Zukunft denken

Der Audiowalk „über.morgen“ führt im April durch eine Stadt der Zukunft. theaternyx* arbeitet an Wirklichkeit, die das Morgen im Heute überschreibt. Theresa Luise Gindlstrasser hat Regisseurin Claudia Seigmann zum Gespräch getroffen.

Hier wurde Zukunft noch geprobt: 8 Minuten Audiowalk-Testlauf im Dezember vor dem Menschenrechtsbrunnen. Foto theaternyx

Hier wurde Zukunft noch geprobt: 8 Minuten Audiowalk-Testlauf im Dezember vor dem Menschenrechtsbrunnen. Foto theaternyx

„Schluss mit dem Patriarchat. Die gesamte Gesellschaft hat sich neu geordnet, musste sich neu ordnen, weil sich plötzlich niemand mehr in einem Abhängigkeitsverhältnis befunden hat. Damit musst du erstmal lernen umzugehen. Ein Wahnsinn! Zum Beispiel: Gender Pay Gap? Plötzlich null. Das war earthshaking“, zeigt sich eine Zeitwohlständerin zufrieden. Es ist das Jahr 2050. Mikro-Oasen und Indoor-Biotope laden während der heißen 37-Grad-Mittagsstunden zum Verschnaufen ein. Bedingungsloses Grundeinkommen für alle und technologische Entwicklungen gewährleisten die Voraussetzungen für das „Recht auf Nicht-Effizienz“. Willkommen in Linz! Willkommen bei „über.morgen“!

Ab 4. und bis zum 14. April bittet theaternyx* zum performativen Stadtspaziergang durch Linz. Der Audiowalk führt eine Reisegruppe von 25 Personen durch den öffentlichen Raum. Mit Kopfhörern ausgestattet, lauscht das Publikum der Erzählstimme, dem Sounddesign von Abby Lee Tee und Christian GC Ghahremanian, den Stimmen von Zeitzeug*innen, die aus dem Jahr 2050 zurückblicken, Entwicklungslinien aus unserer Gegenwart in die behauptete Zukunft zeichnen. Während die Reisegruppe von der Erzählstimme angeleitet durch Linz manövriert, wird die visuelle Gegenwart mit einer Audio-Zeitreise überschrieben. Startpunkt für die 80-minütigen „über.morgen“-Touren ist am OK-Platz.

Aus dem Anspruch heraus positive, ermächtigende Geschichten zu erzählen, arbeitet theaternyx* – seit Gründung im Jahr 2000 durch Claudia Seigmann und Markus Zett – vor allem an ortsspezifischen Stückentwicklungen. 2009 gab es für „siebenundzwanzig. eine geistergeschichte“ den Bühnenkunstpreis des Landes Oberösterreich. 2017 für „DREIHUNDERTFÜNFUNDSECHZIG+“ eine Nominierung für den Stella – Darstellender Kunst Preis für junges Publikum. Für die bei „über.morgen“ angestrebte Kombination aus Stadtspaziergang und Wirklichkeitsüberschreibung gibt es ein Vorgänger-Projekt: 2016 eröffnete Corinne Eckenstein ihre erste Spielzeit als künstlerische Leiterin am Dschungel Wien – Theaterhaus für junges Publikum mit der Produktion „Quartier 2030 – Die Stadt sind wir“. Seigmann konzipierte damals für das Areal des Museumsquartiers einen Performance-Parcours mit utopischem Ausblick. Die Welt im Jahre 2030 wurde als eine grünere vorgestellt. Als eine mit mehr Dachgärten, mehr Windmühlen und weniger Müll. Eigentlich gar keinem Müll. Denn, so erklärte es die Stadtführerin, jeder Abfalleimer sei an das zentrale Mikrotransportsystem angeschlossen, das die weggeworfenen Objekte an die Hersteller zurück und also zum Recyceln freigibt. Das Publikum wurde in Gruppen von Station zu Station geleitet, insgesamt sechzehn Performende sorgten für die Darstellung dieser Vision einer besseren Zukunft. Es gab eine Brücke der Wünsche, an der die Visionen geäußert werden konnten, eine Terrasse, von der herab auf sich fröhlich drehende Menschen geblickt werden konnte und einen Flur, an dem Gedanken über das bedingungslose Grundeinkommen gebracht wurden.

Für „Quartier 2030 – Die Stadt sind wir“ wurde eine fertige, funktionierende Gesellschaft der Zukunft gezeichnet ohne auf dystopische, totalitäre Implikationen zu verweisen. Fürs aktuelle Projekt, das den Schritt vom Morgen (2030) ins Übermorgen (2050) wagt, spielen mehr oder minder dystopische Assoziationen aber durchaus eine Rolle. Die Zeitzeug*innen verhandeln den Wandel, den Bruch, das Katastrophenmanagement, die Ideen, jedenfalls die Veränderungen, die von einer Gesellschaft 2019 zu einer Gesellschaft 2050 geführt haben. Die Verweise ins Heute sind mannigfaltig: Da geht es um Ressourcenknappheit, um Arbeitsplätze und darum, wie die Gesellschaft der Zukunft zu Entschleunigung und Nachhaltigkeit gefunden hat. „Technologie kann uns frei spielen für ein anderes Miteinander“, so Seigmann. Ob die Zeit langsamer laufen soll? „Unbedingt!“.

Die Anbindung der heutigen Erlebniswelt ans utopische 2050 – auch durch Herausarbeitung der Differenzen die zwischen der visuellen Gegenwart und der Audio-Zukunft bestehen – legt den Fokus auf den Weg dorthin, „es wird ihn brauchen, den Weg“, sagt Seigmann. Die Zukunft 2050 soll nicht als bloße Utopie gedacht (Utopie als altgriechisch für Nicht-Ort), sondern das Denken von Zukunft generell als prinzipiell möglich herausgestellt werden. Nicht Zauberei wird die Klimakatastrophe verhindern, nicht irgendein Nicht-Ort wird als fertiges Paradies bereit stehen, sondern Ideen und Handlungen sind nötig. „So wie es ist, so kann es nicht bleiben“. Damit zielt theaternyx* in Richtung individuelle und gesellschaftliche Selbstermächtigung und sieht „über.morgen“ als emanzipatorisches Unterfangen. Dass die Zukunft 2050 dabei nur über das Hören zugänglich ist, öffnet die Augen für die Differenzen, für die Handlungsmöglichkeiten heute. Das Aktivieren der Phantasie, der Vorstellungskraft ist für theaternyx* ein großes Anliegen. Das Gehen in der Gruppe, bei gleichzeitiger Vereinzelung bzw. Sensibilisierung für Körper im Raum durch das Tragen von Kopfhörern unterstreicht diesen Ansatz. Wenn „Quartier 2030 – Die Stadt sind wir“ eine Vision von Zukunft vor allem einmal vorgestellt hat, dann macht „über.morgen“ eine Zukunft erlebbar.

„Ich meine, alle wesentlichen Entwicklungen in Bezug auf Nachhaltigkeit sind ja ewig in die falsche Richtung gelaufen. Nicht nur bei uns. In den 2010er Jahren gab es dann endlich immer mehr Versuche über Gesellschaftssysteme nachzudenken, die sensibel mit den bestehenden Ressourcen umgehen. Obwohl ich auch sagen muss, dass sich der Glaube an das heilbringende Wirtschaftswachstum noch sehr lange gehalten hat. Es ist ja nicht so leicht eine Religionsgemeinschaft von ihrem kollektiven Irrglauben zu überzeugen.“

Das neue Leitungsteam am NTGent um den Theatermacher Milo Rau hat sich im Mai 2018 ein Manifest gegeben. Dessen erster Punkt lautet: „Es geht nicht mehr nur darum, die Welt darzustellen. Es geht darum, sie zu verändern. Nicht die Darstellung des Realen ist das Ziel, sondern dass die Darstellung selbst real wird“. Was es in diesem Kontext bedeutet, die Welt als eine schon veränderte darzustellen? „Wir stellen die Welt als eine veränderbare dar, wir sagen, dass sie sich verändert und sprechen eine Einladung zur positiven Veränderung aus“, erklärt Seigmann, „es ist komplex“. Für „über.morgen“ haben Claudia Seigmann und Markus Zett zum wiederholten Male mit der Autorin und Dramaturgin Claudia Tondl zusammengearbeitet. „Es gab viel zu tüfteln“, so zum Beispiel in Bezug auf den Straßenverkehr, „die Erzählstimme muss ja auch auf rote Ampeln reagieren können“. Und wie geht das? „Das verraten wir nicht“. Der Audiowalk wird auch Teil des internationalen Symposions „Superstadt!“ der Kunstuniversität Linz im Mai 2019 sein. Vielleicht lüftet sich ja dann das Geheimnis der roten Ampeln.

 

Premiere: 04. April, 17:00 Uhr
Weitere 10 Spieltermine: 05. – 14. April
Start- und Endpunkt: OK Offenes Kulturhaus, OK-Platz 1
Der Audiowalk führt zirka 80 Minuten zu Fuß durch die Stadt.
Kartenvorverkauf: Moviemento & OK Kassa. Infos: 0732/784090.
Mehr Infos: theaternyx.at

Mehr über den Audiowalk im Rahmen des Kunstuni-Symposions „Superstadt!“ im Mai: theaternyx.at

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