Schlagwort Theatergerechtigkeit

„Stahlstadt.online“ war ein Online-Theaterprojekt, das schon im August und im September während der Ars gelaufen ist – als Alternate Reality Soap und als offline Escape-Room-Event. Das Projekt hatte aber vor allem auch eine praktische Stoßrichtung für junge Menschen mit Fluchterfahrung. Theresa Luise Gindlstrasser gibt einen Einblick in das Community-Projekt und spricht danach mit den beiden, die das neue Theaterformat entwickelt haben – mit Clara Gallistl und Philipp Ehmann.

Kommen und gehen – auch mal von der Stahl City in die Plus City. Foto Stahlstadt Online

Und dann ist schon wieder was passiert. Für eine Instagram-Story war die 19-jäh­rige Schülerin @sefdisefda gerade noch da­mit beschäftigt, von @luca.ned.lucas zu schwärmen (der aber mit @notyourjuliett zusammen ist), als im nächsten Bild die Farben verschwimmen und Photoshop ein weißes Loch in die Aufnahme reißt. Auch @amirmstahl erging es ähnlich: Endlich Arbeit gefunden als Verkäufer in einem Kleidungsgeschäft, verzweifelt der 21-jährige Afghane am oberösterreichischen Idiom eines Kunden und beendet seine Insta-Story mit einem Foto vom weißen Loch. Seither war er verschwunden. Das Profil von @linzliebe suggeriert, dass solche „Portale“ auch in Wien gesichtet wurden.

Von 26. August bis 6. September war die Alternate Reality Soap „Stahlstadt.online“ öffentlich zu verfolgen. Das Theaterprojekt passierte online über Instagram und Youtube, am 5. und 6. September kam es im Rahmen des Ars Electronica Festivals in der PostCity Linz zu einem offline Escape-Room-Event. Egal ob digital oder analog, Hauptsache: Interaktion. Die „Theatervorgänge“ schreiben sich über die sozialen Medien in die Instagram-Realität der Abonnentinnen und Abonnenten ein. Auf die Kommentare, fertig, los! Was hat es mit den weißen Löchern auf sich? Solch Niederschwelligkeit ermög­licht das Erleben von Theater ohne Ticket-Kauf, Stillsitzen oder Lektüreschlüssel.

Für „Stahlstadt.online“ haben die Expertin für Community-Building Clara Gallistl und der auf immersives Theater und Urban Gaming spezialisierte Regisseur Philipp Ehmann mit einer Gruppe von 25 Jugendlichen, mehrheitlich mit eigener Fluchterfahrung, zusammengearbeitet. Die Story des Vorhabens wurde in monatlichen Workshops gemeinsam erarbeitet. Außerdem beteiligt sind zwei professionelle Schauspielende.

Vor dem Verschwinden von Amir und Sefda, also vor Beginn des eigentlichen Krimi-Plots, waren Alba, Aimée-Valerie, Matti und Alex (die Personen hinter diesen Pseudonymen betreuen gemeinsam das über den Projektzeitraum hinaus weiterhin auf Instagram bestehende @linzliebe) hauptsächlich mit Konzertmit­schnitten und Momentaufnahmen der schönen Stahlstadt beschäftigt. Im Vor­dergrund stehen aber Videos, die sich mit den Themen Wohnungssuche und Sprach­erwerb oder der Frage, wie und wo junge Leute in Oberösterreich sich freiwillig engagieren können, auseinandersetzen. Aimée-Valerie gibt Tipps für den Umgang mit Angst und Alex unterstützt Amir bei der Suche nach Arbeit.

Das Theaterprojekt „Stahlstadt.online“ hatte insofern vor allem eine praktische Stoßrichtung: Junge Geflüchtete sollen mit Informationen versorgt werden, die für ein selbstständiges Leben in Ober­öster­reich notwendig sind. Auf der Internetbühne verschwimmen nicht nur „real“ und „fiktional“ oder „Agierende“ und „Pu­bli­kum“, sondern auch „Unterhaltung“ und „Informationsweitergabe“. Publi­kums­seg­men­ten, die sich im klassischen Theater nicht repräsentiert fühlen, soll ein Zu­gang ermöglicht werden. Sich wie­derzufinden in den Geschichten, die Theaterkunst über das Leben erzählt, ist ein wichtiger Schritt gegen die Isolation und für die Teilhabe an Gesellschaft und Kultur.

Clara, du hast 2017 bei dem in der Tribüne Linz aufgeführten Community-Theaterprojekt „Perspektiven des Alltags. Neues Oberösterreich“ mitgearbeitet. Wie kam es in Folge zu „Stahlstadt.online“?
Clara Gallistl: Bei einem Treffen mit Landesrat Rudi Anschober haben wir über eine damals neu durchgeführte Studie über die Darstellung von jungen Geflüchteten in oberösterreichischen Medien gesprochen. Die Landesintegrationsstelle versucht über ihre Homepage, über Flyer und Folder Informationen weiterzugeben – über Deutschkurse, Wohnung, Geld, Freizeit. Es ist fraglich, ob diese Medien die Jugendlichen wirklich erreichen. Aber: Jugendliche, egal woher sie kommen, haben ein Smartphone, sind auf Youtube, Instagram und benutzen WhatsApp. Basierend auf diesem Gedanken habe ich ein erstes Konzept entwickelt und bin daraufhin mit Philipp Ehmann in die Planungsphase gegangen. Wir kennen uns schon sehr lange und haben ähnliche Vorstellungen davon, wie wir Theater machen wollen.

Wie wollt ihr denn Theater machen?
Philipp Ehmann: Wir treffen uns in den Geschichten, die wir erzählen wollen. Wir wollen nicht: Geschichten von weißen Männern auf der Bühne für weiße Männer im Publikum erzählen. Sondern eine komplexe, diverse Gesellschaft abbilden, nämlich so, wie unsere Gesellschaft einfach auch ist, wir sind nicht alle cis, wir sind nicht alle weiß, wir sind nicht alle Mann. Wer wird im Theater wie repräsentiert? Es geht auch darum wahrzunehmen, dass Jugendliche Individuen sind. Teilweise in der Pubertät, teilweise nicht, und es geht darum wahrzunehmen, dass die Menschen, mit denen wir arbeiten, verschiedene Bedürfnisse haben.
CG: Mein Schlagwort ist: Theatergerechtigkeit. Ein transparenter Umgang mit den Ressourcen, ein fairer Umgang mit den Beteiligten, sei es in Bezug auf Honorare oder die Weitervermittlung von Kontakten, das Ermöglichen von Vernetzung, das Verfassen von Referenz-Schreiben, dass alle gesund und gut arbeiten können, die Möglichkeit zur Reflexion auf den Prozess, dass alle mit einem positiven Gefühl rausgehen und das Projekt gut abschließen können – das ist für uns wichtig. Dabei muss aber niemand der Teilnehmenden die gesamte Komplexität des Projektes verstehen – woher das Geld kommt, wie viel Arbeit dahintersteckt, wie sich der Raum oder die Gruppe ergeben. Das ist die Aufgabe von uns, als Organisations-Team. Außerdem: Neue Touchpoints zu schaffen, die nicht das Leporello oder die Hand von der Mama sind.
PhE: Es gilt, Arten des Erzählens zu finden, die sich an Menschen wenden, die normalerweise nicht ins Theater gehen. Es gilt herauszufinden, wie wir Geschichten mit Geflüchteten erzählen können und nicht nur über sie.

Wie ging es mit der Entwicklung von „Stahlstadt.online“ weiter?
PhE: Leider hingen wir, was die Förderung betraf, in monatelanger Unklarheit und mussten im Endeffekt das Projekt verschieben. Anstatt wie geplant bei der Ars 2018 herauszukommen, waren wir dort nur mit einem Info-Stand vertreten und konnten „Stahlstadt.online“ erst 2019 umsetzen.
CG: Vor Beginn des Projekts habe ich eine Community-Building-Strategie entwickelt, aber wegen der ungewissen Verzögerung konnte diese nie von A bis Z umgesetzt werden. Zum Beispiel war es nicht möglich, mit einem gemeinsamen Kick-Off-Event zu starten, bei dem sich eine teilnehmende Gruppe hätte konstituieren können. Teilweise waren die Teilnehmenden schon klar, aber uns war noch nicht klar, ob das Projekt überhaupt in dieser Größenordnung würde stattfinden können.

Wie sah diese Community-Building-Strategie aus?
CG: Es gab drei Ziele. Erstens: Eine Gemeinschaft aufbauen. Damit diese Jugendlichen nicht mehr vereinzelt in ihren Lebenssituationen abhängen, sondern auf eine Community zurückgreifen können. Allen Teilnehmenden wurde eine Dokumenten-Mappe zur Verfügung gestellt, mit Fotos und Protokollen, für Bewerbungsgespräche oder Termine bei Gericht bezüglich Asylverfahren. Zweitens: Aufbau einer medialen Plattform, wo die Jugendlichen Peer to Peer die für sie relevanten Inhalte vermitteln können. Die Seite von @linzliebe wird insofern weitergeführt. Drittens: Abbau der negativen Vorurteile gegenüber geflüchteten Jugendlichen in der oberösterreichischen Gesamtgesellschaft. Leider konnte unsere großangelegte Werbekampagne für @linzliebe mit ober­österreichischen Stars und VIPs aufgrund der unklaren Fördersituation nicht umgesetzt werden.
PhE: Es geht immer um Kommunikationsprozesse. Mit Jugendlichen, die oft von vielen Emotionen und Eingebungen bestimmt werden, so zu kommunizieren, dass Informationen auch wirklich ankommen – das ist ein Prozess.
CG: Ich nenne es: Pubertät plus. Weil die Jugendlichen teilweise traumatisierende Erfahrungen gemacht haben, teilweise in Asylverfahren sind und damit also nicht abschließen können. Die werden oft hin und her gerissen und verstehen es selber nicht genau. Es ist ein Privileg, dass wir hier sitzen und über das Projekt reden können, dass wir die emotionalen, zeitlichen, finanziellen Kompetenzen haben, dass wir hier entspannt sitzen können.
PhE: Bei „Stahlstadt.online“ konnten die Jugendlichen kommen und gehen – wir wollten ein Angebot sein, aber wir wollten auch darauf reagieren können, falls es jemandem nicht gut geht. Es braucht soziale und emotionale Intelligenz um abzuklären, wann es notwendig ist, streng zu sein und auf Abmachungen zu beharren, wann es aber wichtiger ist, Freiheiten zu geben und da zu sein, wenn jemand etwas braucht.

Ihr habt euch für ein Online-Theaterprojekts entschieden. Warum?
PhE: Es ist schon ein sehr komplexes Projekt. Wir haben uns gefragt: Wäre es sinnvoller gewesen, einfach einen Text zu inszenieren, also einfach ein Theaterstück auszuwählen und dieses dann gemeinsam zu erarbeiten? In den gemeinsamen Textwerkstätten ist zutage getreten, wie verschieden das Vorwissen über Theater, über kreatives Arbeiten ist. Oder: Deutsch­kenntnisse.
CG: Hätten wir an der Inszenierung eines vorgegebenen Textes gearbeitet, wäre Anwesenheit der Beteiligten notwendig gewesen. Wiederholbarkeit bedeutet Stress. Für die Einzelnen und für die Gruppe.
PhE: Bei uns wurde viel improvisiert. Wir haben einige Takes für die Instagram-Videos gemacht und uns dann für den Besten entschieden, das ist eine viel entspanntere Arbeitsweise.

Beim Verfolgen von „Stahlstadt.online“ habe ich mich so einsam gefühlt, wie es im Theater, wo ich mit anderen gemeinsam sitze, nie der Fall wäre. Theater und Social Media – wie denkt ihr über diese Verbindung?
PhE: Ältere Semester – da zähle ich auch uns dazu – fällt das Verfolgen einer Geschichte über Instagram schwer, es ist etwas Ungewohntes. Unter 20jährige sind aber eh alle zehn Minuten auf Insta und kriegen das eh mit.
CG: Eine Teilnehmerin hat es so formuliert: „Instagram hast du immer und überall, egal wo du
bist, bei Theater musst du hingehen, Entscheidungen treffen und dann kostet es noch Geld“. Ein anderer Teilnehmer hat mittlerweile eigenständig eine Geschichte verfasst. Für ihn ist es ganz klar, dass diese über Instagram erzählt werden soll. Dann können alle Freunde, egal wo auf der Welt die sind, diese Geschichte verfolgen. Instagram und Realität – das geht für die Jugendlichen seamless zusammen.
PhE: Was von einem theatralen Standpunkt her als dramaturgische Lücken, als das Fehlen von Informationen für den Fortgang der Geschichte gelten muss, das nehmen die Jugendlichen im Rahmen einer sprunghaften, schlaglichtartigen Instagram-Dramaturgie in Kauf.
CG: Wir hatten in den ersten drei Tagen 3000 Views pro Charakter, @linzliebe hat mittlerweile 510 Follower, da werden wir mittlerweile auch getaggt, das läuft, das verbreitet sich, ohne dass wir was machen.
PhE: Online kannst du wirklich auf deine Zielgruppe fokussieren. Mit einem entsprechenden Marketingbudget wäre fünfmal so viel möglich. Ein Wunsch, ein Ziel, ein Vorhaben für das nächste Mal! Theresa Luise Gindlstrasser, geboren 1989, lebt und arbeitet in Wien. Studiert dort Philosophie und bildende Kunst. Schreibt dort, und manchmal woanders, meistens über Theater.

 

www.stahlstadt.online
@stahlstadtkids
@linzliebe

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