Zu Weihnachten.
Gestern Abend in einer Bar merkt meine Freundin an, dass es nicht die großen Sätze des Orakels von Delphi – worüber sie gerade lese –, seien, die sie interessieren, etwa das Erkenne dich selbst. Sondern vielmehr fasziniere sie der kleine, unscheinbare, quasi ganz unten in den Stein gerotzte letzte Spruch des Orakels, der da angeblich hieß: Die meisten sind schlecht. Ich denke: Wie schön ist das denn, so einfach, so klar. Die meisten sind schlecht. Ich setze das Zitat ein paar Mal an diesem Abend als Kommentar ans Ende einer Erzählung, was erstaunlicherweise jedesmal wieder amüsant ist. Währenddessen weht es immer wieder Leute ins Lokal, und sie rennen danach wieder raus aufs nasse, schwarze Kopfsteinpflaster. Hier in der Stadt ist gerade so genannter Altstadtbrennpunkt. So wird das zurzeit zumindest kolportiert. Nicht nur wegen der Gepflogenheiten auf dem Pflaster draußen – das auch. Gentrifizierungsprozess in vollem Gange. Aber besonders wegen des Lokals, in dem wir sitzen, ein von interessierten Kreisen so bezeichnetes Krisenlokal, Schandfleck und Sicherheitslücke in einem, in der die Stimmung aber gerade richtig gut ist. Wir reden ein wenig über die Veranstaltung, die wir zuvor besucht haben, in der es um die Abschaffung des Todes ging: Wir machen uns darüber lustig. Wie die meisten machen wir uns gerne lustig über etwas, auch wenn dieses Lustigmachen selbst offensichtlich lächerlich ist.
Dann kommt W von draußen rein. Er ist so ein Nachtlebenmensch, den ich vom Sehen kenne. Beziehungsweise haben wir, über die Jahre, auch schon einige Male miteinander geredet. Er steuert auf mich zu, reicht mir freundlich die Hand zum Gruß und fragt mich freudestrahlend mitten in der Nacht, in der Bar: ob ich einen Apfel möchte? Er hat ihn schon ausgepackt und überreicht ihn mir. Ein paar Leute im Lokal schauen schief. Aber meine Freundin will auch einen. Das gefällt ihm und er sagt: „Das ist ja schöner als ich mir das vorgestellt habe“. Er ist wieder draußen bei der Tür, und ich bin wirklich kurz erstaunt.
Unmittelbar danach wird quer durchs Lokal mit voller Wucht ein Glas in die Ecke gedroschen. Es zersplittert in alle Richtungen. Ein Typ in Military-Hosen rennt wütend hinaus. Es ist kurz ruhig an der Bar vor uns, erschrockenes Luftanhalten. Dann beginnen die Vögelchen an der Bar wieder zu zwitschern, als sie merken, dass der Mann nicht zurückkommt. Die Typen nehmen erleichtert einen Schluck. Es fällt der erste Schmäh auf den Lokalboden. Wieder den Mund zu einem Lächeln verziehen, denn, wenn’s dann schon mal passt, sind die meisten schon recht lässig. Auch wir machen weiter, nun eine jede mit einem Apfel vor sich auf dem Tisch. Ein liebestoller Mann fühlt sich magisch angezogen, vielleicht wegen der beiden Äpfel, und drängt sich an den Tisch, stülpt sich mit einem Blick über uns und erzählt vom armen Freund. Traumatisiert, denken meine Freundin und ich, aber er selbst wolle „nur Liebe, nur Liebe, Liebe, Liebe“. Das geht aber trotzdem nicht und meine Freundin bellt ihn weg.
Viel später verabschieden wir uns – nächtlicher Hauptplatz, aufziehender Sturm. Ich gehe heim und berühre den Apfel in der Manteltasche. Ich denke an W. W ist so ein Typ, bei dem Leute schon mal den Kopf abwenden, wenn er kommt. Was ihm aber nicht groß was auszumachen scheint. Als ich über den stürmischen Platz gehe, fällt mir die Geschichte mit seiner Exfreundin ein, die er mir einmal erzählt hat: Vor vielen Jahren hatte ihn diese Frau nach Strich und Faden betrogen. Nicht nur in allen Facetten betrogen und belogen, sondern auch komplett ausgenommen, verarscht und so weiter. Sie war dann plötzlich auf Jahre verschwunden, er beim Erzählen noch immer fassungslos. Er hat sie dann plötzlich und zufällig am Hauptplatz an einem strahlend schönen Tag wiedergesehen, sozusagen erwischt und sofort zur Rede gestellt wegen des Betrugs, der Verarsche, des Geldes. Sie hat ihn ausgelacht. Am Ende hat er ihr mitten am Platz eine runtergehaut. Und wurde dabei beobachtet. Seitdem, wie er mir erzählt hat, bekommt er jedes Mal von einem, ihm bis zu diesem Ereignis völlig unbekannt gewesenen, aber ihm mittlerweile schmerzhaft vertrauten Typen jedesmal eine runtergehaut, wenn dieser ihn sieht – als unverzeihliche Erinnerung daran, dass er eine Frau geschlagen hat. Soviel zu den meisten guten und schlechten Taten. Aber das ist gar nicht der Punkt der Sache. Denn erzählt hat mir W diese Geschichte einmal kurz nach Weihnachten, vor vielen Jahren, auch in der Altstadt. Ich habe ihn gefragt, warum er so mitgenommen aussieht, verletzt und mit einem Verband am Kopf. Ich erfahre in diesem Zusammenhang von der Watschengeschichte – und dass der Racheengel ihn am Weihnachtstag wieder einmal erwischt hat. Darüber hat er sich aber gar nicht beklagt. Sondern mit großem Staunen von der Taxifahrerin erzählt, die ihn anschließend ins Allgemeine Krankenhaus gebracht hat. Und die nach Stunden, an diesem Weihnachtstag, als er fertig war und wieder draußen aus dem Gebäude, immer noch auf ihn gewartet hat. Mehrmals hat er mich erstaunt aufgefordert mir vorzustellen: dass diese Taxifahrerin stundenlang auf ihn gewartet habe. Und ihn dann einfach so nach Hause gebracht hat.
Ich vermute, dass W auch irgendwie weiß, dass man nicht davon ausgehen kann, dass die meisten besonders gut sind.
Hinterlasse einen Kommentar
An der Diskussion beteiligen?Hinterlasse uns deinen Kommentar!