The Sun. The Sun blinded me.

Das Tribute beim diesjährigen Filmfestival Crossing Europe ist Anka und Wilhelm Sasnal gewidmet. Pamela Neuwirth hat den diesjährigen Eröffnungsfilm The Sun bereits gesehen und einen Blick auf das Filmschaffen des Regie-Ehepaares geworfen. Politische Haltung, Polen, die Tristesse am Land und ein unverhohlenes Interesse an den menschlich dunklen Seiten: Wegen Vieldeutigkeit und existenzieller Offenheit der Filme garantiert kein Spoileralarm.

The Sun. The Sun blinded me – die letzte Filmarbeit der Sasnals von 2016. Bild The Sun. Filmstill.

The Sun. The Sun blinded me – die letzte Filmarbeit der Sasnals von 2016. Bild The Sun. Filmstill.

Wenn The Sun mit einer Sequenz zweier aufeinandertreffender, trauriger, sich nicht weiter bekannter Männer, deren Wege sich ebenso abrupt wieder trennen, beginnt, ist noch nicht offensichtlich, warum gerade diese Geschichte als Eröffnungsfilm des Crossing Europe Filmfestival ausgesucht ist. Das Vexierspiel aus Angst und Konvention und Verrat entspinnt sich erst langsam mit dem laufenden Protagonisten; nennen wir den Helden im Folgenden den Läufer. Er, der Läufer, der jeden Tag seine Runden dreht, gerät in einen Sog, in den er sich weitgehend unkommentiert und scheinbar unbeteiligt hineinziehen lässt. Später werden andere die tödliche Eskalation erklären und als Nichtbeteiligte die Tat und ihn richten. Dem KünstlerInnenpaar Anka und Wilhelm Sasnal, die neben der bildenden Kunst (Wilhelm Sasnal) Spielfilme wie auch Kurzfilme produzieren, haben mit dem heurigen Eröffnungsfilm von Crossing Europe einen Rückgriff auf das 1942 erschienene Buch Der Fremde von Albert Camus gemacht und eine filmische Neuadaption realisiert. Der Fremde ist die Geschichte eines Mordes. Camus’ Geschichte und deren Tatort haben die Filmemacher Sasnal für The Sun. The Sun blinded me an einen namenlosen Strand im heutigen Polen verlegt, das, wie jedes andere Land und jede andere Gesellschaft in Europa, mit den aktuellen Migrationsentwicklungen zurechtkommen muss. Das Polen der Sasnals ist ein enges Gehäuse aus Staatsreligion und ihrer orthodoxen Riten, aus xenophoben Gerede über Ebola und „den Ukrainern“, das während einer Feier beim polnischen Barbecue unverhohlen ausbricht. Das Heilige trifft auf das Profane, wobei die beiden naturgemäß gegensätzlichen Pole – an anderer Stelle auch in der Figur des Pfarrers vereint – ins Bodenlose zu stürzen scheinen. In der Stille seines kleinen Lebens wird der Geistliche ohne seine heiligen Insignien etwa zum gewöhnlichen Menschen, der in Unterhosen sein Käsebrot isst und zu viel Aftershave benutzt, bevor er später wortreich die Auferstehung verkündet. Erlösung, Mitgefühl und Gnade, Werte, denen der Geistliche und seine fromme Schar bei einem Begräbnis huldigen, werden letztlich niemandem zuteil und reduzieren sich auf Konventionen und Rituale. Nur der eingangs erwähnte Läufer schweigt und läuft emotionslos seinem Schicksal entgegen, das mit dem Fremden auf geheimnisvolle Weise verbunden scheint. Durch die Filmkunst des polnischen Regie-Paars ist die Erzählung nahe an die Untiefen der Gesellschaft herangeführt. Ein Kunstgriff ist es auch, dass jener, der vordergründig Schuld auf sich geladen hat, seltsamerweise – um in der religiösen Diktion zu bleiben – davon trotzdem unbefleckt scheint. Es gibt Dinge und Verhältnisse im Leben, die nicht begründet und auch durch Urteile nicht mit Sicherheit geklärt werden können. Die Dinge und Verhältnisse sind meistens größer, als es das Individuum ist und sie verweisen sehr oft auf gesellschaftliche Kräfte im Hintergrund. So bleibt das Motiv der Tat eines Vereinzelten vordergründig rätselhaft und kann auch vor der Gerichtsbarkeit nur mit unzureichenden Gründen erklärt werden: The Sun. The Sun blinded me. Es wird jemand anderer die Runden des Läufers im Weltgeschehen drehen müssen.

Von der Idylle des Landlebens freilich kann man sich beim Eintritt ins Kino auch bei Swineherd (2008) verabschieden. Swine­herd versteht sich als Referenz auf das gleichnamige Märchen von Hans Christian Andersen und ist im Film als absurd-perverser Kosmos auf einem fast normalen polnischen Bauernhof angesiedelt. Swineherd ist ein Paralleluniversum, indem die Währung der Menschen aus Brotkrumen und Habseligkeiten besteht, die man sich heimlich zusteckt oder stiehlt. Swineherd erzählt vom technologiefreien Leben, von Kitteln und Hosentaschen, die als Kommunikationskanäle für Zettelchen dienen – falls man kein Analphabet ist. Swineherd zeigt eine Welt, in der der Bauer längst selbst zum Knecht degradiert worden ist und trotzdem das Hegelsche Herr-Knecht-Verhältnis weiterspielt. Und so vom Gutsbesitzer-Knecht kontrolliert, entwickelt auch das rare soziale Leben seine täglichen Heimsuchungen und Sabotagen, wodurch auch das einzige moderne Kommunikationsgerät – ein Radio – bald ertränkt wird, somit niemand sich daran erfreuen kann. Wer hat etwas zu sagen und wer ist der Gute in der Geschichte vom Schweinehirten? Ist es der dem Gutsbesitzer-Knecht unterstellte junge Knecht-Knecht, der mit einem Stock im sprichwörtlichen Trüben fischt und doch nur Nazi-Devotionalien aus dem Schlammloch angelt? Sind es die jungen Leute, die ein Dorffest veranstalten und von Hippie- bis neuerer Musik beschallt, etwas zu sagen haben? Die Jugend, das Fest, ein Musikant in Lumpen, der des Weges kommt und später in einer eigentümlichen Bondage-Variante im Schweinestall zurückgelassen wird – Szenen in Schwarz/Weiß zwischen unverputzten Häusern, Stacheldraht, Nutztieren, seltsamen Stillleben aus Wurst auf Brot auf Hut, und ein noch merkwürdigeres Ende als Ausstieg: Nur ein bisschen Swing aus dem ertränkten Radio und vielleicht könnte die Flucht aus der Trostlosigkeit letztlich doch noch gelingen?

In Polen bleibt es auch in drei weiteren Filmen rätselhaft: It Looks Pretty Nice From A Distance, ein Film von 2011, stellt keine eindeutige Aussage in den Vordergrund. Verfremdete Geräusche und zumeist Stille halten eine sich grausam am ländlichen und menschlichen Minimum dahinentwickelnde Geschichte in der Schwebe. Eine Stringenz der Erzählung wird auch durch eine fast aufgehoben wirkende Zeit verunmöglicht. Dass auch so das klassische Anfang-Mitte-Schluss-Paradigma des Films aufgehoben wird, kann jedoch das Filmpublikum näher an ihre eigene Lebensrealität heranführen, wo diese Scheinordnungen ja trotzdem auch nur schwerlich existieren. Alexander (2013) zeigt ebenso, jedoch etwas freundlicher, die ländliche Lebenswelt als Niemandsland in der polnischen Weite, Menschen organisieren im Familienbund ihren Alltag. Die heute wieder vielfach verklärte Natürlichkeit des Landlebens wird uns nüchtern vor Augen geführt. Beispielsweise wird die Schlachtung eines Hasen minutiös dokumentiert: als Anatomie des Lebens und des Sterbens. Und last, but not least: Parasite, der 2014 übrigens seine Österreich-Premiere bei Crossing Europe hatte, ist wiederum ein Film, in dem die menschliche Existenz in ihrer Endlichkeit reflektiert wird. Das Leben eines Säuglings wird gegengeschnitten mit dem Leben eines alten Mannes, der mal in der schmutzigen Fabrik, dann im sterilen Krankenhaus zu sehen ist. Der Gegensatz fällt dort zusammen, wo das Künstlerpaar betont, mit wie wenig die Menschen von Beginn bis zum Ende zurechtkommen müssen. Er wird für einen kurzen surrealen Moment, der fast wie auf ein Gemälde gebannt wirkt, zärtlich, wo der alte Mensch mit dem Baby auf der Brust zu sehen ist. Der Trost auf einen Kreislauf des Lebens wird jedoch gleich wieder auf Reverse gesetzt: als künstlerisches Stilmittel kehrt etwa der aufsteigende Fabriksrauch aus dem Schornstein wieder in diesen zurück.

Neben den fünf Spielfilmen präsentiert Crossing Europe auch Kurzfilme aus dem Sasnal-Kosmos. Allen Filmen des Regieduos liegt zwar ein gemeinsamer existentieller Ton zugrunde, oftmals spielen diese Kurzfilme aber nicht im ländlichen Polen und an seinem existenziellen Minimum. Sondern es spielt sich neben der Tristesse etwas Kreatives in den Vordergrund, immer taucht da auch etwas klar Lebensbejahendes auf, mit der eine Schwierigkeit überwunden wird: Mit dem Skateboard über ein zuvor abgesägtes Autodach fahren, mit Protest der Unterdrückung begegnen – popkulturelle Bezüge und Freiheitsgefühl helfen aus der Enge eines regulierten Lebens. Ein Werk, das insgesamt am feinen Grat zwischen Pessimismus, Dystopie und existenzieller Offenheit angesiedelt ist.

 

Crossing Europe findet 25.–30. April in Linz statt.

Das umfangreiche Programm findet sich auf crossingeurope.at

0 Kommentare

Hinterlasse einen Kommentar

An der Diskussion beteiligen?
Hinterlasse uns deinen Kommentar!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert