die so auch eine Komposition ist, von Tongefäß zu Tongefäß wandern, von Schallkörper zu Schallköper.

Jede dieser „vase acoustique“ ist von Hand gefertigt und gebrannt, jede hat eine eigene Form, besitzt ihre eigenen Unregelmäßigkeiten, Verunreinigungen, und so klingt der gleiche Ton in jedem Schallgefäß verschieden. Aber jedes Gefäß vibriert, hat eine Resonanz, verstärkt den Ton oder wird vielleicht auch von anderen im Raum befindlichen Tongefäßen in Schwingungen versetzt. Sie verändern sich gegenseitig, klingen gemeinsam.

Ein bildloses Erinnern, oder hier, noch entfernter, eine fremde Erinnerung. Mitten in Linz eine Erinnerung an Linz, aber nicht die eigene. Vielleicht in dieser Installation nicht einmal mehr die Erinnerung der Künstlerin, sondern etwas anderes, das niemandem gehört, und nur jetzt, hier, im Moment des Hörens existiert. Die Tongefäße sind nicht in Augenhöhe, sie sind auf Ohrenhöhe angebracht. Sie sind nicht verschlossen, aber trotzdem ist eine Öffnung notwendig. Nicht die Ohren spitzen, aber den Körper zu einem Organ des Hörens machen.

 

ce qu’il reste des échos. Die Installation „ce qu’il reste des échos“ bedient sich akustischen Töpfen, Klangkörper, die in Kirchen zur Verstärkung oder Veränderung der Stimmen von Predigern und Chören verbaut wurden. Damals wurden sie als Brücke zwischen Gebeten und dem Gesang der Engel im Himmel angesehen. Für die Soundinstallation wurden Keramiktöpfe in unterschiedlichen Formen und Resonanzen geschaffen und mit Lautsprechern ausgestattet, um eine räumliche Klangumgebung im Ausstellungsraum zu erzeugen. Geräusche wie Stimmen, Echos und Field Recordings, Erinnerungsstücke besuchter Orte, werden durch die Gefäße verstärkt – und die Töpfe in einen zeitgenössischen Kontext gebracht.

Clarice Calvo-Pinsolle stammt aus dem Baskenland, lebt und arbeitet in Brüssel, wo sie ihrer Klang- und Skulpturforschung nachgeht. Sie entwirft immersive Installationen, die mit der Wahrnehmung des Betrachters spielen. Ihre Arbeit kreist um den Begriff der Erinnerung und die Sicherung von Erinnerungen, insbesondere durch Klang. Sie hat an verschiedenen Orten wie der Yvon Lambert Foundation in Avignon, dem Museo de la Universidad in Santa Marta in Kolumbien oder dem Hotel de Vogue in Dijon ausgestellt. Ihre musikalisches Projekt werden unter dem Namen Lamin veröffentlicht. www.claricecalvopinsolle.com

Clarice Calvo-Pinsolle
ce qu’il reste des échos
Ab 22. März 2022 im bb15
bb15.at

Das Lob in Dosen.

Dem professionellem Prepper ringt die Auseinandersetzung mit Nahrung in Dosen wohl nur ein mildes Lächeln und gefälliges Raunen ab. So wie dem Slowdude den endzeitigen Umtrieben derselbigen … Das Thema Nahrung in Dosen spannt ja einen Bogen von den animalisch Bohnen verzehrenden Bud Spencer und Terence Hill über die von Oma kredenzten „gefüllten Paprika“ im Ferienhaus bis hin zum wehmütig betrachteten, opulenten Kaviarüberfluss in den Feinkosttempel-Schaufenstern. Dazu kommt die Realität, die sich meist in traurigen und armseligen Döschen im Vorratsschrank der eigenen vier Wände widerspiegelt. Die positivste Varianz bringen hier meist nur Thunfisch und Tomaten zu Tage, die negativste Ravioli, Gulasch oder der wirklich ekelhafte Erbsen-Möhrchen-Mix. Doch das muss nicht sein, meint der Dude und möchte der geneigten LeserInnenschaft ein paar Einträge ins kulinarische Stammbuch schreiben.

Unterschätzt: Sardinen in der Dose. Oft in fragwürdigen Zubereitungen wie Tomatencreme, Mexiko oder Asia eingebettet, bieten sie, in ihrer pursten Form in gutem Öl eingelegt, eine wunderbare Basis für Snacks, Vorspeisen oder sogar einen fulminanten Hauptgang. Tipp: Sardinen aus der Dose in eine verschließbare Form schlichten, rote Zwiebel schälen und hauchdünn aufschneiden, Bio-Orange ebenso in dünne Scheiben schneiden und auf die Sardinen legen. Dann eine Mischung aus 1/2 Essig und 1/2 Wasser (Menge richtet sich nach der Form), etwas salzen, zuckern und pfeffern und aufkochen. Heiß über die Sardinen und Komplizen gießen und eine paar Stunden ziehen und abkühlen lassen. Fertig. Mit Weißbrot ein wunderbarer Snack zu Wein und Wasser.

Selten, aber gut: Edamame in der Dose. Die schmackhaften Sojabohnen sind (leider) selten frisch zu bekommen. Wer ihrer in der Dosenform habhaft werden kann: Abgießen, gut waschen und mit etwas Wasser in einem Topf sanft erhitzen. Dann helles Miso nach Gusto untermischen und solange unterheben, bis das Miso aufgelöst und alles gut durchgezogen ist. Auf frischem Reis ein simples gesundes Mahl. Welches mit Bier – das hier hervorragend passt – genossen werden sollte.

Stinkt, aber herrlich: Kimchi in der Dose. Die koreanische Antwort auf Sauerkraut. Mittlerweile als Novität schon durch, weil alle DIY-Hipster ihre Insta-Stories darüber schon gemacht haben. Aber dennoch ein schmackhafter Begleiter zu vielen Gerichten, wie gegrilltes Rindfleisch oder Reisschüsseln. In der Dosenform nicht gefährlich für das olfaktorische Klima in Kühlschrank und Behausung.

Und zum Abschluss noch 2 Tipps – einer lokal und einer online.

Jetzt, wo der Frühling zart um die Ecke lugt und uns mit Luft und Duft wohlige Schauer der Sehnsucht auf die lukullischen Verheißungen der ersten Jahreszeit beschert, kommen auch wieder die braven lokalen ErzeugerInnen auf die Bühne. Und zwar oft auch auf Mini-Märkten in Wohngebieten. Etwas anachronistisch stehen diese HeldInnen der Nahversorgung an ihren Plätzen – umschwirrt von Zustelldiensten, flankiert von den Großen der Branche. Sie sind aber standhaft und bieten meist zwar ein beschränktes Sortiment, aber dennoch preiswert und qualitativ gut, von ihrem Boden oder aus ihren Ställen an.

Für all jene, denen schwer zu organisierende Zutaten Kopfzerbrechen bereiten, für die Amazon ausgeschlossen wird (zu recht und unbedingt) für die weirde Onlineshops von so manchen Asiamärkten zu creepy sind, hat der Slow Dude einen Tipp: Internationale formidable Selektionen von unzähligen Spezialitäten sind hier zu finden: www.stayspiced.com – und der Shop ist im Lande.

Stadtblick

Foto Die Referentin

Vom Rauschen und Brausen

Alexander Till zeigte Vom Rauschen und Brausen zuletzt als Diplom­arbeit. Objekte zwischen Malerei, Bildhauerei und Keramik treffen dabei auf einen Text, der sich gegen sein Geschriebenwerden wehrt. Aus Vom Rauschen und Brausen im O-Ton zitiert: Ein Teil der […] Texte ist aus einer Abwehrhaltung, man könnte sagen aus Ressentiment entstanden. Einem Ressentiment im Sinne von: ‚Seht, was passiert, wenn man die Sprache zwingt, sich um die Kunst zu wickeln.‘

Weiter heißt es: ‚Dementsprechend sind [die Texte] sicher nicht frei von Zynismen, endlos zerkauten Themen, […] Polemik, etc.
Und vielleicht als Widerstand gegen eine Welt, die sprachliche und politische Inhalte, Multimedialität, Interaktivität, Partizipation, etc, voraussetzt, hängen hier auch einfach nur Bilder & stehen Skulpturen herum.
Und die Aussage könnte sein: es ist genug.‘

Die Referentin hat nun gerade wegen diesem gegenläufigen Verhältnis von Kunst und Sprache Alexander Till eingeladen, einige Kapitel in dieser Ausgabe #27 zu veröffentlichen. Die Auswahl der Kapitel findet sich in Folge. Der gesamte Text sowie das titelgebende Manifest können online nachgelesen werden.

Das „Rauschen und Brausen“ ist übrigens dem Zitat entlehnt, das Wittgenstein seiner logisch-philosophischen Abhandlung voranstellt:

… und alles was man weiß, was man nicht bloß Rauschen und Brausen gehört hat, lässt sich in drei Worten sagen.

Zwischen ‚Unkonzept‘, ‚Abschiedsgruß der Sprache‘ und einem Kunst-Fundament, das sich eben niemals und nicht ‚in drei Worten sagen lässt‘ durchwaten wir hier nicht-deckungsgleiche Räume des Rauschens und Brausens, des Sagbaren und Nicht-Sagbaren und, wenn man so will, zwischen Subjekt und Objekt und sämtlichen anderen Dichotomien, die Alexander Till in seiner Arbeit zwischen bildender Kunst und Sprache erstehen lässt
(Alle Zitate: Alexander Till).

# Pflanzenwelt
Dieser Text muss damit beginnen, dass ihn das Werk nicht braucht, ebenso wie es mich nicht braucht.
Wofür könnte ihn das Werk überhaupt *brauchen*?
Wer den Text liest, kann beurteilen ob das Kunstwerk wichtig ist oder nicht. Da es heute viele Kunstwerke gibt, ist das notwendig.
Der Text enthält auch wichtige Informationen, die der Betrachterin Halt an der sonst inerten Oberfläche des Kunstwerks bieten. Er stellt klar, inwiefern das Kunstwerk sich auf sie und ihr Leben bezieht und schließt eventuelle Fehlinterpretationen aus.
In diesem konkreten Fall haben wir es mit vielen *organischen* Formen zu tun. Organische Formen verweisen auf die Pflanzenwelt, die wiederum auf das Klima verweist, das uns bekanntlich alle betrifft.
Folglich auch unsere Betrachterin.
QED
Das war einfach.
So ist auch ausgeschlossen, dass dieses Werk als rechte Propaganda missverstanden wird.
Darauf sollte man immer achten.

# Stärke
An der Unterseite ist mit Bleistift eine sechs oder neun geschrieben.
Ich richte das Regal wieder auf. Und den Couchtisch. Die Beine sind locker und weisen nach außen. Wie Bambi, das auf dem Eis kreiselt.
Es ist unbefriedigend viel Schleim mit wenig saugfähigem Material zu entfernen. Sich in das Gefühl fallen zu lassen funktioniert nicht, es fehlt etwas. Irgendetwas, dann ginge es. Wischen, falten, wischen, mehr schieben als binden.
Mancherorts ist es bereits verkrustet. Ich verwende den Ceranfeldschaber und mache einen Kratzer in die Edelstahloberfläche des Dunstabzugs. Auch in den Schiebeschaltern ist es fest.
Der Küchenboden ist weiß angestaubt. Ich versuche den Staubsaugerschlauch wieder zu befestigen. Es ist scheinbar ein Plastikschnapper abgebrochen. Ich suche Gewebeband. Es gibt nur transparentes Tixo in feinsten Streifen, verteilt auf mehrere fast leere Rollen.
Ich schiebe den Schleim mit dem Scheibenabzieher über den Boden. Der Schleim vermischt sich mit Haaren und Staub.
Etwas schabt über den Boden und ich hebe den Abzieher. Zwischen Boden, Abziehgummi und Haaren bildet sich für kurze Zeit eine transparente Haut. Ich bin wieder da.
Auf dem Parkett, in einen Spannungshügel gebettet, liegt etwas Kleines und Schwarzes. Ein Plastikschnapper.
Die Polstermöbel, werden die anderen sagen, muss man entsorgen. Ich glaube man muss sie nur nass reinigen. Oder warten bis man alles abbürsten kann, oder vielleicht ganz in Schollen herunterbrechen. Es ist immer leichter, wenn sich keiner einmischt.
Die Elektroden kann man wiederverwenden, sie kleben dann nur nicht mehr so gut.
Der Griff des Lötkolbens ist auch schon trocken. Die Fuge zwischen Hartplastik und Silikoneinlagen ist lückenlos gefüllt. Ebenso fünf Löcher der Steckplatine. Es ist auch etwas zwischen die Lötdrahtwindungen gekrochen.
Ich stelle den halbleeren Kartoffelstärkekarton wieder ins Regal. Auch den Salzsack. Die Edelstahlschüssel wird mit Wasser gefüllt, das muss erst einziehen.

# Begleitschreiben
Gerade vorhin, auf dem Weg zum Zug, hatte ich wieder eine Vorstellung davon, was ich zu sagen habe. Eine Frage, die sich zuallererst stellt: Wie tief soll das Hinterfragen reichen? Hinunter zu: *inwiefern braucht ein Kunstwerk einen Text?* Es scheint auf den ersten Blick folgendermaßen: ebensowenig, wie ein beliebiges großflächiges Gepinsel zwingend Freiheit bedeutet, führt ein bodenloses Hinterfragen notwendig in irgendeine tatsächliche Tiefe.
Der typische Pseudoboden eines Textes wie diesem wäre die Selbstreferenz auf Ebene der Aufgabenstellung. (bei der ich mich ehrlicherweise selbst immer wieder erwische) Also die Frage, inwiefern es überhaupt legitim ist, einen Begleittext, sozusagen einen Beipackzettel für ein Kunstwerk, vorauszusetzen. Die Auseinandersetzung mit dieser Frage würde vielleicht zum Versuch ihrer Beantwortung führen, oder zu mehreren nur mit beliebigen Satzzeichen gefüllten Seiten, oder zum mehrmaligen Wiederholen eines einzelnen Satzes, oder ähnlichen Protestakten.
Während ich selbst der Ansicht bin, dass ein Kunstwerk definitionsgemäß auch ohne Zettel an der Wand funktioniert (es darüberhinaus weder einen Kontext braucht, noch aus „seiner Zeit heraus“ verstanden werden muss), kann ich die Forderung nach einer Erklärung aus pragmatischen Gründen verstehen. Sozusagen aus Gründen der Erwachsenenwelt.
Was ist dieses Erwachsensein? In einem Sinn, eine Abstumpfungserscheinung, (und es wäre falsch zu glauben es ginge hier darum ihr Gegenteil zu propagieren) eine Ermüdung, die sich nach dem wiederholten Stellen gewisser Fragen einstellt, und zu einem *weil es halt so ist* führt. Aber halt! Ist nicht genau dieses *weileshaltsoist* das Gift unserer Welt?
Vielleicht ist es mittlerweile wahrnehmbar, dass auch dieser Text, man erkennt es vielleicht schon am Tonfall, den Fängen des Zynismus nicht entgangen ist. Auch wir stehen mit allen Füßen noch fest in der unendlichen Bodenlosigkeit der Selbstreferenz. Wieder eine Sackgasse. Wie kommen wir da wieder raus? Einfach schreien? Irgendetwas Absurdes tun? Den Text verbrennen? Authentisch sein? Uns Ritzen? Unkontaminiert von den Manierismen jeglicher Expertise einfach drauflostanzen, bis sich die anfängliche Peinlichkeit in Begeisterung verwandelt und irgendjemand, der uns so liebt wie wir sind, zu klatschen beginnt?
Dünnes Eis.
Was eines Begleitschreibens bedarf, jedenfalls, ist nicht das Kunstwerk, sondern das Begleitschreiben.

# Verschwörungstheorie
Die Kunstuniversität ist in erster Linie eine Institution, eine verkrustete, bei genauerer Betrachtung, (hier wäre ein „jedoch“ fehl am Platz) eine perfekt funktionierende, sich selbst regulierende. (Man stelle sich eine Haftanstalt vor, in der bis in die Direktion die gesamte Belegschaft aus Insassen besteht.)
Niemand stellt Fragen, wenn in einer staatlichen Institution Protestworkshops veranstaltet werden. Auch nicht bei Kursen, in denen es darum geht, Manifeste zu schreiben. Manifeste für wasauchimmer, einfach um die Manifestenergie abzuleiten.
Auf diese Weise können sich eine Vielzahl an Personen bei minimalem Materialaufwand die Hörner abstoßen, um danach optimal in den Kulturbetrieb eingegliedert zu werden.
Wir lernen es Fahrräder zu reparieren, feministischen Krawall zu veranstalten und nebenbei auch noch ein paar individuell gestaltete Einrichtungsgegenstände an reiche Leute zu verkaufen. Auch Sprayer werden bei uns domestiziert, auf mobile Bildträger umgeschult und mit Awareness ausgestattet.
Allein das Reinigungspersonal wird bisweilen skeptisch, weshalb auch peinlich genau auf getrennte Aufenthaltszeiten geachtet wird.
Nur manchmal, wenn manche es mit dem Ausschweifen zu genau nehmen und zu den unmenschlichen Reinigungspersonalzeiten von diesem aus dem Atelier gekehrt werden, kommt es zu rätselhaften Begegnungen.

# Diode
Die Schienen der Straßenbahn verlaufen direkt durchs Gras, das hat etwas Utopisches an sich. Eine Welt, in der alles von Gras bedeckt ist, durch das man dann auf Schienen fährt. Beim letzten Gespräch wurde ich gefragt, was meine Erzählung ist. Tatsache ist, dass es keine Erzählung gibt. Zumindest noch nicht. Alles was es im Vorhinein gäbe, wäre eine langweilige Spekulation. Irgendetwas, um Bürokraten ruhig zu halten, ihnen das Gefühl zu geben es tue sich etwas, die Kunstmaschine liefe wie geschmiert. Die tatsächliche Kunstmaschine ist aber eher ein Verdauungstrakt, der ab und zu quantifizierte Blasen auswirft, wie eine Rauschdiode. Könnte ich mir irgendein Bauelement aussuchen, es wäre eine solche Rauschdiode. Da bekommt man wieder richtig Lust auf Elektronik. Wieder ein Beispiel dessen, wo­rum es geht: Wenn ich Schaltungen baue, weiß ich nie vollkommen, was ich eigentlich tue. Genau wie sonst auch. Maria Lassnig hat von der Malerei gesagt, sie sei eine Ur-Technik, also etwas, das absolut unkompliziert und direkt ist. Es ist interessant darüber nachzudenken inwiefern das tatsächlich der Fall ist.
Dass das Arbeiten mit elektronischen Schal­tungen eine unfassbare Industrie vor­aus­setzt, ist einleuchtend, allerdings ist die­se in unsere Welt bereits dermaßen integriert, dass man eben in jedem Straßengraben bereits einen alten Videorekorder findet, dass also diese immense Industrie bereits zu einem Grundbestandteil unserer Welt geworden ist. Ähnlich wie man als Malerin industriell hergestellte Farben wie Echtorange oder Preußischblau mit demselben Selbstverständnis verwenden kann.

 

Auszug aus „Vom Rauschen und Brausen“, 2. Auflage, Linz 2021, Alexander Till
Mit Hinweis auf den kompletten Text mit allen Kapiteln, insbesondere dem titelgebenden Manifest
„Vom Rauschen und Brausen“.
Online auf: alexandertill.at

Das Nadelöhr der Anarchie

Letztes Jahr ist Wilfried Steiners Essay Gustav Landauer oder Die gestohlene Zeit erschienen. Andreas Pavlic hat die Geschichte über den Anarchisten Landauer gelesen.

Wilfried Steiner beginnt seinen Essay über Gustav Landauer mit einer biblischen Assoziation. „Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt. Doch eher gelangt ein Reicher in das Reich Gottes als drei Anarchisten ins Wittelsbacher Palais.“

Allen Unwahrscheinlichkeiten zum Trotz fand in der ersten Phase der Münchner Räterepublik, in der Woche vom 7. bis zum 13. April 1919, dieses außergewöhnliche Ereignis statt. Gustav Landauer, Erich Mühsam und Ret Marut schlüpften durch dieses Zeitfenster, walteten in eben diesem Palais ihres Amtes und ließen einen Hauch von Anarchie durch das Land wehen. Der Preis dafür war hoch. Landauer wurde von den konterrevolutionären Schergen ermordet, Mühsam kam in Festungshaft und Marut tauchte unter und floh aus dem Land. Der Zusammenbruch des vom Krieg brüchig gewordenen politischen Systems wurde zunächst von jenen Men­schen beschleunigt, die über Jahre zuvor alternative Gesellschaftskonzepte propagiert hatten und sich in anderen Lebensweisen versuchten, bis sich eine neue Ordnung ihrer entledigte.

Steiner versucht diese Menschen zu zeigen. Sein Zugang ist, wie im Nachwort von Gunna Wendt ausgeführt, „einem persönlichen Magnetismus gehorchend“ Gustav Landauer von mehreren Richtungen aus nachzuspüren. Dabei geht es ihm weniger um seine anarchistische Theorie oder sein philosophisches Denken, sondern um den Kreis seiner Gefährtinnen und Freunde. So zieht es Steiner zu Landauers verschollenem Freund Ret Marut, der sich als anarchistischer Zeitungsmacher der Rätebewegung anschloss, sich der Verhaftung entzog und auf der anderen Seite des Atlantiks als B. Traven seinen literarischen Ruhm begründete. Oder zu Erich Mühsam, Schriftsteller, Bohemien und Anarchist, Freund und Kampfgefährte, der sich in den 1910er Jahren Landauers Sozialistischem Bund anschloss. Vor allem zieht es ihn zu Hedwig Lachmann, einer Schriftstellerin und Übersetzerin, die 1903 Landauer heiratete. Gemeinsam übersetzten sie Oskar Wildes Roman „Das Bildnis des Dorian Gray“ und führten ein prekäres Leben als Künstlerinnen und Intellektuelle in London, Berlin und schließlich in Krumbach in Bayern. Dort verstarb Lachmann an einer Lungenentzündung. Landauer saß an ihrem Sterbebett und verfasste darüber eine kleine Schrift. Nicht Landauers »Aufruf zum Sozialismus« oder sein philosophisches Werk „Skepsis und Mystik“ nimmt Steiner in seinem Essay in den Fokus, sondern dieser kleine Text ist es, der ihn zutiefst berührt. „Er heißt Wie Hedwig Lachmann starb und schildert auf ebenso beklemmende wie hingebungsvolle Wei­se die letzten sechsmal vierundzwanzig Stun­den eines Mannes am Sterbebett seiner Frau. Ein derart konziser Text, auf jedes Wort bedacht und gleichzeitig ungestüm nach nicht verbrauchten Bildern für die Zumutung des Todes suchend, war mir noch nicht untergekommen.“

Die subjektive Hinwendung und vielschichtige Auseinandersetzung mit Landauer und seinem Umfeld ist die Stärke dieses sprachlich gekonnt umgesetzten Essays von Wilfried Steiner. Offen bleibt jedoch die Frage, welche Antworten Gustav Landauer uns heute geben kann, falls sich ein Zeitfenster für eine herrschaftsfreie Gesellschaftsordnung wieder einmal öffnen sollte.

 

Wilfried Steiner: Gustav Landauer oder Die gestohlene Zeit. Essay, Limbus Verlag, 2021

Wilfried Steiner liest außerdem aus seinem neuen Roman, der ein Wissenschaftskrimi zu sein scheint.
Wilfried Steiner „Schöne Ungeheuer. Roman“ Di 22. März, 19:30 h im Stifterhaus

Diese Rezension wurde ursprünglich für das Tagebuch verfasst: tagebuch.at

Die Kommune ist nicht tot!

Die Referentin bringt seit mehreren Heften eine Serie über frühe soziale Bewegungen und emanzipatorische Entwicklungen. Luxus für alle, Gleichheit in Aktion und die sozialen Beziehungen: Eva Schörkhuber beginnt mit einem Blick auf die Occupy-Bewegung der 2010er-Jahre und fokussiert danach die Commune de Paris und die Kunst nicht (dermaßen) regiert zu werden.

Der Sturz der Vendôme-Säule. Foto de Franck, Wikimedia Commons

„La Commune n’est pas morte“, die Kom­mune ist nicht tot, stand auf so manchem Plakat der Platzbesetzer:innenbewegung zu Beginn der 2010er Jahre: Auf prominenten Plätzen in zahlreichen Ländern, darunter Spanien, Griechenland, Frankreich und Deutschland, versammelten sich Hunderttausende, um im öffentlichen Raum über parteipolitische Grenzen hinweg gemeinsam Kritik zu üben an den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen. Sich in Kritik zu üben ist, wie sich in historischen und zeitgenössischen sozialen Bewegungen zeigt, eine Haltungsfrage, die sich im Widerstand gegen Regierungsformen und -techniken immer wie­der neu stellt.

Seinen berühmten Vortrag Was ist Kritik beschließt Michel Foucault damit, dass er das Projekt der Aufklärung – selbstbewusst einen Weg aus der Unmündigkeit zu beschreiten – in einen „entschiedenen Willen nicht regiert zu werden“ übersetzt. Zuvor hatte er im Sinne einer „allgemeinen Charakterisierung“ vorgeschlagen, Kritik als „die Kunst nicht dermaßen regiert zu werden“ zu bezeichnen. Die abschließende Verallgemeinerung trug ihm die Frage ein, ob es am „Missbrauch der Regierungsentfaltung liege“, die ihn zu einer „radikalen Position“ geführt habe, einer Position, die jegliche und nicht nur eine bestimmte Weise regiert zu werden ablehne. Foucault antwortet dem akademischen Rahmen entsprechend ausgewogen: „Ich bezog mich nicht auf eine Art fundamentalen Anarchismus, nicht auf eine ursprüngliche Freiheit, die sich schlechterdings und grundlegend jeder Regierungsentfaltung widersetzt“, stellt er klar, um zwei Sätze weiter noch einmal auszuholen: Wolle man „diese Dimension der Kritik“, von der er spreche, ausloten, „müsste man sich dann nicht mit einem Sockel der kritischen Haltung beschäftigen, die entweder die historische Praktik der Revolte, das Nicht-Akzeptieren einer wirklichen Regierung oder die individuelle Erfahrung der Verweigerung der Regierungs­realität wäre?“

Kämpfe um Erinnerung
In Foucaults Vortrag ist, im Gegensatz zur Französischen Revolution von 1789, von der Pariser Kommune keine Rede. Als eine Art „Sockel der kritischen Haltung“ betrachtet die Literaturwissenschafterin Kris­tin Ross die Commune. Sie interessiert sich weniger für die Held:innengestalten als für die konkreten Ausprägungen der von den Communard.e.s praktizierten „Kunst nicht regiert zu werden“. In einem Gespräch mit der Zeitschrift dérive erzählt sie von ihrer Auseinandersetzung mit den Schriften der Kom­mu­nar­d:in­nen, die über­lebt haben und berichten konnten. Es han­delte sich dabei um eine verhältnismäßig geringe Zahl an Zeug:innen, da viele, die an der Kommune beteiligt waren, nicht schreiben und lesen konnten bzw. nur in den wenigen Wochen, in denen die Pariser Kommune am Werk war, Zugang zu Bildung in Anspruch nehmen konnten.

Dass unmittelbar nach der blutigen Nie­der­schlagung, der berüchtigten semaine sang­lante im Mai 1871, viele zur Feder griffen, um die Ereignisse und ihre Erfahrungen in der Commune zu dokumentieren, interpretiert Ross so, dass ihnen bewusst war, dass es zu einem Kampf um die Erinnerung an die 73 Tage der Commune de Paris kommen würde. Der Nie­derlage folg­ten Verhaftungs-, Hinrichtungs- und De­por­tationswellen sowie die Restauration einer Regierungsordnung, die, wie zuvor, von Geschlechter-, Herkunfts- und Klassenhierarchien geprägt war. Die Kathedrale Sacré Cœur, die von 1875 an auf dem Pariser Montmartre – einem der wichtigsten Versammlungsbezirke für die Kommunard:innen – errichtet wurde, ist per Gesetz ausdrücklich auch „der Sühne der Verbrechen der Kommune“ gewidmet: Die berühmteste Postkarten-Kirche von Paris symbolisiert demnach eine unverhohlene Umkehr von Tätern und Opfern, wobei eines der schwerwiegendsten „Verbrechen der Kommune“ aus Sicht der Kirche wohl darin bestand, dass jeglicher klerikale Einfluss auf Bildung und Lebensführung ausgeschlossen wurde.

Während in konservativen Erinnerungsgemeinschaften die Pariser Kommune als Mahnmahl dafür steht, wozu die Auflösung bzw. Schwäche von Regierungen führen kann, kreisen linke Zusammenhänge oft um die Erzählung von der Niederlage der Kommune: Immer wieder wird sie eingebettet in den historischen Verlauf gescheiterter oder niedergeschlagener Revolutionen. Die Geschichte der Commune ist zu einem Monument geronnen, zur Statue eines heroischen, aber verlorenen Arbeiter:innenkampfes erstarrt.

„… auf die Geburt des gemeinschaftlichen Luxus, den Glanz der Zukunft und die Weltrepublik“
In den Augen von Kristin Ross sind Denkmäler jeglicher Art dazu da „unseren Blick zu zentralisieren“. Sie regieren unsere Perspektive auf die Geschichte ebenso wie auf eine Stadt oder eine Landschaft. Dementsprechend ist der einzig produktive Umgang mit Denkmälern ihre Demontage, im materiellen wie im symbolischen Sinn. Während die Kommunard:innen die Vendôme-Säule in Paris, „dieses lumpige napoleonische Möbel“, wie William Morris sie nannte, Stück für Stück abtrugen, geht Ross Schritt für Schritt den radikalen Entscheidungen und breit diskutierten Grundsätzen der politischen Gedankenwelt der Pariser Kommune nach.

So stößt sie auf den Luxus für alle, den luxe communal: Dabei handelt es sich nicht um „Luxus“ in einem bürgerlich-kapitalistischen Sinn, sondern, wie es ein Kommunard im Rückblick beschreibt, darum, dass die Kommune „nicht durch die sie Regierenden, sondern durch die, die sie verteidigten, ein […] Ideal für die Zukunft aufgestellt“ habe: „Überall wurde das Wort ‚Kommune‘ im denkbar umfassendsten Sinne verstanden, als Name für eine neue Menschheit, bestehend aus freien und gleichen Gefährten, die die Existenz alter Grenzen gar nicht beachten und sich vom einen Ende der Welt bis zum anderen in Frieden gegenseitig helfen.“

In diesem „Ideal für die Zukunft“ werden die Grenzen, welche für eine bürgerliche Gesellschaftsordnung konstitutiv sind, abgetragen: jene zwischen geistiger und körperlicher Arbeit, zwischen Stadt und Land, Theorie und Praxis, Kunst und Handwerk. Die Einzugsgebiete dieser kritischen Praxis sind lokale Einheiten, die untereinander kooperieren, weit über alle Staats- und Institutionsgrenzen hinweg. Die Orte der Organisation der Commune-Bewegung waren nicht die Arbeitsplätze, son­dern die Wohnbezirke, in denen die Menschen ihre alltäglichen Praktiken politisierten. Der Vorteil davon war, dass sich von Anfang an nicht nur Lohnarbeiter organisierten. Alle – auch Arbeitslose, Frauen, Kinder, Heimarbeiter:innen usw. –, die in der belagerten Stadt verblieben waren (ein Großteil der Bourgeoisie, vor allem jener, der über Landbesitz verfügte, hatte Paris, vor dessen Toren die deutsche Armee stand, verlassen), konnten an der Kommune teilhaben. Die nicht nur propagierte, sondern tatsächlich praktizierte „Gleichheit in Aktion“ umfasste alle Lebensbereiche: Das Ziel war eine Form der Emanzipation, die sich weder institutionalisieren noch als Regierungstechnik anwenden ließ. Das betraf den Bereich der Bildung, der aus einem meritokratischen abstrakten Gleichheitsideal gelöst und auf jene Beine gestellt werden sollte, die nicht das, was eine kleine Gruppe unter „Bildung“ versteht, an die gesellschaftlichen Ränder befördern, sondern die den Gedanken, mit denen sich die Menschen in ihrer Alltagspraxis tragen, Raum und Zeit verschaffen, ebenso wie das künstlerische Feld. Die Fédération, die sich gründete, um ein revolutionäres Kunstprogramm zu ent­wickeln, in dem unter anderem die Trennung von Kunst und Handwerk aufgehoben wurde, befasste sich weder mit normativen ästhetischen Kriterien noch mit der Bewahrung eines künstlerischen Erbes: Es ging vielmehr darum, „alle Elemente der Gegenwart freizulegen und zur Entfaltung zu bringen“. Am Ende ihres Manifestes findet sich auch die Formulierung des luxe communal als erklärtes Ziel, das es „zum Glanz der Zukunft und der Weltrepublik“ zu erreichen gilt.

Der Beginn einer ganz anderen Lebensweise 
Kunst sollte ebenso wie die Bildung nicht in Institutionen eingeschlossen werden, son­­dern ihren Platz unmittelbar in den sozialen Praktiken finden. Diese „Gleichheit in Aktion“ wurde auch im Hinblick auf politische Teilhabe praktiziert. Auf die Fra­ge, warum die Frauen der Kommune, die maß­geblich an neuen Zugängen zu Bildung beteiligt waren und die eine der einflussreichsten Gewerkschaften gegründet hatten, wenig Interesse an politischer Gleichberechtigung in Form eines Frauenwahlrechts hatten, antwortet Kristin Ross im dérive-Gespräch: „Ich glaube, es liegt daran, dass Feministinnen, wie auch andere Kommunarden, die Commune als den Beginn einer ganz anderen Lebensweise, al­so einer gesellschaftlichen Revolution be­trach­teten. Sie dachten, dass alle mögli­chen neuen politischen Formen am Horizont auf­tau­chen würden, warum sich also mit einer Teil­habe an den schon vorhandenen, un­ter­drü­ckerischen bourgeoisen Formen begnü­gen?“

In der „Kunst nicht dermaßen regiert zu werden“, die während der kurzen langen 73 Tage der Commune de Paris praktiziert wurde, artikuliert sich demnach auch ein „entschiedener Wille nicht regiert zu werden“. All die Mittel, die zur Produktion eines sozialen Alltages nötig sind, selbst in die Hand zu nehmen, bedeutet, sich in radikaler Kritik zu üben, die Arten und Weisen, in denen über die Köpfe, Arme, Mägen und Beine hinweg bestimmt wird, zu demontieren und Zugänge zu ganz anderen Lebensweisen in Anspruch zu nehmen. Darin besteht das Vermächtnis der Pariser Kommune, das sich, im Ge­gensatz zu einem Denkmal, mit jeder Vergegenwärtigung verändert und, wie die Oc­cupy-Bewegung, immer neue Plätze gesellschaftlicher Auseinandersetzung und Orte sozialer Beziehungsweisen anvisiert.

 

Kristin Ross: Luxus für alle. Die politische Ge­dankenwelt der Pariser Kommune. Aus dem Englischen von Felix Kurz. Berlin: Matthes & Seitz 2021

Jochen Becker, Kristin Ross, Christoph Laimer: Abräumen der Monumente. Ein Gespräch mit Kristin Ross über den langen Wellenschlag der urbanen Revolution. In: dérive. Zeitschrift für Stadtforschung, 84/Juli-September 2021, S. 18–23

Michel Foucault: Was ist Kritik? Aus dem Franzö­sischen von Walter Seitter. Berlin: Merve 1992

Die Serie in der Referentin ist auf Anregung von Andreas Gautsch bzw. der Gruppe Anarchismusforschung entstanden, siehe auch: anarchismusforschung.org

Pariser Kommune
Als Pariser Kommune,
La Commune de Paris, wird der während des Deutsch-Franzö­sischen Krieges spontan gebildete revoluti­o­näre Pariser Stadtrat vom 18. März 1871 bis 28. Mai 1871 bezeichnet, der gegen den Willen der konservativen Zentralregierung versuchte, Paris nach sozialistischen Vorstellungen zu verwalten. (Wikipedia)

Drei Füße zur Freiheit. Schreiben – Malen – Filmen.

In Memoriam Herbert Achternbusch: Richard Wall über den im Jänner verstorbenen anarchistischen Gesamtkunstwerker – und auf Gedenkfahrt von seinem Waldviertler Haus zu Achternbuschs verlassenem Waldviertler Haus.

„Kunst kommt von kontern“, meinte der bayrisch-anarchistische Maler, Schriftsteller und Filmemacher Herbert Achternbusch in einem Interview. In seinem Film Die Atlantikschwimmer von 1976 stehen Herbert und Heinz am Ufer eines Sees, in engen Badehosen und lächerlichen Schwimm­brillen vor den Augen, und wollen weg, über den „Atlantik“. Da sagt die Figur Herbert, gespielt von Achternbusch selbst: „Du hast zwar keine Chance, aber nutze sie!“. Sie hüpfen ins Wasser und schwimmen los …

Es ist zu hoffen, dass nicht nur Sprüche wie diese von seinem immens umfangreichen und vielfältigen Schaffen in Erinnerung bleiben. Ein Wunsch, ausgesprochen im 1978 uraufgeführten Film Servus Bayern, blieb ihm jedenfalls verwehrt: „In Bayern möchte ich nicht einmal gestorben sein!“ Am 10. Jänner dieses Jahres ist er 83jährig in München gestorben.

„Bis mich das Sitzen schmerzte“: Biographisches
Achternbusch wurde 1938 als uneheliches Kind eines Zahntechnikers und einer Sportlehrerin in München geboren, wuchs jedoch bei seiner Großmutter, die gerne gemalt haben soll, im Bayrischen Wald auf. Dass er für Werner Herzog das Drehbuch zu Das Herz aus Glas schrieb, ist möglicherweise auf diese Zeit zurückzuführen. In seiner eigenen Darstellung verliefen Geburt und Sozialisation wie folgt: „Ich musste 1938 auf die Welt kommen, nachdem ich mir meine Eltern schon ausgesucht hatte. Meine Mutter war eine sportliche Schönheit vom Land, die sich nur in der Stadt wohlfühlte. Mein Vater war sehr leger und trank gern, er war ein Spaßvogel. Kaum auf der Welt, suchten mich Schulen, Krankenhäuser und alles Mögliche heim. Ich leistete meine Zeit ab und bestand auf meiner Freizeit. Ich schrieb Bücher, bis mich das Sitzen schmerzte. Dann machte ich Filme, weil ich mich bewegen wollte. Die Kinder, die ich habe, fangen wieder von vorne an. Grüß Gott!“

Nach seinem Abitur 1960 begann Achternbusch zu malen und zu schreiben. Ein Jahr später wurde er Student an der Kunstakademie Nürnberg, wechselte aber bald nach München. Eine intensive Schaffensphase begann, sie dauerte rund 40 Jah­re an. Er schrieb, vor allem Gedichte, malte und arbeitete von 1965–1968 an Holzplastiken. 1968 malte er das – für die nächsten 16 Jahre – letzte Bild. 1971 wurde sein erster Roman Die Alexanderschlacht bei Suhrkamp publiziert. Mit diesem Werk sicherte er sich einen Platz in der Literatur-Avantgarde der 1970er Jahre. 1974 inszenierte er seinen ersten eigenen Film, Das Andechser Gefühl. Nun entstand jedes Jahr in rascher Folge mindesten ein Film, am Ende waren es 28. Daneben schrieb er nach wie vor Bücher und 1984 begann er wieder mit dem Malen, meist ganze Serien. Seine Malerei bewegte sich nun in inspirierender Beziehung zu seinen Texten und Filmen, so wie im Film Die Föhnforscher, in dem ein ganzer Zyklus ins Bild kommt.

„Der Verstand ist im Kopf, die Phantasie überall.“
So wie er filmte und schrieb, so malte er auch, verhaftet in seiner eigenen Welt. Seine Kunst habe mit der Wirklichkeit nichts zu tun, behauptet er im Ambacher Exil. Wobei er sich als Dialektiker des Absurden widerspricht, denn in allen seinen Arbeiten sind konkrete Wirklichkeitsbezüge vorhanden. Seine Filme kommen auch gänzlich ohne technische Tricks oder surreale Effekte aus. Er ist ein phantastischer Augenblicks-Erlebender, der sich in seinen Filmen ziemlich ungemütlichen Situationen aussetzt, wie im Film Bierkampf, in dem die angetrunkenen Besucher des Oktoberfestes zu unfreiwilligen Hauptdarstellern werden. Achternbusch spielt in einer gestohlenen Polizeiuniform einen Staatsbediensteten auf Abwegen, der die Besucher und sich selbst, ebenfalls trinkend und zunehmend betrunken, in slapstick-artige Szenen verwickelt, ja förmlich hineinreißt. Als er Besuchern Bierbrezen stiehlt, sich ihre Maßkrüge schnappt, ist ihre Wut nicht gespielt; schließlich versuchen sie mit ihm, vom Alkohol befeuert, sogar eine Schlägerei zu beginnen. Diesen Film zu drehen war auch für den Kameramann eine Herausforderung: Achternbusch fliegt geradezu Kamikaze durch den Bierdunst; sein physischer Einsatz darf schlicht und einfach als „mutig“ bezeichnet werden.

In Linz war Herbert Achternbusch mindestens einmal. Als eine Vorführung seines Films Servus Bayern angesagt war, kam er selber auch gleich mit. Ich habe den Film seither nie wieder gesehen, aber die eine Szene, als er in einem Wirtshaus die Gamsbärte der an Kleiderhaken hängenden Hüte anzündet, habe ich nicht vergessen. Wenige Jahre später, 1987, verursachte er mit seinem Stück Linz Aufruhr unter den Lokalpolitikern. Der Jahre zuvor entstandene Film Das Gespenst wurde in Österreich gemäß § 188 StGB (Herabwürdigung religiöser Lehren) beschlagnahmt. Das Verbot ist bis heute gültig. In Bayern beschloss der damalige Innenminister Friedrich Zimmermann (CSU), nachdem er den Film gesehen hatte, den ausständigen Förderbetrag von 75.000 DM nicht auszuzahlen.

Achternbusch als Gesamtkünstler im Waldviertel
Achternbusch hat nicht, wie mehrfach behauptet wird, ausschließlich in München und im südlich gelegenen Fünfseenland gelebt. Anfang der 1990er Jahre, als Richard Pils begonnen hat, seine Bücher zu verlegen, kam er auf die Idee, seinem Verleger nahe zu sein und kaufte sich bei Rosenau im Waldviertel ein im 18. Jahrhundert errichtetes Haus, dessen Fassade er bemalte. Doch dann das Zerwürfnis, und in einer Sequenz eines Films, den ich um die Zeit seines 70ers gesehen habe, fährt er mit seiner Tochter zu diesem Haus ins Waldviertel. Es ist Winter, kalt und finster, da sie das Haus erst nach Einbruch der Dunkelheit erreichen. Eingeheizt wird u. a. mit Büchern des Verlags Bibliothek der Provinz, Bücher von Adalbert Stifter verschwinden im Feuer.

Auch als er Buddhist geworden war, blieb etwas von seinem weißbierbayrischen Dickschädel. Ja, weiß. Und kahl. So ist er auf dem Umschlag des Buches Weiße Flecken abgebildet und so steht er vor mir. Ich, der ich Achternbuschs Werk vor mir liegen habe und, ebenso wie er, zeitweise ein Haus im Waldviertel bewohne, hocke in meinem Ausgedinge im Waldviertel vor der Holzhütte. Ein paar Stunden nachdem ich vom Tod des Meisters aus Bayern erfahren habe, sitz’ ich mit einem Schnaps in der Jännersonne und bedenke den Tod des Gesamtkunstwerkers. Vor zwei Tagen hat es hier geschneit, nicht viel, die Schneedecke ist dünn. Eine milde Strömung lässt nun das Weiß und das Eis dahinschmelzen. Schmelzwasser tropft von den Dachkanten in die Dachrinnen, in den Abflussrohren plätschert es leise. In den Wipfeln der Föhren und Fichten hin und wieder ein Aufbrausen, wenn eine Bö hineinfährt.

Im gediegen gestalteten Buch, das vor mir liegt, sind Texte und Bilder. Auf dem Schutzumschlag ein Schwarz-Weiß-Foto des Künstlers. Kahlgeschorener Kopf, Augenbrauen dünn, ein selten symmetrisch angelegtes feines, bartloses Gesicht. Die rechte Hand hält lässig ein Schilfrohr; oben, in Schulterhöhe, wo es endet, ist es zerfasert. Ein Zauberstab? Oder hat er damit auch gemalt? Er blickt mich an und ich denke mir, wie sanft er doch dreinschaut, geradezu in sich ruhend wirkt er, die Grimassen und Faxen aus seiner Jugend haben keine Spuren hinterlassen.

Das Tropfen des Schmelzwassers. Die Stimme eines Kleibers. Das Waldviertler Requiem für ihn. Dem Bürgermeister von Groß Gerungs wird der Tod des einstigen Gemeindebürgers nicht einmal ein Achselzucken wert sein. So geht es zu in den Waldviertler Gemeindestuben. Mit Kultur haben sie nichts am Hut. Im Budget der Gemeinde Langschlag kommt „Kultur“ gar nicht vor. Vielleicht hisst sein Verleger auf der Burg Raabs eine Föhnforscherfahne oder eine Piratenflagge mit dem Knochenschädel im Maßkrug?
Da kommt mir eine Idee. Ich werde seinem Geist in seinem Waldviertler Haus einen Besuch abstatten. Heißt nicht ein Text von ihm „Der Geist weht wo er kann“? Er wird schon können.

„Denn der Himmel kennt keine Gnade“ (Fassadeninschrift)
Als eine der Fassaden im Nachmittagslicht als weiße Fläche sichtbar wird, befürchte ich schon, dass das Gerücht, Achternbusch habe sein Haus verkauft und die Bemalung sei übertüncht worden, wahr sein könnte. Das helle Griechenlandblau der Bemalung ist zwar etwas ausgebleicht, doch der befürchtete Frevel ist bislang ausgeblieben. Ich sage deswegen „Griechenlandblau“, weil ein Teil der Motive Bezüge zur griechischen Mythologie aufweisen. Ich nehme an, dass Achternbusch deswegen die Farbe der Ägäis gewählt hat. An der Ostfassade des Hauses schließt eine Bruchsteinmauer an, die einen Hof umschließt. Auf der Türe zu diesem ist ein Schild angebracht: „PRIVATGRUND/Schwimmen auf der Wiese und Gehen auf dem Teich nicht erlaubt“.

Tritt man über die Schwelle, tut sich vor einem eine andere Welt auf. Der Hof ist, seit das Haus leer steht, zu einem Biotop geworden. Langhalmige Gräser und bis zu drei Meter hohe Sträucher sind im Winter die sichtbarsten Zeichen. Im Zentrum des Hofes hat Achternbusch seiner Tochter Naomi ein Theater errichtet, eine gediegene Zimmermannsarbeit, deren Vierkanthölzer mit den Farben Gelb, Weiß und Blau bemalt sind. Ein runder Holzschild mit aufgemaltem Gesicht klärt mit der Schriftumrandung die Funktion bis heute: DAS THEATER NAOMI. Eine aus Brettern gezimmerte Karyatide weist mit ausgestrecktem Arm auf die orangegelb bemalte Holztreppe, die auf den Bretterboden hinaufführt. Vorhanden ist noch ein aus mehreren Holzteilen zusammengesetzter Esel. Dass auch die Tochter immer wieder zum Pinsel gegriffen hat, belegen Bemalungen im Hof und an der Außenwand eines Geräteschuppens, in dem auch künstlerisch gearbeitet wurde: In einer Continental-Schreibmaschine ist noch ein Bogen Papier eingespannt, ein mit Leinen bespannter Keilrahmen lehnt an der Bretterwand, an der Schmalseite, dem Eingang gegenüber, steht eine vom Vater bemalte Türe: Eine Aphrodite mit massigen Oberschenkeln, der Enge des Wickelrocks ist der rechte Busen entschlüpft und der Scheitel der ramponierten Schönheit ist mit einem aus dem Kopftuch geknoteten Mascherl bedeckt.

Naomi spielte bereits im Alter von drei Jahren – sie ist 1994 geboren – im Film Picasso in München eine kleine Rolle, 2002 erhielt sie ihre erste Hauptrolle in Das Klatschen in einer Hand. In beiden Filmen führte ihr Vater Regie. Für ihre Darstellung einer vermeintlich blinden Schulabbrecherin im Film Blind & Hässlich wurde sie 2018 mit dem Preis der deutschen Filmkritik als beste Darstellerin ausgezeichnet.

Der Geist von Achternbusch steckt noch in den Bemalungen, im Gemäuer, aber auch in den riesigen Granitsteinen, die er um sein Grundstück aufstellen hat lassen. Neben dem Gebäude liegt ein Teich, möglicherweise einst mit Karpfen besetzt. Hoch über dem Ufer hat sich Achternbusch aus Holzsäulen einen Tempel mit Kegeldach errichtet, unter dem er saß, meditierte und auf das Spiegeln des Teiches blickte.

Ein Universalgenie nannten ihn seine Bewunderer, einen Nestbeschmutzer seine Gegner.