The Act of Killing

Im November ist Österreich-Kinostart von Joshua Oppenheimers neuem Film „The Look of Silence“. Es ist das Nachfolgeprojekt der Dokumentation „The Act of Killing“, einer der bestürzendsten Filme der letzten Jahre: Indonesische Kriegsverbrecher „re-enacten“ als Schauspieler ihre Taten. Lisa Bolyos bespricht diesen Film als zeitlosen Beleg über die abgründigen Seiten der menschliche Verfasstheit und als Beleg für die Kraft der Kunst – nicht zuletzt als Einstieg in den im Herbst anlaufenden neuen Film.

„The Act“ bedeutet zweierlei: „etwas tun“ und „etwas auf die Bühne bringen“. In Joshua Oppenheimers „The Act of Killing“ bringen die Mörder der Indonesien-Massaker von 1965 ihr Morden auf die Bühne – nur, dass da keine Schauspieler sind, die für sie sprechen, und kein Drehbuch, das ihnen zum Auswendiglernen vorgelegt wurde. „Act“ bedeutet aber auch Akte, also Faktensammlung. Und der Film erweist sich dieser Bedeutung als würdig – er leistet einen maßgeblichen Beitrag dazu, dass über die Fakten von 1965 langsam gesprochen werden kann.

Anwar Congo wirkt im ersten Moment wie ein Gigolo, schlaksig, groß, fescher Anzug, er tänzelt ein bisschen vor der Kamera, geht mit seinem Freund Herman zum Bowling; früher haben sie in der cineastischen Schattenwirtschaft Medans Tickets für Hollywoodfilme verkauft; aber das wollten die Kommunist_innen verbieten, sagt Congo, und kurz darauf haben sie die Kommunist_innen umgebracht. Mit Draht erwürgen, das erzeugt keine Flecken auf der Kleidung, und es waren ja hunderte oder tausende, wie hätte man denn ausgesehen. Später, als er sich selbst auf Video bei dieser unglaublichen Variante eines Reenactments des Mordens sieht (die gedrehten Szenen werden gemeinsam angesehen und nachbesprochen), moniert er, dass er fälschlich weiße Hosen trägt. Wer würde denn beim Massenmorden weiße Hosen tragen! Unsinnig, nicht wahr.
Zuerst schluckt man und denkt, dass man sich vielleicht geirrt hat, dass das kein Dokumentarfilm ist, sondern irgendetwas in der Kategorie „creative non-fiction“. Man möchte nicht leugnen, dass alles hier Inszenierte genau so passiert ist, aber dass hier die echten Täter vor der Kamera stehen, und sie sind keine talking heads, sie sind Schauspieler ihres eigenen Täterseins – das ist so denkunmöglich, dass man nach Ausflüchten sucht. Im kontemporären Dokumentarfilm ist Reenactment ein vielerprobtes Mittel: weil etwas schwer erzählbar ist, weil es Distanz braucht, weil die „Echten“ nicht bereit sind zu sprechen. In Joshua Oppenheimers „The Act of Killing“ bestimmen die befragten Täter des Massakers von 1965, wie sie ihre Taten erinnern möchten. Und sie entscheiden sich dafür, sie nachzuspielen.

Diesen Sommer war das offizielle Indonesien damit beschäftigt, den siebzigsten Jahrestag seiner Unabhängigkeit von der niederländischen Kolonialherrschaft und der japanischen Besatzung zu feiern. Auf den runden Fünfziger, der sich auch anbieten würde, hat man „vergessen“: Fünfzig Jahre ist das Massaker von 1965 her, dem nach heutigen Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen eine Million Menschen oder vielleicht auch weit mehr zum Opfer fielen. Als geschichtlicher Abriss soll Folgendes genügen: Einem versuchten Militärputsch gegen die Diktatur unter Sukarno begegnete General Suharto mit einem Gegenputsch von Rechts, an dessen Ende die Entmachtung Sukarnos stand. Dieser Gegenputsch produzierte gleichsam den Gründungsmythos des Suharto-Regimes: dass kommunistische Kräfte, organisiert durch die PKI (die Kommunistischen Partei Indonesiens), sich der Regierung bemächtigen wollten, und dass die Niederschlagung dieser Kräfte die Freiheit Indonesiens bedeutete. Die Folterungen und massenhaften Ermordungen wurden von Armee und paramilitärischen Organisationen initiiert und dauerten zentral bis Anfang 1966, in Teilen des Landes aber bis 1968. Zielgruppe der Verfolgung waren jene Indonesier_innen, die als kommunistisch identifiziert wurden, und darüber hinaus die chinesische Minderheit Indonesiens. Suharto regierte das Land bis zu seinem Tod 1998, seither finden regelmäßig Wahlen statt. Eine Aufarbeitung der Massaker ist noch nicht in Sicht.

Joshua Oppenheimer hat mit „The Act of Killing“ einen Dokumentarfilm über indonesische Geschichtspolitik gedreht. Er wollte mit den Opfern sprechen, was ihm verboten wurde, und hat sich dann den Tätern zugewandt.
Die Einzigartigkeit seines Films besteht darin, dass es zwischen dem Morden und dem Sprechen über das Morden keinen Filter zu geben scheint. Kein Bedürfnis, zu verschleiern, die eigene Haut moralisch zu retten, keinen Wunsch, sich zu distanzieren. Es ist das die laborartige Situation einer Gesellschaft, in der auch fünfzig Jahre nach dem Massenmord nichts aufgearbeitet, keine Entschuldigung ausgesprochen, keine Einsicht gewonnen wurde. Gemeinhin ist Geschichtspolitik ein Konfliktfeld. Gesellschaften – man sehe sich nur die postnazistischen an – einigen sich nicht schnell mal auf ein gemeinsames Geschichtsbild, und erst recht nicht auf eines, das sich mit den Opfern solidarisiert. Diese Prozesse sind von Kämpfen getragen und sie sind zäh. Aber in der indonesischen Gesellschaft nach 1965 ist der Druck, die Schuld einzugestehen und die Opfer anzuerkennen, jung und gering und wird ständig wieder zurückgedrängt.
„The Act of Killing“ wirkt darum wie eine gelungene Dystopie: Man sieht den Mördern ein halbes Jahrhundert später dabei zu, wie sie ungerührt ihre Verbrechen nachspielen. Wie Kinder, die aus ihren Lieblingsfilmen ein Medley machen und sich selbst zu Superheld_innen, stellen die Protagonisten ihre Konfrontation der Opfer mit Folter und Tod nach. Sie inszenieren sich als Hollywood-Gangster in blau-verrauchten Kellern, in denen sie die Ermordung von Kindern und Erwachsenen spielen. Und ja, sagen sie, diese Gangsterfilme waren ihnen schon damals, beim wirklichen Morden, Vorbild. Sie stellen Brandanschläge und Überfälle auf ganze Siedlungen dar und zwingen die Bevölkerung vor Ort, mitzuspielen, sie erzählen sich lachend von Vergewaltigungen von Jugendlichen, und nur ganz, ganz selten gibt es kurze Momente der Unsicherheit, des Überspielens, „des Zweifelns“ wäre schon zu viel gesagt. Ob es Stolz ist, mit dem die Mörder sich an ihrem jahrzehntealten, staatlich legitimierten Narrativ festklammern, oder der letzte Ast, den sie noch ergreifen konnten, um nicht vor sich selbst zu kapitulieren? Das kann man beim Zusehen nicht durchschauen. Und es ist am Ende auch egal, denn hier geht es nicht um ein paar Einzeltäter, die noch aufzuspüren sind. Hier geht es um eine gemeinsame, große und zu weiten Teilen über jede Irritation erhabene Erzählung.

Das „Reenactment“ der Täter mag befremdlich wirken, aber das ist es letztlich nur wegen der Direktheit, mit der sie zum Erzählen bereit sind. Denn sieht man sich die Geschichte von vorne bis hinten an, so ist in ihr so viel Enactment enthalten, so viel strategisch konstruierte Unwahrheit zur Vorbereitung des Verbrechens, so viel Propaganda in den Involviertheiten der USA, Großbritanniens und Australiens, in der gleichgeschaltenen Medienberichterstattung in Indonesien wie im Westen, dass man sich zuletzt nicht mehr wundert, wenn die Grenzen von truth und fiction verschwimmen.
Die Kritik, die Oppenheimer sich durchaus gefallen lassen muss, ist, dass man vor lauter Acting und Reenacting zwischenzeitlich nicht mehr weiß, wie die Leute eigentlich dazu kamen, die Massaker der Armee so gründlich auszuführen. Denn letztlich ist es eben truth und nicht fiction, dass ein großer Teil der indonesischen Bevölkerung in diesen Monaten des Jahres 1965 ermordet wurde.
Zum Ende hin geht ein kleiner Knoten auf. Zwar sagt Oppenheimer später, dass es in „The Act of Killing“ keinen Moment der Erleichterung gäbe. Aber es liegt doch eine Nuance von Befriedigung darin, dass Anwar Congo einen Punkt erreicht, an dem er nicht mehr spielen kann – als er im blaurauchigen Gangsterfilm-Keller selbst das Opfer darstellen soll. Beim späteren Ansehen des Videos philosophiert er, dass er nun vielleicht wisse, wie sich ein Opfer gefühlt hat. Da widerspricht Oppenheimer ihm – nein, denn das damals war Mord und das jetzt ist ein Film. Der Unterschied scheint in Congos Bewusstsein kaum Bedeutung zu haben. Aber als er wieder antritt, einen Mord zu re-inszenieren, muss er sich erbrechen und verlässt die Szene.

Schlussendlich muss man das Reenactment bei Oppenheimer wieder auf seine Funktion als Forschungsmethode runtertunen. Mit dem Ziel vor Augen, Wahrheitsfindung zu betreiben, überlässt er den Protagonisten die Erzählweise, die ihnen am plausibelsten erscheint, und sie wählen etwas, was für die Zuschauerin als dem Wahnsinn nahe wirkt. Davon darf man sich nur so und so sehr beeindrucken lassen, sonst tappt man in die Falle, das ganze Massaker als Produkt von verrückten, irgendwie abgespaceten und dabei verstörend gut performenden Einzelpersonen zu verkennen, die entweder durch Verdrängung verrückt geworden sind oder das vorher schon waren. Geht die Methode über das Erzählen hinaus? Ist sie therapeutisch im Sinne eines Erkenntnisgewinns der Protagonisten? Sprich, speibt Anwar Congo sich vor sich selbst an? Beginnt hier ein Prozess der Anerkennung? Diese Fragen bleiben vorerst offen. Sie werden erst beantwortet werden, wenn es den Nachkommen der Opfer gelingt, ihre Stimmen kollektiv zu erheben.

Im November kommt Oppenheimers Nachfolgeprojekt „The Look of Silence“ ins Kino. Darin geht es um die Täterkonfrontation durch die Familie eines Ermordeten.

 

Der Regisseur Joshua Oppenheimer wendet sich im aktuellen Film „The Look of Silence“ noch einmal den indonesischen Massakern der 1960er Jahre zu.

Lukas Foerster schreibt auf perlentaucher.de über den aktuellen Film „The Look of Silence“

Interviews mit Joshua Oppenheimer anlässlich seines neuen Films in Negativ und der Berliner Zeitung.

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