Welt künstlerisch entwerfen
„Es wird keine Bilder mehr geben“ hieß es 1965 wörtlich im „Antiobjekt-Manifest“. Es wird keine Bilder mehr geben! war auch der Titel einer Ausstellung im Atelierhaus Salzamt zu künstlerischen Manifesten. Studierende und Lehrende der Kunstuniversität Linz stellten im April und Mai dort aus. Anna Maria Loffredo und Andreas Zeising berichten als Lehrende.
Eine beeindruckende Fülle an Manifesten begleitet im 20. Jahrhundert den Auftritt der bildenden Kunst. Von Dada und Expressionismus über die politisierte Kunst der 1960er Jahre bis zur postmodernen Retro-Avantgarde nutzten und nutzen Künstler:innen das literarische Medium für ihre Weltentwürfe. „Mit dem Glauben an Entwicklung, an eine neue Generation der Schaffenden wie der Genießenden rufen wir alle Jugend zusammen, und als Jugend, die die Zukunft trägt, wollen wir uns Arm und Lebensfreiheit verschaffen gegenüber den wohlangesessenen älteren Kräften. Jeder gehört zu uns, der unmittelbar und unverfälscht das wiedergibt, was ihn zum Schaffen drängt,“ hieß es etwa 1906 in einem Manifest der Künstlergruppe Die Brücke, das die „Elbtaler Abendpost“ als Inserat druckte. In nur zwei Sätzen war hier das Credo eines jugendbewegten Aufbruchs umrissen, wie er das Anliegen der Avantgarde lange prägte. Im Namen eines imaginären „Wir“ ging es darum, die bestehende Verhältnisse in Frage zu stellen, eine Umwertung aller Werte einzuleiten und die baldige Wiedergewinnung der Einheit von Kunst und Leben zu proklamieren.
In der Neoavantgarde, die nach den Katastrophenerfahrungen des Zweiten Weltkriegs diesen Faden wiederaufnahm, fand die Tradition der Künstlermanifeste rege Fortführung. Häufig waren es nun sozialistische Gesellschaftsutopien, die im Lichtschein vitalistischer Ideen von künstlerischer Verjüngung interpretiert wurden und die evolutive Überwindung, Auflösung oder Zertrümmerung des bürgerlichen Kunstbetriebs in Aussicht stellten. Diesen betrachtete man sozusagen als Modellfall der allgemeinen zivilisatorischen Erschöpfung, welche nur im Rückgriff auf die vermeintlich ursprüngliche Kreativität von Kinderzeichnungen, der „Bildnerei von Geisteskranken“ oder der Kunst nicht-westlicher Ethnien zu überwinden war. „Unsere Kunst ist die Kunst einer Umbruchperiode, gleichzeitig die Reaktion auf eine untergehende Welt und die Ankündigung einer neuen“, hieß es entsprechend 1948 im Manifest der Gruppe COBRA. Im Umkreis der Protestbewegungen und politischen Revolten der 1960er Jahre, die im Zeichen linker Ideale gegen das bürgerliche Establishment Sturm liefen, fanden solche Gedanken weithin Resonanz. Mehr und mehr wurde das Manifest zu einer eigenständigen künstlerisch-literarischen Gattung, deren utopisches Potenzial mit den Mitteln der Kunst im Grunde kaum noch einzuholen war.
Auf der Basis eines Close Readings ausgewählter Künstlermanifeste haben sich Studierende der Kunstuniversität Linz im Rahmen eines Projektseminars im Rahmen des Programms Art Researcher in Residence mit der Geschichte, Argumentation und Ästhetik von Künstlermanifesten beschäftigt. Gemeinsam haben sie Form, Stilistik und Rhetorik dieser oft eigenwilligen Programme erörtert, über deren gesellschaftlichen und künstlerischen Anspruch reflektiert und über ihre Anschlussfähigkeit an unsere Gegenwart diskutiert: Was soll und was kann Kunst aus Künstlersicht leisten? Welche Ansprüche behauptet Kunst, wenn sie sich nicht auf den ästhetischen Standpunkt eines l’art pour l’art zurückzieht? Wie und auf welche Weise erfüllt sich der im Manifest formulierte Anspruch letztlich im Werk, und welche Relevanz kommt diesem faktisch zu in unserer kulturellen Gegenwart, in der womöglich völlig andere Dinge tonangebend sind?
Die Residency als Format der Lehre besteht seit 2018 als Kooperationsvereinbarung zwischen der Kunstuniversität Linz und dem Atelierhaus Salzamt Linz. Außeruniversitäre Impulse können so in das Curriculum episodisch eingebunden werden, und die künstlerisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse werden in eine Ausstellung überführt, um öffentlichkeitsbildenden Austausch in der Stadt zu schaffen. Studierende aller Studienrichtungen finden sich interdisziplinär mit dem Residence-Gast, in diesem Jahr Andreas Zeising der Technischen Universität Dortmund, zusammen, lernen multiperspektivisch zu denken und miteinander Sachverhalte diskursiv auszuhandeln. Dabei ging die Initiative für diese Residency von der Abteilung Fachdidaktik in der künstlerischen Lehrerbildung aus, die seit 2015 von Anna Maria Loffredo an der Kunstuniversität Linz geleitet wird, um eine Klammer zwischen Leben und Kunst im Bildungsverständnis zu eröffnen.
In der Auseinandersetzung ging es heuer nicht darum, die Texte kunsthistorisch zu erläutern und noch weniger darum, eigene Künstlermanifeste zu verfassen, sondern diese als Impuls zum Weiterdenken zu begreifen und sie aus künstlerischer Sicht zu befragen – gleich ob nun in kommentierender, kritischer oder ironischer Absicht, um sie als historische Artefakte in den Blick zu fassen, oder aber in Form eigenständiger künstlerischer Versuche oder Experimente, die sich auf unsere gegenwärtige Lebenswelt beziehen. „Die Auseinandersetzung mit den künstlerischen Manifesten ist eine Bereicherung für meinen eigenen künstlerischen Prozess“, beschreibt der Student der Bildnerischen Erziehung und Inklusionspädagogik Rafael Kampl seine Antwort auf die gelesenen Künstlermanifeste, bei der er multisensuell ein eigenes Manifest geschrieben, vertont und dann in eine spiegelnde Setzung zu seiner großformatigen Malerei in der Ausstellung gebracht hat. Die Ausstellung macht bewusst nicht die historischen Texte zum zentralen Gegenstand. Sie gewährt vielmehr den Arbeiten der Studierenden Raum, die in einer offenen Versuchsanordnung in einen Dialog mit historischen Textzitaten treten. Zusammenhänge sind wie Spuren ausgelegt, die sich indes verlieren und überkreuzen.
Yara Bartel, Studierende der drei Studienrichtungen in der Lehrerbildung der Kunstuniversität Linz (nämlich Bildnerische Erziehung, Gestaltung: Technik. Textil sowie Mediengestaltung) stellt nach acht intensiven Arbeitswochen fest: „Das Untersuchen von Manifesten zeigte uns, und besonders mir, einen anderen Blickwinkel auf die Kunst der Avantgarde. Die Sprache als komplexes Konstrukt erzeugt neue Bilder und ist gerade in unserer bildhaften medialen Welt ein Kontrast.“ Dabei hat Bartel das „Manifest für die Mutter aller Schmerzen“ multilingual entworfen, lehnt den Weltschmerz der historischen Manifeste an die gegenwärtige Fatiguegesellschaft an und lässt regionale Bezüge zu den Sieben Schmerzen der Madonna auf dem Pöstlingberg anklingen. Steigende Leistungsanforderungen im Alltag bringen in uns neue Glaubensgrundsätze hervor. Der Glaube an den Wirkstoff gegen das Unheil, das Böse oder den Schmerz hilft uns, unseren Alltag zu ertragen und gesellschaftliche Normen zu erfüllen. Raphael Bella, Student der Fotografie & Visuellen Kommunikation nutzt den symbolischen Gehalt von Manifest-Positionen, indem er handelsübliche Stühle einer Gemeinde skulptural ineinander verkeilt und eine eigene Un-Ordnung erzeugt. Sie zu verfolgen und zu deuten, ist eine Aufgabe, die den Besucher:innen überlassen ist.
Der Titel unserer Ausstellung, „Es wird keine Bilder mehr geben!“, spielt dabei mit Bedeutungsebenen und pendelt bewusst zwischen den Polen der gewaltsamen Beseitigung, der dissidenten Verweigerung und der evolutionären Überwindung. Vor allem die Neoavantgarde der 1950er und 1960er Jahre lebte in der Überzeugung, dass in einer Zeit technischen Fortschritts, wie er damals durch die Kernphysik, die Raumfahrt und die Informationstechnologie verkörpert war, das klassische Tafelbild ausgedient habe. „Wir leben im Zeitalter der Physik und der Technik. Bemalte Pappe und aufgestellter Gips haben keine Daseinsberechtigung mehr“, verkündete Lucio Fontana 1948 mit dem Brustton der Überzeugung in seinem „Weißen Manifest“: „Durch Funk und Fernsehen werden wir künstlerische Ausdrucksformen von ganz neuer Art ausstrahlen.“ Heute, da sich die Kommunikation fast vollends in die Welt der Netze verlagert hat und die Wirklichkeit hinter digitalen Displays mehr und mehr verschwindet, mag man sich fragen, welche Rolle und Bedeutung der Kunst als materiellem handwerklichen Artefakt eigentlich noch (oder erneut) zukommt.
„Es wird keine Bilder mehr geben“ hieß es 1965 wörtlich im „Antiobjekt-Manifest“ der beiden Künstlergruppen SPUR und WIR. Ihnen ging es nicht allein um technische Innovationen, sondern auch um ein revolutionäres Denken – die Überzeugung, dass Malerei und Plastik mit der Überwindung der Beschränkungen, die der bürgerliche Kunstbegriff ihnen auferlegte, Potenziale gesellschaftlicher Veränderung entfalten würden: „Sie sind kein dekorativer Fleck an der Wand, sondern vielmehr Ausdruck einer Vitalität, die den Rahmen jeder isolierten Kunstform sprengt, um neue Kulturformen vorzubereiten.“ Dieses Spannungsverhältnis von Ich und Wir, Ego vs. Nos greift beispielsweise Lehramtsstudent Michael Kramer auf, der auch die 3D-Ausstellungstour zur Ausstellung im Salzamt erstellt hat, indem er einen Soundzirkel mit dem Ausruf „WIR“ für die Besucher:innen farbgesättigt inszeniert.
In den 1960er Jahren, einer Zeit politischen Aufruhrs, war das nicht nur eine unverbindliche Phrase. Die Situationistische Internationale um Guy Debord hat damals die widerständige Kraft des ästhetischen Spiels unterstrichen. Heute leben diese Ideen fort in subversiven Strategien wie Urban Intervention und Cultural Hacking, um im Zustand postdemokratischen Stillstands Veränderung von unten anzustoßen. Andere Künstler:innen der 1960er Jahre artikulierten ihren Protest gegen die Konsumgesellschaft in Form rigider Verweigerungsmanifeste. Der Erwartungshaltung eines Publikums, das seine bürgerlichen Normvorstellungen verabsolutierte, setzten sie eine minimalistische Reduktion von Zeichen, Gesten oder Formen entgegen, die den Betrachtenden radikal auf sich selbst verwies. Yvonne Rainers „No Manifesto“ kündet davon ebenso wie das Credo „Wir sind keine Maler“ der Gruppe B.M.P.T. um Daniel Buren, die 1967 eine Vernissage veranstaltete, bei der sie eben nicht ausstellte. Das mutet heute eher rührend an, verstand sich aber im damaligen Zeitkontext von Konsum-, Medien- und Systemkritik als eine eminent politische und provokante Haltung.
Bei alledem ist der Anspruch nach politischer Einmischung und Veränderung des gesellschaftlichen Status Quo nicht obsolet. Vielmehr spielt er im zeitgenössischen Kunstbetrieb, der sich an Globalisierung, Neoliberalismus, Postkolonialismus und anderen Problemen unserer unübersichtlich gewordenen Gegenwart abarbeitet, eine so bedeutsame Rolle, wie kaum jemals zuvor. Selten, soviel ist sicher, gab es mehr Anlass für Manifeste. Womöglich also eine gute Zeit, das literarische Format neu zu entdecken: www.keinebilder.at.
Es wird keine Bilder mehr geben! Eine Ausstellung von Studierenden und Lehrenden
Im vergangenen April und Mai 2021, Atelierhaus Salzamt, www.keinebilder.at
Ausstellung per 360°-Rundgang noch online: www.keinebilder.at/tour
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