Urteil mit Signalwirkung

Zwei Farbbeutel, unbekannte Täter und ein Urteil, das aufhorchen lässt: Nach der Demonstration gegen den rechtsextremen Kongress zur Verteidigung Europas 2016 – bei zwei Gebäuden entstand Sachschaden – klagten die Geschädigten die Demonstrationsveranstalter. Die sollen nun rund 23.000 Euro bezahlen. Ein Urteil, das die Versammlungsfreiheit in eine völlig neue Perspektive rückt. Eine Betrachtung von Silvana Steinbacher.

Rebellion und Pflicht. Foto Otto Saxinger

 

Dieses Urteil hat meine Phantasie beflügelt. Dies­­mal gefielen mir meine gedanklichen Aus­­flüge allerdings ganz und gar nicht. Erste Vision: Ich schmuggle mich in eine Pegida-Demonstration, klopfe ein paar markige Sprüche, ziehe mir in einem unbeobachteten Moment ein Tuch übers Gesicht und knalle mit voller Wucht einen Farbbeutel gegen ein Gebäude und einen Ziegelstein gegen ein Autofenster. Anschließend schleiche ich in eine Seitengasse. Dass die Veranstalter der Demo durch meine mutwillig herbeigeführte Zerstörung wahrscheinlich ordentlich zur Kassa gebeten werden, erfüllt mich schon jetzt mit Hochgenuss!

Zweite Vision: Ich gehe an einem Platz vorüber, auf dem sich viele Menschen versammeln, um endlich ihren Unmut über einen politischen Missstand – und diese sterben bekanntlich nicht aus – zu äußern. Sie möchten von ihrem Demonstrationsrecht Gebrauch machen, haben lange im Vorhinein diesen Termin im Netz vereinbart! Immer mehr Menschen schließen sich der Gruppe an, doch die Atmosphäre droht bald chaotisch zu werden, denn die Polizei hindert die DemonstrantInnen zunächst, ihre Route einzuschlagen, und treibt sie schließlich sogar auseinander. Die Kundgebung, so die berechtigte Argumentation der Polizisten, sei nicht ordnungsgemäß angemeldet worden. Und tatsächlich hat es niemand gewagt, sie offiziell zu veranstalten, um bei etwaigen Schadensfällen nicht finanziell ruiniert zu werden.

Und jetzt zur Realität und zum aktuellen Fall:
Am 29. Oktober 2016 trafen sich die rechten Recken in den Linzer Redoutensälen, den Festsälen des Landes OÖ, und hielten ihren Kongress zur Verteidigung Europas ab. Diese Veranstaltung war eines der größten rechtsextremen Vernetzungstreffen im deutschsprachigen Raum. Das Bündnis Linz gegen Rechts rief zu einer Demonstration gegen diesen Kongress auf, und diesem Aufruf folgten rund 2000 Menschen. Im Zuge der Versammlung wurde je ein Farbbeutel gegen den Kaufmännischen Verein und ein Gasthaus geschleudert. Daraufhin klagten die Geschädigten die Sozialistische Jugend OÖ und die Kommunistische Jugend Ö. Sie hatten die Kundgebung angemeldet.
Keine Frage, natürlich ist es ärgerlich und mehr, wenn Gebäude, Autos oder was auch immer im Zuge einer Demonstration beschädigt werden. Laut Gesetz haben in diesem Fall die Verursachenden die finanziellen Folgen zu tragen, doch eben jene ausfindig zu machen, bleibt in der Praxis schwierig. So auch bei der Demonstration Ende Oktober 2016.
Im konkreten Fall fand voriges Jahr die Verhandlung an jeweils zwei nicht aufeinanderfolgenden Tagen statt. Nina Andree, Landesvorsitzende der Sozialistischen Jugend OÖ und mit der Kommunistischen Jugend Ö eine der Veranstalterinnen der Demo, berichtet mir von diesen Verhandlungstagen. Die Richterin, so sagt sie, erschien ihr in ihrem Verhalten neutral, Andree konnte keine Voreingenommenheit bei ihr erkennen. Ihre Fragestellungen waren detailliert und sachlich. Videos von der Kundgebung wurden gezeigt, ZeugInnen von beiden Seiten befragt, der Hergang der Demonstration so gut wie möglich rekonstruiert.
Im Juni dieses Jahres sprach nun das Bezirksgericht Linz den Klägern in erster Instanz einen Schadensersatz inklusive der Prozesskosten zu. Die beiden Jugendorganisationen müssen demnach laut Urteil 23.263,45 Euro bezahlen. Sie haben gegen das Urteil berufen. „Sollte es in der zweiten Instanz erneut zu einem Schuldspruch kommen, würden wir Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einreichen“, stellt Nina Andree fest.
Begründet wird das Urteil unter anderem damit, dass die Veranstalter verpflichtet gewesen wären, verdächtige Personen – wie viele von 2000? – auf gefährliche Gegenstände zu durchsuchen. Doch zu diesem Vorgehen sind Zivilpersonen, wie es die Veranstalter sind, gar nicht berechtigt.
Die Juristin und Kriminologin Angelika Adensamer arbeitet für den Arbeitskreis epicenter works, der sich auch für die Wahrung von Grundrechten engagiert. Sie kann sich nicht vorstellen, dass das jetzige Urteil hält. Juristisch gesehen ist es verfassungswidrig, fügt sie hinzu. Sie würde es als Markstein der Justizgeschichte betrachten, falls das Urteil nach der Berufung nicht aufgehoben würde, stellt die Juristin fest, außerdem könnte das Urteil Tür und Tor öffnen, sich unter falscher Flagge in eine Demonstration zu schmuggeln, um dort etwas zu beschädigen und so dem politischen Gegner zu schaden (siehe die erste Imagination zu Beginn des Textes).
Nun hat das Bündnis Linz gegen Rechts, dem viele Organisationen und eben auch die Sozialistische Jugend OÖ und die Kommunistische Jugend Ö angehören, eine Kampagne eingerichtet, um eventuelle, auf sie zukommende Kosten bewältigen zu können:
linz-gegen-rechts.at/versammlungsfreiheit-verteidigen

So weit so gar nicht gut.
Versuchen wir ausgehend von diesem Linzer Fall die Konsequenzen und Perspektiven zu überdenken. Bei den aktuellen medialen Berichten zu diesem Urteil sind in den Postings, die ich immer als Stimmungsbarometer werte, durchaus auch Zustimmungen zu der vorläufigen richterlichen Entscheidung zu finden. Was würde es, sollte das Urteil Schule machen, beispielsweise für die Friday-for-Future-Demonstrationen bedeuten, die hauptsächlich von Jugendlichen veranstaltet werden? Wären deren Eltern nach wie vor mit diesem Urteil einverstanden, sollte eine der Kundgebungen einmal ausarten?
Ich stelle mir auch die Frage, was denn dieses Urteil für das Versammlungsrecht, aber auch was es grundlegend für unser demokratisches Verständnis bedeuten würde. Soll ein hart errungenes Recht zwar auf dem Papier unangetastet bleiben, in der Praxis aber ausgehöhlt und hintertrieben werden, nur damit die Fassade stimmt? Wie nach dem Motto: Wir laden zum Schwimmen ein, aber leider wurde der Pool nicht eingelassen.
Ich kann mir unter diesen Voraussetzungen – ich erinnere: der oder die Veranstalter hätten jeden etwaigen Schaden zu übernehmen – nicht vorstellen, dass jemand jemals wieder die Courage aufbrächte, eine Demonstration anzumelden, es sei denn er oder sie ist sehr reich, naiv oder über die Maßen mutig.
Die Versammlungsfreiheit zählt in jedem demokratischen Staat zu den Grundrechten. Bereits im Jahr 1867 wurde dieses Recht in Österreich im Staatsgrundgesetz verankert. Im Februar 2017, um in die jüngste Vergangenheit zu blicken, plante der damalige Innenminister Wolfgang Sobotka am Demonstrationsrecht zu rütteln und wollte eben genau dies: Sogenannte VersammlungsleiterInnen sollen für Sachbeschädigungen durch DemonstrantInnen haften. Dies rief in weiten Kreisen Empörung hervor.
Daraufhin relativierte Sobotka, sprach sich aber dafür aus, „Spaßdemos“ zu verbieten. Was bitte ist eine Spaßdemo? Mit der Kundgebung gegen die Abhaltung des Kongresses zur Verteidigung Europas wollten sich die VeranstalterInnen sicherlich keinen Jux machen. Sie arbeiten alle ehrenamtlich und hätten Besseres zu tun, als sich ausgerechnet auf diese Art und Weise zu amüsieren. Einige meiner Bekannten und Freunde nahmen den Anlass ebenfalls sehr ernst. Sie reisten aus Salzburg und Wien an, um gegen die Abhaltung dieses Kongresses zu demonstrieren, der dann ja auch zum letzten Mal in den Linzer Redoutensälen über die Bühne ging. Und schließlich erinnere ich mich noch an zwei wesentliche Demonstrationen in Österreich, die im Sinne der AktivistInnen erfolgreich waren: Die Demonstrationen gegen Zwentendorf und die Volksabstimmung über die Inbetriebnahme des bereits fertiggestellten Atomkraftwerks 1978, und die Besetzung der Hainbuger Au 1984.
„Unser Leben beginnt aufzuhören an dem Tag, an dem wir über wichtige Dinge Stillschweigen bewahren“, sagte der legendäre Bürgerrechtler Martin Luther King. Oder auf Grund mangelnder Alternativen Stillschweigen bewahren müssen.

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