Auf den Spuren schreibender Mütter
Mutter werden. Mutter sein. Autorinnen über die ärgste Sache der Welt: So lautet der Titel eines kürzlich erschienenen Buches. Wie sieht die Mutterrolle heute aus? Was wird über Mutterschaft erzählt, welche Texte werden zu diesem Thema verfasst? Die österreichische Schriftstellerin Barbara Rieger hat fünfzehn Autorinnen eingeladen über dieses Thema zu schreiben. Silvana Steinbacher ist von der Vielfalt der Texte überzeugt.
Du bist echt der Hammer! Ich finde dich einfach wunderbar.
Dieses Sprüchlein schrieb der zehnjährige Sohn einer Bekannten zum Muttertag. Wir schmunzeln und denken an unsere Schulzeit zurück, als unsere Gedichte zu diesem Tag vom „lieben Mütterlein“ und der emsig arbeiteten Hausfrau nur so wimmelten.
Im kürzlich erschienenen Buch Mutter werden. Mutter sein. Autorinnen über die ärgste Sache der Welt hat die österreichische Autorin und Schreibpädagogin Barbara Rieger fünfzehn Autorinnen inklusive sich selbst eingeladen, über Mutterschaft zu schreiben. Fiktiv, biografisch oder essayistisch haben die Schriftstellerinnen über dieses ewig aktuelle und facettenreiche Thema ihre Gedanken zu Papier gebracht. Sie schreiben unter anderem einen Brief an eine Frau, die soeben ein Kind bekommen hat (Elena Messner), über die Situation im Lockdown mit Kindern, Ehemann und einem Au-pair-Jungen (Barbara Peveling) oder über eine ukrainische Putzfrau (Lene Albrecht). Abgesehen von wenigen Ausnahmen, die sich in gängiger Weise der Doppelbelastung einer Mutter und Schriftstellerin widmen, sind die Herangehensweisen der Autorinnen durchwegs unterschiedlich und oft auch originell.
Einige schöpfen in ihrem Text, so ist zu vermuten, aus ihrer Biografie, andere überdrehen die Gestalt der Mutter ins komplett Schräge. Gut gelungen ist dies, finde ich, der deutschen Krimi-Autorin Katja Bohnet, die eine völlig verantwortungslose Mutter beschreibt: „Mutter verbot mir, mich anzuschnallen. Ohne Gefahr mache hohe Geschwindigkeit keinen Spaß.“ Aber das ist erst der Anfang dieser schaurigen Muttergeschichte, und die Leserin darf sich getrost auf weitere Wahnsinnigkeiten dieser Frau, der man am liebsten nur in der Literatur begegnet, gefasst machen …
Raffiniert nähert sich auch Andrea Grill der vorgegebenen Protagonistin, die in ihrem Text eigentlich keine Hauptfigur darstellt und dennoch immer um die Erzählung kreist. Deren Sohn ist vom Besitz eines Spielzeugs besessen. Ausschließlich dem baldigen Erwerb eben jenes Spielzeugs, das sich seine Mutter nicht leisten kann, ordnet er seine Gedankenwelt unter. Nur dezent schildert Grill dabei die Erschöpfung, Geld- und Zeitknappheit der Mutter.
Die Rolle der Mutter wurde in der Literatur oft auch „stiefmütterlich“ – woher stammt dieser abwertende Begriff? – behandelt und nachdem wir schon bei diesem Stichwort sind: Die Stiefmutter begegnet uns in vielen literarischen Texten und fast immer als rundum böse Figur, so in den Grimm’schen Märchen Hänsel und Gretel und Schneewittchen. Die emotionslose Mutter finden wir bei Flauberts Madame Bovary oder in der Gestalt der Gerda Buddenbrook bei Thomas Mann, um nur einige zu nennen. Seit den 1970er Jahren werden immer mehr Bücher publiziert, in denen die Mutterrolle thematisiert wird. Beispiele der vergangenen Jahre sind etwa Anke Stellings Roman Schäfchen im Trockenen oder der Roman Vom Aufstehen, mit dem Helga Schubert den Bachmannpreis 2020 gewonnen hat – zwei Texte von Autorinnen. Doch nicht nur: Alois Hotschnigs Roman Der Silberfuchs meiner Mutter gerät zur Liebeserklärung an seine Mutter, und auch im vielgelobten Buch Die Freiheit einer Frau von Édouard Louis steht die Mutter im Mittelpunkt.
Kehren wir zurück zu Mutter werden. Mutter sein. Autorinnen über die ärgste Sache der Welt: „Die große Skepsis vor dem Unbekannten spießt sich hier mit der großen Illusion über die Herrlichkeit der eigenen Gene.“ Klar und überzeugend nähert sich Gertraud Klemm den Mühen einer Adoption, den damit verbundenen bürokratischen und teils demütigenden Hürden. Klemms Protagonistin entschließt sich, zwei Kinder aus Südafrika zu adoptieren, resultierend aus der schmerzvollen Erfahrung, keine eigenen Kinder bekommen und das Erlebnis der Schwangerschaft und Geburt nicht selbst erleben zu können. Die Beziehung zu den adoptierten Kindern empfindet die Ich-Erzählerin als rundum vollständige, obwohl sie vor diesem Schritt vielfach gewarnt wurde.
Natürlich ähneln sich die Probleme der schreibenden Mütter in vielem: der Wunsch nach Eigenständigkeit, die Sorge, literarisch nicht mehr genug arbeiten zu können. Eine Qualität dieses Buches besteht in der Vielfalt der Ansätze. Einige beeindruckende Texte kreisen um die allzeit gültige Zerrissenheit zwischen der Rolle als Mutter und als Schriftstellerin. Die Bachmannpreisträgerin 2021 Nava Ebrahimi fühlte sich bei einer Lesung unkonzentriert, weil sie im Gegensatz zu den beiden mit ihr auftretenden Mitlesenden die Wochen davor ausschließlich mit ihren Kindern beschäftigt war. Verena Stauffer entführt uns in sinnlichen Bildern nach Manhattan, wo sie ausgerechnet den Muttertag mit ihrem Liebhaber verbringt. Ihr Gewissen kann sie erst dann beruhigen, als sie mit ihren gut gelaunten Kindern Kontakt aufnimmt.
Was, so fragt sich vielleicht manche Leserin und hoffentlich auch manch Leser, hat sich an der Mutterrolle der vergangenen Jahrzehnte geändert? Sehr vieles, wenn wir zur Realität zurückkommen, die sich natürlich auch in den Texten widerspiegelt. Eine Frau muss sich nicht mehr zwischen Kind oder Karriere entscheiden, der von ihr alleine zu bewältigende Haushalt ist vielfach der Care-Arbeit, die hoffentlich von beiden Seiten geleistet wird, gewichen. Mutterschaft ist in unseren Breiten meist eine bewusste Entscheidung und „passiert“ nicht mehr.
Wie zu Beginn des Textes möchte ich noch einmal eine Begegnung mit einer Bekannten schildern, bei der die früher selbstverständliche Zukunft einer jungen Frau als Mutter zur Sprache kam. Heute kann sie sich dem „widersetzen“, ohne sich stets dafür rechtfertigen zu müssen. Einiges hat sich nicht verändert, das Leben einer Frau mit Kind(ern), in Beziehung oder alleinlebend, ist meist wesentlich anstrengender als jenes der Väter. Und warum eigentlich der Untertitel: Autorinnen über die ärgste Sache der Welt? Die Herausgeberin Barbara Rieger beantwortet diese Frage in ihrem Vorwort: „Denn Mutter sein ist die ärgste, schwierigste, intensivste und schönste Sache der Welt!“
Mutter werden. Mutter sein. Autorinnen über die ärgste Sache der Welt
Herausgegeben von Barbara Rieger
Mit Beiträgen von Helena Adler, Lene Albrecht, Katja Bohnet, Teresa Bücker, Nava Ebrahimi, Andrea Grill, Sandra Gugic, Franziska Hauser, Simone Hirth, Gertraud Klemm, Elena Messner, Lydia Mischkulnig, Barbara Peveling, Verena Stauffer.
Leykam Buchverlag 2021
Lesereihe FIFTITU% liest …
Die Autorin Lisa-Viktoria Niederberger, von der in dieser Ausgabe der Referentin auch ein literarischer Text zu finden ist, hat für die Vernetzungsstelle FIFTITU% die neue Lesereihe „FIFTITU% liest …“ kuratiert. Die erste Veranstaltung findet im April statt. Zur Lesung und Podiumsdiskussion wurde Herausgeberin und Autorinnen von „Mutter werden“ eingeladen.
Lesung und Podiumsdiskussion: „Mutter werden. Mutter sein. Autorinnen über die ärgste Sache der Welt“ Freitag, 29. April 2022
Voraussichtlicher Veranstaltungsort: Kunstuniversität Linz, Hauptplatz 8, 4020 Linz
www.fiftitu.at/kooperation/fiftitu-liest-mutter-werden-mutter-sein-autorinnen-ueber-die-aergste-sache-der-welt