REVOLUTION! Die Forderung nach dem Unmöglichen.
Das Lentos Kunstmuseum, das Nordico Stadtmuseum und die Landesgalerie Linz zeigen derzeit eine häuserübergreifende Schau zu unterschiedlichen Teilaspekten der künstlerischen und kulturellen Avantgarde der 68er-Bewegung. Elisabeth Lacher orientiert und wendet sich dann den räumlichen und gesellschaftlichen Utopien eines erweiterten Verständnisses von Architektur zu.
Zu den Ausstellungen erschien auch das Buch 68, herausgegeben von den KuratorInnen Johannes Porsch, Hedwig Saxenhuber und Georg Schöllhammer. Wer um 1968 in Erscheinung trat, inwiefern die AkteurInnen der Wirklichkeit den Schluss erklärten und welche Rolle Linz hierbei gespielt hat, wird in den Ausstellungen wie in der Publikation ausführlich, informativ und anregend aufbereitet.
Im Lentos werden künstlerische Positionen der lokalen Szenen aus Linz und Oberösterreich mit KünstlerInnen aus den Nachbarregionen in Beziehung gestellt, um die Ausbrüche, Aufbrüche und Umbrüche im Kontext der Stahlstadt Linz zu zeigen, etwa die Gruppe rund um den Schriftsteller und Herausgeber Heimrad Bäcker. Die Arbeiten von Josef Bauer, Gerhard Knogler und Fritz Lichtenauer verweisen auf eine künstlerische Praxis, die zwischen bildender Kunst und dem bildnerischen Aspekt von Text angesiedelt ist. Hervorzuheben sind diesbezüglich auch die ausgestellten Verknüpfungen der Linzer Gruppe mit KünstlerInnen aus der CSSR, wie Bela Kolárová und Jirì Valoch. Johann Jascha rekonstruiert für die Ausstellung im Lentos erstmals seit 40 Jahren die Arbeit Schöner Wohnen, die in Zusammenarbeit mit der Gruppe Salz der Erde entstanden ist. Der Künstler sammelte im Zeitraum 1969 bis 1975 die Überreste seines Lebens in getrockneter Form in seinem damaligen Atelier. Bei der Ausstellungseröffnung war Jascha mit einer seiner Schreiaktionen zu erleben.
Das Nordico vertieft die gesellschaftlichen Veränderungen in den 1970er-Jahren in den unterschiedlichen Bereichen wie der Frauen-, Friedens- und Umweltbewegung. Zahlreiche Bild-, Text- und Tondokumente entwerfen ein vielschichtiges Bild jener Jahre in Linz. Sie gewähren zudem Einblicke in verschiedene Gruppen und Räume der Linzer Linken, der Kunst und der Musik – wie die Galerie Maerz, die Berger Mami, die Stadtwerkstatt, das Café Landgraf, die Galerie Hofkabinett und ihre ProtagonistInnen erzählen.
Das Hauptaugenmerk der in der Landesgalerie Linz gezeigten Schau „Schluss mit der Wirklichkeit! Avantgarde, Architektur, Revolution, 1968.“ liegt vor allem auf experimenteller Architektur und der urbanen Revolte rund um 1968. Die ausgestellten Skizzen, Bilder und Dokumente bilden einen Einblick in die urbanen Wurzeln der 68-Bewegung. Bedeutend für die Resonanz ästhetischer Konzepte und politischer Aktion sind Kontext und Metapher des urbanen Raums: das massenmedial Imaginäre der Metropole, die Produktions-, Distributions-, Konsum- und Kommunikationsmaschine Stadt, die Lebens- und Verhaltensweisen codierende Urbanität, der flüchtige Alltag der Straße. Die architektonischen Projekte der 1960er und frühen 1970er platzieren sich im Maßstab und Modus von Objekt, körperbezogener Apparatur, objekthafter Minimalumwelt bis hin zur Megastruktur und interventionistischem Handlungsfeld bzw. performativer Infrastruktur. Das alles äußerte sich modernistisch-formbezogen, affirmativ-subversiv, aktionistisch-eruptiv, rituell-forschend im vielschichtigen Gewebe der Stadt.
Den architekturbezogenen Praxen und Theorien der urbanen Revolte der 68er-Bewegung mit ihrer Politisierung öffentlicher Räume, deren Aneignung, der Definition selbstbestimmter Lebensformen und der damit einhergehenden Auslotung unterschiedlicher Wohnformen wird in Retrospektiven zu künstlerischen Perspektiven der 68er Jahre oft zu wenig Beachtung geschenkt. Zu Unrecht, denn gerade aus dieser Zeit des Um- und Aufbruchs entstanden wichtige Theorien zu öffentlichem Raum, die nach wie vor richtungsweisend in der Auseinandersetzung mit Stadt, Urbanität und Kunst im öffentlichen Raum sind.
In welchem Verhältnis die Projekte der experimentellen Architektur zu Ideologiekritik, den Programmen und Forderungen der Student/innenprotest- und Bürger/innenrechtsbewegung von 1968 stehen, ob und wie ästhetische und politische Bewusstseins- und Repräsentationskritik sich zueinander verhalten, ist die offene Frage, in der sich die Ausstellungen „Wer war 1968?“ und „Schluss mit der Wirklichkeit! Avantgarde, Architektur, Revolution, 1968.“ reflektieren und in einen Dialog treten.
„Kunst ist eine in Form gebrachte Forderung nach Unmöglichem“, hat der französische Schriftsteller Albert Camus geschrieben. Kaum einem Zeitabschnitt entsprechen diese Worte so ausdrücklich wie den Jahren um 1968. Es waren Jahre der Utopie, der ästhetischen Experimente und der Grenzüberschreitungen. Zum ersten Mal gingen KünstlerInnen in den öffentlichen Raum, gingen auf die Straße und erklärten diese zur Galerie, zu einem Ort, an dem Kunst unmittelbar eingreifen und verändern kann, mit einem völlig anderen Publikum als in den Ausstellungshäusern oder den künstlerischen Zirkeln.
In den 68ern und danach begann auch von Seiten experimenteller Architekten und Architektinnen ein Fragen nach öffentlichem Raum, nach dessen Gestaltung und Nutzung wie dessen Politisierung. Der damalige Status Quo von Kunst am Bau als „Dekor“, welcher den fertigen Bauobjekten quasi aufgepfropft wird, wurde in rebellischen Gesten und einer avantgardistischen Kunstpraxis unterwandert. All dies führte, wenn auch die in den Raum gebrachten Forderungen nach Revolution und Utopie wohl als Forderung nach dem Unmöglichen eingeordnet werden müssen, dennoch zu weitläufigen Veränderungen im Verständnis von Kunst am Bau und einer beginnenden Kunst im öffentlichen Raum.
Die Ausstellung in der Landesgalerie mit Projekten von Zünd Up/Salz der Erde, Missing Link, Haus-Rucker-Co, Angela Hareiter und Valie Export zeigt die räumlichen und gesellschaftlichen Utopien eines erweiterten Verständnisses von Architektur, Stadt und öffentlichem Raum in all den fragilen Ideen, Entwürfen und Konzepten darüber. Sie führt die BesucherInnen nicht nur in die Denkweisen der avantgardistischen Architektur mit dem Schrei nach Revolution zurück, sondern lässt sie auch reflektieren und nachdenken über die (traurige) Unmöglichkeit von Revolution.
Die weibliche Seite der Avantgarde
Beim Gang durch die Ausstellung fällt auf, dass sehr wenige Positionen von Architektinnen gezeigt werden, der damalige Mangel an Frauen in der Architektur liegt dem wohl zugrunde. Lange Zeit war die Architektur Männern vorbehalten; noch im zwanzigsten Jahrhundert wurden Frauen an vielen Universitäten für Architektur nicht oder nur in bestimmten Bereichen der dekorativen Ausstattung zugelassen. Als ob die letzten beiden Silben der Berufsbezeichnung Architekt„innen“ ihnen auch gleich den Ort ihrer Kompetenzen zuweisen würden: Die Hülle bauten Männer, und allenfalls das, was „innen“ ist und für die Öffentlichkeit nicht sichtbar, wurde dem „Geschmack“ der Frauen überlassen. Auch Avantgarde-Schulen wie das Bauhaus entkamen dieser Rollenzuweisung kaum. Doch das ist eine andere Geschichte. Die sorgfältig in die Ausstellung eingebauten Projekte von Valie Export und Angela Hareiter, die auch Mitbegründerin von Missing Link ist, lassen dann ein kurzes feministisches Aufatmen zu.
Auf die generelle weibliche Unterbesetzung in den 68er Jahren verweisen Zeitdokumente im Nordico und das Kapitel „Sexuelle Revolution“ im Buch zu den Ausstellungen. Die Texte von Margit Knipp, Edith Friedl, Gabriele Müller und Barbara Seyerl beschreiben sehr lebendig und persönlich die Situation der Frauen in der Linzer Männerdomäne jener Zeit.
Besonders hervor sticht die Beschreibung Edith Friedls einer Diskussion am Küchentisch in ihrer Studenten-WG am Linzer Froschberg und lässt mich beim Lesen unwillkürlich schmunzeln. Sie schreibt über fünf angehende Soziologen, die angeregt über Wilhelm Reich und den klitoralen Orgasmus diskutierten. Als einzige Frau in der Diskussion stellte die Autorin eine Frage in die Runde und erhielt von einem männlichen Diskussionsteilnehmer den Hinweis „Pssst, das verstehst du nicht, das erklär ich dir später“. Genial, nicht wahr?
Viele Frauen erinnern sich an die „supergescheiten“ und intellektuell reflektierten 68er-Jungs als Chauvinisten, Sexisten oder schlichtweg als linke Machos. Es galt, ihnen die weibliche Stirn zu bieten. Und das taten die Linzerinnen dann auch. Es war die Gründerzeit von Frauengruppen, dem Autonomen Frauenzentrum – das bis heute besteht, von alternativen Kindergärten und der Etablierung „wilder Frauen“ und Feministinnen in der Linzer Öffentlichkeit. Hingewiesen sei hier auch auf die Tampon-Aktion während der Wahl zur Miss Oberösterreich 1978 im Linzer Vereinshaus, die Edith Friedl beschreibt. Drei AkteurInnen – sie selbst, ein gewisser Thomas und eine Karin sprengten den sexistischen Zirkus und die Fleischbeschau, indem sie Damenspenden verteilten: sie bewarfen die Juroren mit rot eingefärbten Tampons.
Da ich selbst in den frühen 80er Jahren geboren wurde, passierte dies alles lange vor meiner eigenen Auseinandersetzung mit Kunst, Gesellschaft und Feminismus. Dennoch würde ich für mich die Zeit der 68er bis Ende 70er Jahre als persönlich wegweisend beschreiben. Zumal ich in einer kleinen, oberösterreichischen Marktgemeinde aufwuchs, in der patriarchalische Gesellschaftsstrukturen auch in den 80er und 90er Jahren fest verankert waren. Ich erinnere mich, das Wort Feministin oder Revoluzzerin doch öfter als einmal gehört zu haben: als verächtliches Schimpfwort für sinnlos aufbegehrende oder gar „perverse“ Frauen. Später dann, in der Oberstufe des Gymnasiums mitten im Hausruckviertel mit dem Wiener Aktionismus, feministischer Literatur, Kunst und Politik konfrontiert zu sein, glich einer jugendlichen Erleuchtung: Plötzlich hatte Kunst etwas mit mir und meinem Leben zu tun. Das erste Mal Fotos von Valie Exports Tapp- und Tastkino zu sehen, auch wenn die Aktion da schon vor 30 Jahren passierte, war eindrücklich und intuitiv verständlich. Und ließ mich dann weiter über Kunst und Avantgarde forschen: und das war in meinem damaligen, ländlichen Umfeld doch sehr selten. Selbst meine Freundinnen und Freunde waren schwer von meiner Begeisterung und der Bedeutung von Kunst und Literatur zu überzeugen. Aber auch das ist eine andere Geschichte.
Um in die Dynamik dieser Zeit einzutauchen, sich zu erinnern und vertiefendes Wissen anzueignen, besonders auch im Bezug zu Linz in den 68er und 70er Jahren, seien die Ausstellungen und das dazu erschienene Buch 68 jedenfalls jedem und jeder wärmstens empfohlen.
WER WAR 1968? Kunst, Architektur, Gesellschaft
LENTOS Kunstmuseum Linz, noch bis 13. Jänner 2019
www.lentos.at
NORDICO Stadtmuseum Linz, noch bis 24. Februar 2019
www.nordico.at
SCHLUSS MIT DER WIRKLICHKEIT! Avantgarde, Architektur, Revolution, 1968.
Landesgalerie Linz, noch bis 20. Jänner 2019
www.landesmuseum.at
Die Publikation „Wer war 1968? Kunst, Architektur, Gesellschaft“ ist im Verlag Anton Pustet erschienen, mit Texten von Johannes Porsch, Hedwig Saxenhuber und Georg Schöllhammer, Essays von Helmut Draxler, Thomas Eder, Peter Huemer, Gabriele Kaiser, Christa Kamleithner, Helmut Lethen, Klaus Ronneberger und Greta Skau sowie mit mehr als 100 Textbeiträgen in deutscher Sprache.
464 Seiten, Preis: € 29,–
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